„Wir machen trotzdem das, was wir können.“
Was wir hierzulande tun, hat Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen auf anderen Erdteilen. Das ist der Grundgedanke des Konzepts der Global Citizenship. Hans Karl Peterlini hat seit 2020 den UNESCO Lehrstuhl für Global Citizenship Education inne und bemüht sich – im Kleinen und im Großen – um Veränderungen hin zu einem „guten Leben für alle“. Der Lehrstuhl wurde ihm und der Universität Klagenfurt nun für weitere vier Jahre zuerkannt. Im Interview spricht er vor dem öffentlichen UNESCO Chair Meeting, zu dem die Arbeitsgruppe am 10. Juni 2025 von 9:00 bis 12:00 Uhr in den Stiftungssaal lädt, über seine bisherigen Erfahrungen.
Sie haben den UNESCO Lehrstuhl für Global Citizenship Education seit 2020 inne. Was ist denn ein Global Citizen, also ein:e globale Bürger:in?
Dahinter steht die Idee von einem Menschen, unterschiedlichen Bildungsgrades, unterschiedlicher sozialer Herkunft, unterschiedlichen sozioökonomischen Status, die oder der sich bewusst ist, dass das Handeln in der eigenen Umgebung Auswirkungen anderswo hat. Das Konzept hat nichts mit universalistischem Globetrottertum zu tun, sondern macht bewusst, dass das eigene Kleine, das ich mögen und auch als Heimat empfinden kann, immer auch mit dem großen Ganzen – der ganzen Erde – vernetzt ist. Ein wichtiger Vordenker von Global Citizenship ist der französische Philosoph Edgar Morin, der vom Heimatland Erde, terre patrie, spricht.
Haben Sie Beispiele für diese globale Verbundenheit?
Wie ich hier lebe, hat eine Auswirkung auf andere Erdteile, die auch wieder auf mich zurückfallen können. Das betrifft viele Aspekte des Lebens: Was konsumiere ich? Wie wurde das produziert? Welche Arbeit wird in andere Erdteile ausgelagert? Welchen Müll erzeuge ich und wo wird er entsorgt?
Gibt es Ihrer Wahrnehmung nach Global Citizens?
Ja, es gibt Menschen, die dieses Bewusstsein haben, und es gibt sehr viele Bemühungen in diese Richtung. Derzeit wird aber viel von der Renationalisierung der Politik und der Wirtschaft überdeckt. Nationalstaaten grenzen sich wieder stärker voneinander ab, und es gibt wieder eine Zollpolitik, die sich vorwiegend gegeneinander richtet. Ein solidarisches Zusammenarbeiten der Weltgemeinschaft für die Lösung der schweren Krisen ist derzeit nicht in Sicht.
Gibt es dennoch Hoffnungsschimmer?
Eine Hoffnung ist, dass sich Menschen für die Idee der Global Citizenship interessieren und begeistern. Die andere Hoffnung bezieht sich darauf, dass es auf der theoretischen Ebene und auf der Ebene der policy papers sehr viel gibt. Unser UNESCO Chair gehört zur großen UNESCO-Familie mit rund 1.000 UNESCO-Lehrstühlen in mehr oder weniger allen Staaten. Es gibt also auch in autoritären Staaten solche Lehrstühle. Es gibt meterhohe policy papers, die verbindlich vorgeben, was für Menschenrechte, für Friedensbildung oder für das ökologische Wirtschaften gemacht werden müsste. Das Papier kann seine Wirkung aber gegenwärtig kaum entfalten.
Nehmen Sie wahr, dass das Konzept von Global Citizenship auch außerhalb des universitären Kosmos eine Rolle spielt?
