Social Media gefährdet unsere Demokratie

Die Geschäftsmodelle und Funktionslogiken der Social-Media-Plattformen bringen liberale Demokratien ins Wanken, so der Befund einer Stellungnahme, die der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Matthias Karmasin Ende Februar im Parlament vorgestellt hat. Doch wie kommen wir da wieder raus?

So mancher junge Mensch wird Sie, Herr Karmasin, fragen: Was ist denn das Problem daran, wenn ich mich nicht in der ZIB, sondern in kurzweiligen Videos auf TikTok oder Instagram über das Weltgeschehen informiere?

Das Problem ist das Geschäftsmodell der sogenannten Sozialen Medien. Sie sind „Intermediäre“, also Unternehmen, die eine Vermittlerfunktion zwischen Nutzer:innen und Inhalten einnehmen. Die digitalen Plattformen sind für die Nutzer:innen kostenlos. Die Unternehmen verdienen ihr Geld primär mit dem Verkauf von personalisierten Werbeeinschaltungen im Sinne von targeted advertising, und sekundär durch den Verkauf von Daten und Analysen des Verhaltens der User. In beiden Feldern wollen die Unternehmen möglichst rentable Geschäfte betreiben. Die Inhalte stehen daher in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit – und damit um die Einnahmen. Relevanz, Meinungsvielfalt, Faktentreue, professionelle Erstellung und Authentizität spielen wenig bis keine Rolle. Sehe ich mir eine Nachrichtensendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an, liegen diese Prinzipien zugrunde und werden auch immer wieder eingefordert. Posaunen Privatpersonen oder gar Bots Unwahrheiten auf TikTok, X oder Instagram in die Welt hinaus, gewinnen die Lautesten und Extremsten das Rennen um die Aufmerksamkeit.

Wie schneiden traditionelle Medien derzeit bei jungen Menschen ab?

Soziale Medien sind vor allem für sie zu einer wesentlichen Quelle von Nachrichten geworden; für das Alterssegment zwischen 18 und 24 Jahren sogar zur Hauptnachrichtenquelle. Die sogenannten alten Medien, wir nennen sie legacy media, sind bei ihnen weit abgeschlagen.

Aber auch die ZIB ist auf Instagram oder Tiktok vertreten.

Ja, aber die professionell erstellten Inhalte der traditionellen Medien stehen neben anderen, so als ob sie gleichwertig und gleich solide recherchiert wären.

Sie gehen bei Ihren Analysen davon aus, dass die legacy media immer hoch seriös arbeitet.

Da müssen wir einschränken: Auch diese Medien stehen unter Druck. Die Ansprüche an Verantwortung, Wahrhaftigkeit und Faktentreue kosten. Viele Erlöse von Medien durch Abonnements und Anzeigeneinnahmen fließen zu den großen Plattformen ab, zum Leidwesen der Redaktionen. Der Kurier gibt davon beredtes Zeugnis, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen.  Aber: Dort gibt es professionelle Standards, an denen man die Leistungen messen kann und messbare Qualitätskriterien.

In Summe haben wir zwar mehr Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, aber wir verlieren paradoxerweise Information im Sinne faktenbasierter Evidenz und Kommunikation im Sinne verständigungsorientierten kommunikativen Handelns.

Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt galten die Sozialen Medien als entscheidendes Kommunikationsmittel, um autoritäre Regime in Frage zu stellen. Ein Beispiel ist der Arabische Frühling. Wie schätzen Sie diese positiven Effekte ein?

Ja, in Autokratien und erst jungen, wachsenden Demokratien können die Plattformen dazu beitragen, Information und Partizipation abseits der Regime zu ermöglichen. Was in den Jahren nach revolutionären Ereignissen wie dem Arabischen Frühling passierte, steht auf einem anderen Blatt: Auch dort haben die neuen Machthaber die sozialen Medien danach gezielt zur Überwachung eingesetzt. In liberalen, repräsentativen Demokratien wie in Österreich sehen wir aber verstärkt negative Auswirkungen: Das Vertrauen in die Politik aber auch in die Demokratie und Wissenschaft nimmt ab. Populismus, Polarisierung und Emotionalisierung sind am aufsteigenden Ast. In Summe haben wir zwar mehr Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, aber wir verlieren paradoxerweise Information im Sinne faktenbasierter Evidenz und Kommunikation im Sinne verständigungsorientierten kommunikativen Handelns.

Sind bestimmte Diskurse besonders betroffen?

Ja, und auch das folgt dem Geschäftsmodell der Plattformen: Je radikaler und je negativer, desto mehr Aufmerksamkeit und damit mehr Interaktion und Verweildauer. Da Aufmerksamkeit und Verweildauer positiv mit der Profitabilität korrelieren, desto mehr Umsatz für die Plattform. Die Plattform muss also, um immer bessere Geschäfte zu machen, das Radikale mit ihren Algorithmen befördern. Das sehen wir auch bei den Triggerpunkten der Auseinandersetzung, beispielsweise Klimakrise, Impfen, Mobilität, Gentechnik und Energiewende. Sie sind die Hauptfelder der Empörungsbewirtschaftung, aber auch der Manipulation.

Die Diskurse sind oft so radikal, dass manche Menschen gar nicht mehr teilnehmen möchten.

Wenn auch durch Algorithmen in ihrer Aufmerksamkeit gesteuert, dennoch sitzen da ja Menschen vor den Smartphones und Laptops. Diese können frei entscheiden. Für welche Form der Nutzung entscheiden sich die meisten von ihnen?

