Schule in Zeiten von Corona: „Mehr Zeit zum Üben“

Aus Studien weiß man, dass im Regelunterricht im Schnitt nur sehr wenig Zeit für das strukturierte Üben aufgewandt wird. Im Gespräch mit dem Professor für Deutschdidaktik Markus Pissarek zeigt sich: Der digitale Unterricht in Zeiten von Corona könnte zum Vorteil für die Schülerinnen und Schüler mehr Gelegenheit zum systematischen Üben bieten. Gleichzeitig blickt der Deutschdidaktiker besorgt auf andere aktuelle Entwicklungen, wie jene Schüler*innen, zu denen derzeit kein Kontakt besteht und die zunehmend den Anschluss verlieren könnten.

Das Interview wurde am 6. April 2020 geführt und am 7. April 2020 veröffentlicht.

Was würden Sie einem Maturanten oder einer Maturantin raten, der oder die gerade Schwierigkeiten dabei hat, sich auf den Schulabschluss vorzubereiten?

Das kommt ganz stark darauf an, welcher Maturant oder welche Maturantin das ist. Wir kennen in der Schule große Unterschiede im Lernverhalten, im Wissensstand, in der Fähigkeit, sich selber zu organisieren, und man kann das nicht pauschal beantworten. Ich glaube, es gibt viele, die gut vorbereitet sind, die sich selber kontrollieren können, die sich auch fit halten können, sodass sie die Matura gut absolvieren können. Es gibt aber bestimmt auch einige, die mehr Stützstrategien bräuchten und denen es an persönlicher Begleitung fehlt. Das hängt auch ganz davon ab, in welchen Elternhäuser die Jugendlichen leben. Unabhängig davon würde ich allen empfehlen, einen festen Tagesrhythmus einzuhalten, Routinen weiter aufrecht zu erhalten und sich Lernzeiten – zumindest für die Kernfächer – einzuteilen.

Bildungsstudien zeigen immer schon, dass Kinder und Jugendliche aus formal gebildeten Elternhäusern einen Vorteil bei der eigenen Bildungslaufbahn haben. Droht diese Kluft zwischen diesen Kindern und jenen, die weit weniger gute Voraussetzungen haben, noch größer zu werden?

Man muss im gesamten Bildungssystem befürchten, dass sich dieser Effekt verstärken wird. Dafür gibt es verschiedene Indikatoren. Fangen wir mit der Ausstattung der Schulen und deren digitaler Kultur an! Es gibt etliche Schulen, die nicht einmal über flächendeckendes WLAN verfügen. Deren Unterrichtskultur kann nicht digital gewesen sein. Wir haben jetzt ein von außen induziertes Großereignis, das eine Umstellung in ein neues Lernmedium von heute auf morgen bedingt. Es gibt sehr, sehr viele Lehrer*innen, die hoch engagiert damit umgehen, mehr Zeit investieren und gute digitale Lösungen finden, um die Schüler*innen individuell zu begleiten. Es gibt aber auch Orte, wo die Lehrerkompetenzen nicht ausreichen, wo man beliebige Aufgabenvorschläge findet bis dahin, dass manche gar nicht mehr in Kontakt mit ihren Schüler*innen sind. An den Wiener Schulen gab es eine Umfrage von „Teach for Austria“ Ende März, da zeigte sich, dass zu etwa 20 Prozent der Schüler*innen an den NMS und den Polytechnischen Schulen kein Kontakt bestand.

Woran liegt das?

Das hat verschiedene Ursachen, zum einen fehlende Ausstattung im Haushalt, fehlende Kontaktangaben, fehlende Unterstützung in den Familien – und da ist die Situation wirklich prekär. Wenn der Kontakt komplett abbricht, kann man davon ausgehen, dass die Lernfortschritte unterbrochen sind. Die so genannten unterprivilegierten Lerner*innen drohen abgehängt zu werden, vor allem, wenn die Unterstützung in den Familien fehlt.

Man könnte sagen, was sind denn schon zwei bis drei Monate, gemessen an einem ganzen Menschenleben voller Lerngelegenheiten. Wie groß schätzen Sie dennoch den Schaden dieser Zeit ein?

Dazu fehlen Studien, aber man kann Vergleiche heranziehen. Nehmen wir die Basiskompetenz Lesen: Man weiß aus Lernverlaufsstudien und aus Längsschnittstudien, dass Lesen mit hohen Effektstärken in den ersten vier Lernjahren gelernt wird. Die Effektstärke ist ein statistisches Maß dafür, wie viel Fortschritte ein Kind macht. Zuerst gibt es sehr große Fortschritte, ab der fünften Schulstufe flacht das dann zunehmend ab. Man kann also sagen: In einem Schuljahr passiert nicht mehr so viel, je höher die Klasse ist, was diese Basiskompetenzen anbelangt. Diesen Effekt kann man auch als Mangel unserer Leseförderung verstehen, den es zu beheben gilt. Denn mit gezielten Interventionen (Lesetrainings) sind auch in der Sekundarstufe in wenigen Wochen die Verlaufswerte eines ganzen Schuljahres zu erreichen. Natürlich könnte man sagen, diese drei Monate werden jetzt auch das nicht so gravierend ändern, die Frage ist allerdings: Sind das drei Monate? Wie wird es weitergehen? Mit welcher Schulsituation werden wir es dann zu tun haben?