Vieles wächst aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Es gibt zahlreiche Initiativen, durch die die Menschen tatsächlich das Bewusstsein für größere Zusammenhänge entwickeln, in kleinen Vereinen oder in Projekten, die auf ökologische Fragestellungen oder kulturelle Angebote ausgerichtet sind. Menschen, die auch darüber nicht zu erreichen sind, sind aber auch oft in Familienverbänden mit Kindern verankert. Und Kinder gehen zur Schule, wo sie gut erreichbar sind. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Global Citizenship nicht nur auf der politischen Ebene verhandelt wird, sondern auch auf der Ebene der Bildung. Bei uns geht es um Global Citizenship Education. Das heißt, wir wollen in den wichtigsten Bildungsinstitutionen, den Schulen, der Erwachsenenbildung und in allen anderen pädagogischen Feldern, die globale Dimension einbringen.
Also ein Schulfach Global Citizenship?
Nein, das wäre verworfene Zeit. Das Prinzip soll in allen Themen, die in den Bildungsinstitutionen behandelt werden, integriert sein. Global Citizenship Education bedeutet nicht, dass wir etwas über fremde Ländern lernen, sondern dass Kinder von klein auf erfahren, dass das, was sie hier machen, eine größere Dimension hat. Das Wissen, das mich betrifft, wird in Verbindung zu jenen Situationen gebracht, die andere betreffen. Die Lernerfahrung ist schließlich: Wir sitzen zwar nicht im gleichen Boot, wohl aber auf dem gleichen Planeten. Eine Schieflage anderswo kann auch uns ins Schwanken bringen.
Arbeitet Ihre Forschungsgruppe auch direkt mit Schüler:innen?
Ja, wir sind in mehrere kleinere und größere Projekte eingebunden. Gerade im Bereich Demokratieförderung gibt es die Projekte Transform4School und transform2gether, bei denen es um das Erproben von Demokratie an den Schulen geht. In Schüler:innenparlamenten und Klassenräten wird an den Schulen basisdemokratisch ausgelotet, wie die Schulen zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen beitragen können. Jugendliche haben so Erfahrungs-, Reflexions- und Diskussionsräume, in denen sie ungemein viel lernen. Wenn sie von diesen Erkenntnissen auch etwas mit nach Hause nehmen, haben wir ein hohes Potenzial, viele Familien zu erreichen. Ein ähnliches Projekt konnten wir auch mit dem Jugendrat der Stadt Klagenfurt umsetzen, bei dem es um das Erproben und Erfahren von Politik – in all ihren Facetten – ging.
Diese Projekte sind lokal wirksam, gibt es aber auch globale Initiativen?
Es gibt einen starken globalen Austausch und viel gemeinsames Lernen. Mit dem Global Campus Online ist es uns aus der Not der Pandemiegesetze heraus gelungen, einen Online-Begegnungsraum zu schaffen, in dem Dialoggruppen aus fast allen Erdteilen vertreten sind. So kommen Forschende und Praktiker:innen im globalen Süden und im globalen Norden miteinander ins Gespräch. Es gibt Projekte, die in Pretoria und in Kärnten durchgeführt wurden und zu denen man sich dann online über die Projekterfahrungen ausgetauscht hat. Wir wollen dabei immer eruieren: Was lernen wir, wenn wir im Norden und im Süden an ähnlichen Projekten arbeiten? Die Internetplattform ist ein wichtiger Begegnungsraum, den wir nun mit Studierenden des Masterstudiums Game Studies and Engineering zu einem leicht gamifizierten Virtual Space aufwerten konnten, wo sich Menschen synchron und asynchron treffen und Informationsmaterial austauschen können.
Wie können sie das Konzept von Global Citizenship Education in die Lehre integrieren?
Das können wir an vielen Stellen machen; am offensichtlichsten ist dieses Anliegen aber durch den Universitätslehrgang Global Citizenship Education, den wir nun bereits zum vierten Mal durchführen und für den wir 2021 mit dem GENE Award der Europäischen Union ausgezeichnet wurden. Den Lehrgang besuchen Lehrkräfte, aber auch Erwachsenenbildner:innen oder Mitarbeiter:innen von NGOs, die sich weiterqualifizieren möchten und so etwas Gutes im Sinne einer solidarischen Weltgemeinschaft erreichen wollen.