Nur rund 22 Prozent der User:innen postet selbst zu aktuellen Nachrichten. Diese Gruppe ist verhältnismäßig klein, aber häufig sehr laut. Wir sehen unter ihnen oft Vertreter:innen der extremen Ränder. Ihr Verhalten passt perfekt zu dem, was die Plattformen brauchen: Emotionalisierung und Polarisierung. Die Diskurse sind oft so radikal, dass manche Menschen gar nicht mehr teilnehmen möchten. Sie setzen auf self silencing, weil sie sich der Aggression und der undifferenzierten Argumentation nicht mehr aussetzen wollen.  Konsumieren sie gar keine Nachrichten mehr, etwas das die Forschung news avoidance nennt, gehen sie auch für die Debatten, die in einer demokratischen Gesellschaft an der Tagesordnung stehen sollen, verloren.

Sind sich die User:innen der Gefahren für die Demokratie bewusst?

Ja, die Daten aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigen uns, dass rund ein Drittel der Befragten negative Auswirkungen auf die Demokratie durch die Sozialen Medien sehen. Überwältigend viele, jenseits von 80 Prozent, befürworten, dass Plattformen und Politik Maßnahmen gegen Desinformationen setzen. Die meisten spüren selbst, dass da Entscheidendes ins Wanken gerät: So gaben 54 Prozent der befragten EU-Bürger:innen an, in den vergangenen Monaten unsicher gewesen zu sein, ob eine Online-Information wahr oder falsch ist.

Die Plattformen sind gekommen, um zu bleiben, und sie liegen in den Händen von privaten Konzernen außerhalb Europas. Können wir gegen diese Entwicklung überhaupt etwas unternehmen?

Ja, die Entwicklung hängt ja davon ab, wie wir uns jetzt entscheiden. Wir müssen uns auch nicht den Konzernen ausgeliefert fühlen, sondern meinen, dass auf europäischer Ebene digitale Plattformen und Infrastrukturen geschaffen werden sollen, die im öffentlichen Eigentum stehen. Das ist aber nur eine von mehreren Empfehlungen, die wir in der Arbeitsgruppe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften auf Basis aktueller Befunde erarbeitet haben. Wir nehmen dabei auch die politischen Instanzen selbst in den Blick: Politiker:innen sollten sich in ihrer Vorbildfunktion einen Code of Conduct auferlegen, dem ethische Grundprinzipien zugrunde liegen. Wir meinen, dass auch ein Ethikrat für politische Werbung und PR in sozialen Medien äquivalent zu anderen bestehenden Gremien einzurichten wäre. Außerdem brauchen wir mehr empirische Evidenz zur digitalen politischen Kommunikation in Österreich. Deshalb schlagen wir ein regelmäßiges Monitoring hinsichtlich der Reichweiten, des Nutzungsverhaltens und der Inhalte vor.

Was kann man für die legacy media tun?

Sie sind als „Vierte Gewalt“ für das Funktionieren moderner, liberaler Demokratien unerlässlich. Wir müssen darauf achten, dass jene wirkungsvoll und gezielt gefördert werden, die qualitätsvoll arbeiten. Das betrifft nicht nur die offizielle Medienförderung, sondern auch die inoffizielle über die Vergabe öffentlicher Werbeaufträge. Da brauchen wir mehr Regulierung und mehr Transparenz. Außerdem müssen wir unabhängige Faktencheck-Institutionen stärken und die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sichern.

Journalistische Tugenden sollten zur Allgemeinbildung werden.

Sie sprechen damit mehr oder weniger strukturelle Maßnahmen an. Inwiefern ist auch der:die einzelne Bürger:in betroffen?

Österreich sollte gezielt die Medienkompetenz aller Nutzer:innen stärken, also die Fähigkeit, Desinformation und manipulative Inhalte zu erkennen, mit ihnen verantwortungsvoll umzugehen, sachlich zu diskutieren und auf Hassreden angemessen zu reagieren. Die Vermittlung muss in den Schulen beginnen, sie sollte aber genauso Erwachsene erfassen. Journalistische Tugenden sollten zur Allgemeinbildung werden.

Wie ernst und wie dringlich schätzen Sie die Lage ein?

Unsere demokratische, freie und aufgeklärte Form von Öffentlichkeit, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten kannten, ist als Lebensmodell bedroht, inner- und außerhalb Europas, politisch, ökonomisch und sozial. Sie ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Deswegen geht es aktuell auch darum, nicht zu hoffen und zu warten, dass andere etwas tun, sondern dass man selbst damit beginnt, die Grundlagen dafür zu stärken.

 


Matthias Karmasin ist Professor am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (AAU) sowie Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften und der AAU und seit 2021 wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW.

Das Interview basiert auf einer ausführlichen Stellungnahme, die eine Arbeitsgruppe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Parlament erarbeitet und am 26. Februar präsentiert hat. Die darin abgeleiteten Empfehlungen leiten sich aus einer Analyse dieser Arbeitsgruppe ab und wurden von Matthias Karmasin (CMC ÖAW/AAU als Sprecher der AG), Stefan Strauß (ITA ÖAW) und  Magdalena Pöschl (Institut für Staats- und Verwaltungsrecht Universität Wien), die mehr als 100 themenrelevante internationale Studien untersucht haben, im Parlament präsentiert und diskutiert.

Die Stellungnahme der ÖAW wurde von einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern und Mitarbeitenden der ÖAW durchgeführt, bestehend aus: Ivona Brandić, Matthias Karmasin, Magdalena Pöschl, Barbara Prainsack, Sonja Puntscher-Riekmann, Michael Rössner, Stefan Strauß und ÖAW-Präsident Heinz Faßmann.

Foto: Lukas Krummholz