Abseits vom Lernen übernimmt die Schule auch andere soziale Funktionen. Wie nehmen Sie hier die aktuelle Situation wahr?

Ich habe mit Lehrer*innen gesprochen, die gerade in diesen Zeiten festgestellt haben, dass den Kindern der soziale Kontakt unglaublich wichtig ist. Manche der Webinar-Tools, insbesondere solche mit Videofunktion, können auch zumindest ansatzweise den Klassenverband darstellen. Das hilft allen Beteiligten sehr. Bei den Kindern, zu denen gar kein Kontakt möglich ist, die vielleicht in schwierigen Familiensituation stecken, frage ich mich: Was passiert mit denen, wenn der erzieherische Faktor der Schule wegfällt? Da gibt es auch viele Lehrer*innen, die sich Sorgen machen.

Wie dynamisch und flexibel haben die Schulen auf die abrupt eintretende Veränderung reagiert?

Wie immer haben wir hier alle Ausprägungen. Ich würde eine Glockenkurve vermuten: Wir haben gleichbleibende Aktivität in der Mitte, und ab- bzw. zunehmende Aktivität an den Rändern. Ich kenne Beispiele von Lehrkräften, die sich hoch engagiert dieser Zeit stellen, die sich überlegen, welche Infrastruktur sie nutzen wollen, die verschiedene Lernplattformen erproben und nutzen, die die Kinder begleiten, die viel mehr korrigieren, als das in den Präsenzphasen der Fall war. Ich erlebe aber auch, und das zum Teil bei den eigenen Kindern, dass manche Lehrer*innen in gar keinen Kontakt treten.

Noch eine Frage an Sie als Deutschdidaktiker: Momentan wird ja mehr als sonst schriftlich kommuniziert. Könnten Schüler*innen gar davon profitieren, indem neue Textsorten erprobt werden?

Es ist wohl zu beobachten, dass viele Schüler*innen davon überfordert sind, eine E-Mail angemessen zu verfassen. Die Textform Brief/E-Mail ist tatsächlich etwas, das jetzt an Bedeutung gewinnt. Da, wo sinnvolle Schreibaufträge gestellt werden, wird jetzt mehr Zeit ins Üben und ins eigene Schreiben investiert. Wir wissen ja aus Erhebungen vom klassischen Unterricht, dass das Unterrichtsgespräch dominiert, dass die Redeanteile der Kinder viel zu gering sind, und dass die echten effektiven Übungszeiten gering sind, z. B. beim Schreiben bei zwei Prozent liegen. Durch die Digitalisierung wird die Chance entstehen, mehr echte Übungszeit zu gewinnen. Dabei bleibt aber allerdings die große Herausforderung der Selbstorganisation.

Kann man diese üben?

Ja, natürlich, das kann man sehr gut lernen. Die Selbstorganisation ist nur nicht so präsent im bisherigen regulären Unterrichtsgeschehen. Es gibt schon einige Lehrer*innen und Schulen, die gut damit arbeiten. Vielerorts wurde bereits gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler sehr profitieren im Lernverhalten. Es gibt ja auch reformpädagogische Schulen wie Montessori-Schulen, die immer schon damit arbeiten, dass Kinder sich selbst Ziele setzen und deren Erreichung auch teilweise selbst überwachen. Es gibt eine große Pluralität an Ansätzen.

Lesen wir die aktuelle Situation möglichst positiv und betrachten wir die Innovationen, zu denen das Bildungssystem gezwungen ist. Denken Sie, dass sich Positives auch über Corona hinaus erhalten wird können?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt Studien, dass Lehrkräfte in der Regel so unterrichten, wie sie selber unterrichtet wurden. Aktuell haben wir die Situation, dass von außen eine Krise auf die Schulen einwirkt. Die, die ohnehin schon digital fit waren, profitieren davon in dieser Situation. Andere sind jetzt gezwungen, die digitale Kontaktschwelle zu überwinden und erkennen neben den Widrigkeiten dann auch Vorteile. Ich kann mir vorstellen, dass das positiv Erlebte künftig mehr Eingang in die Gestaltung von Unterricht finden kann.

Zur Person

Markus Pissarek ist Professor für Deutschdidaktik am Institut für Germanistik an der Universität Klagenfurt und Leiter der School of Education (SoE). Seine Forschungsschwerpunkte sind fachspezifische Lehrerprofessionalität, fachdidaktische Kompetenzmodellierung, literarisches Lernen, Sprachbewusstheit und Lesekompetenzforschung.

Pissarek Markus | Foto: aau/photo riccio