Wie ergeht es Ihnen in Ihrer Rolle in einer Welt, die sich gerade nicht zum Guten hin entwickelt?
Im Jahr 2023 war ich als Inhaber dieses UNESCO-Chairs dazu eingeladen, an einer aktualisierten Fassung der „UNESCO Recommendation on Education for Peace, Human Rights and Sustainable Development“ in Paris mitzuarbeiten. Dabei ging es um ein Aushandeln einer „Empfehlung für ein gutes Leben für alle“. Alle UNESCO-Staaten haben daran mitgewirkt. Während draußen schon ein Krieg in Europa ausgebrochen war und vielerorts klimagleichgültige Politik betrieben wurde, konnten sich drinnen Verteter:innen von hunderten Ländern auf 72 Absätze einigen, die zwar viel diskutiert, lange hin und her gewogen wurden, aber letztlich einen tragbaren Konsens darstellten. Das Papier wurde verabschiedet und gilt als verbindlich für alle Regierungen, die den Vereinten Nationen und der UNESCO angehören. Gleichzeitig geschieht draußen, außerhalb der Konferenzräume, so gut wie nichts. Das ist eine Schizophrenie, die schwer auszuhalten ist. Wir wissen so viel. Aber: Wir tun nicht, was wir wissen. Ich fühle mich hin und her gerissen zwischen Ohnmacht und Trotz. Der Trotz, also das Trotzdem, überwiegt häufig: Wir machen trotzdem das, was wir können.
Zur Person
Hans Karl Peterlini ist seit September 2014 Universitätsprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung. Er absolvierte 2006 das Studium der psychoanalytischen Erziehungswissenschaft sowie das psychotherapeutische Propädeutikum an der Universität Innsbruck. Zuvor war er Chefredakteur und Herausgeber gesellschaftspolitisch orientierter Medien in Südtirol sowie Autor zahlreicher Studien zu Mehrheits-Minderheiten-Fragen, Gewaltdynamiken und Prozessen des Zusammenlebens in historisch belasteten und ethnisierten Gesellschaften am Beispiel Südtirol. 2010 promovierte er an der Freien Universität Bozen. Vier Jahre später habilitierte Peterlini an der „School of Education“ der Universität Innsbruck. Von 2011 bis 2014 war Hans Karl Peterlini im Innsbrucker Forschungszentrum „Bildung-Generation-Lebenslauf“ und als Forschungsmitarbeiter der Freien Universität Bozen in Schul- und Migrationsprojekten tätig.
Seit Dezember 2020 hat er den UNESCO Chair für Global Citizenship Education inne. Der Lehrstuhl ist einer von 14 UNESCO Chairs in Österreich, die sich unterschiedlichen Zielen widmen. Mit einem UNESCO Chair geht kein Projektgeld, aber hohes „symbolisches Kapital“ einher, wie Hans Karl Peterlini ausführt: „Der Lehrstuhl ist ein Fenster zur Welt. Wenn man ihn nutzt, eröffnen sich viele Möglichkeiten mit dem Zugang zu einem breiten, weltweiten Netzwerk.“ So hat Hans Karl Peterlini seit 2020 an einer Vielzahl an internationalen Konferenzen teilgenommen. Er war unter anderem bei der Abschlusskonferenz der Revision der „UNESCO Recommendation on Education for Peace, Human Rights and Sustainable Development“ als Vertreter Österreichs in Paris geladen und wurde in den Fachbeirat für Transformative Bildung der UNESCO Österreich gebeten.
Ende 2024 wurde ihm und der Universität Klagenfurt der UNESCO-Chair erneut zuerkannt. Aus diesem Anlass findet am 10. Juni 2025 von 9:00 bis 12:00 Uhr im Stiftungssaal eine Präsentation bisheriger und geplanter Initiativen und Projekte mit Grußworten von Landeshauptmann Peter Kaiser und Rektorin Ada Pellert statt. Weitere Informationen zum Programm unter www.aau.at/ifeb. Um Anmeldung wird gebeten: heike [dot] petschnig [at] aau [dot] at