West-östlicher Divan von Goethe. Stuttgard 1819. Goethes Geschenkexemplar für Sulpiz Boisserée. Goethe-Museum Düsseldorf, Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, aus dem Besitz Sulpiz Boisserées.

„Poetische Perlen“: Goethes West-Östlicher Divan erschien vor 200 Jahren

Mit der Erstausgabe seines West-östlichen Divan hat Johann Wolfgang von Goethe 1819 die umfang- und facettenreichste Gedichtsammlung seines Gesamtwerks veröffentlicht. 200 Jahre später sind die Gedichte für Anke Bosse, Literaturwissenschaftlerin und Leiterin des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, noch immer von eindrucksvoller Faszination und Aktualität. Aus Anlass des Jubiläums wurde sie vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und vom Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum eingeladen, eine Divan-Ausstellung zu kuratieren. Sie ist nun in Weimar und ab August in Frankfurt zu sehen. Mit uns hat sie darüber gesprochen, warum es sich lohnt, sich auf den West-östlichen Divan auch heute noch einzulassen.

Warum soll man sich mit diesen 200 Jahre alten Gedichten beschäftigen?

Weil sie, wie dies bei hochrangiger Literatur immer der Fall ist, weiterhin aktuell sind. Was dort zur Sprache kommt, hat einen überzeitlichen und vor allem auch transkulturellen Wert und lässt sich von den Leserinnen und Lesern auch in die je eigene Gegenwart übertragen.

Wie wurde die Lyriksammlung vom zeitgenössischen Publikum aufgenommen?

Zu Goethes größter Betrübnis reagierte das zeitgenössische Publikum sehr verhalten. Meine Vermutung ist: Es war schlicht überfordert. Um 1800 hatte sich in Europa eine Orient-Mode etabliert, voller Klischees und Stereotypen, die dem mangelnden direkten Kontakt mit dem Osten geschuldet waren. Dass wir dem Nahen und mittleren Osten in Europa die Erfindung der Schrift, drei Religionen – das Christentum ist eine orientalische Religion … – herausragendes Wissen und Können in der Medizin, der Mathematik, der Philosophie, den Naturwissenschaften verdanken, war vergessen, verdrängt. Wie ja auch heute noch oft.

Was sind das für Klischees?

Der Orientale sei jemand, der sehr sensuell ist. Er könne sich zig Frauen leisten, laufe ständig in Pluderhosen herum, rauche Wasserpfeife und trage Turban und Bart. Die Bilder sind sehr verkitscht und haben über lange Zeit eine echte Auseinandersetzung mit orientalischen Kulturen verdeckt. Genau diese Auseinandersetzung aber hatte Goethe im Sinn – und dann im Divan poetisch verwirklicht. Nämlich nicht einfach Übersetzungen oder Nachahmungen zu bilden, sondern ein Drittes zwischen Ost und West: Hybride aus Eigenem und Anderem, Vertrautem und Fremden.

Wie wird dies in den Gedichten sichtbar?

Er konstruiert eine Kombination aus orientalischen Quellen und eigenen früheren Erkenntnissen und Werken – auch naturwissenschaftlichen. Häufig gibt es in wenigen Versen eine Vielzahl an Bedeutungen und Vernetzungen, die uns auch heute noch Anknüpfungspunkte bieten. Man muss sich darauf einlassen, damit man das vieldeutige Strahlen dieser „poetischen Perlen“ für sich erschließen kann.

Welche Quellen standen Goethe zur Verfügung?

Insgesamt hat Goethe über 100 Bücher über den Orient studiert, eines sollte aber entscheidend sein. Dazu muss ich weiter ausholen: Maria Theresia hat 1754 die Kaiserlich-Königliche Akademie für Orientalische Sprachen in Wien gegründet. Die Studenten, sog. „Sprachjünglinge“, lernten drei oder vier Sprachen, darunter auch das Arabische, Persische und Türkische. Die Absolventen dieser Akademie wurden mit dem Ziel ausgesandt, enge Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich herzustellen, dessen Truppen noch wenige Jahrzehnte zuvor Wien bedroht hatten. Lieber Handel als Krieg, war die Devise der Kaiserin. Einer der wichtigsten Absolventen war der Orientalist und spätere Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Josef von Hammer. Er hat den Diwan von Hafis, dem bis heute berühmtesten persischen Dichters, der im 14. Jahrhundert lebte, ins Deutsche übersetzt. Als Goethe diese Übersetzung im Mai 1814 in die Hände bekam, hat es „klick“ gemacht.

Was faszinierte Goethe daran?

Bei der Lektüre von Hafis‘ Diwan hatte Goethe den Eindruck eines déjà-vu. Die Motive der hafisischen Lyrik – Wein, Liebe und Dichtung – ähnelten denjenigen, mit denen er sich als 20-Jähriger beschäftigt hatte im Anschluss an den griechischen Dichter Anakreon. Der mittlerweile ins Alter Geratene erkennt in Hafis einen „Zwilling“, einen Gleichen. Das ermöglichte ihm, die Brücke zwischen Eigenem und Anderem zu schlagen. Zeit, Raum und Kulturen wurden überbrückbar – mit Hilfe der Imagination des Dichters.

In welcher Phase seines literarischen und wissenschaftlichen Schaffens war Goethe zu diesem Zeitpunkt?

Er hatte mehr als ein Jahrzehnt lang, seit dem Tod Schillers, kaum noch Gedichte geschrieben. In solchen Krisenzeiten wusste er, seine Produktivität in andere Kanäle zu lenken. Beispielsweise arbeitete er verstärkt naturwissenschaftlich und veröffentlichte 1811 den ersten Teil der Farbenlehre. Doch der auf 65 Zugehende rechnete nicht mehr mit einem poetischen ‚Schub‘. Bei der Lektüre von Hafis‘ Diwan passierte aber genau das: Hafis inspirierte ihn, innerhalb weniger Tage so viele herausragende Gedichte zu dichten wie noch nie zuvor in seinem Leben! Goethe war enthusiasmiert, fühlte sich wundersam verjüngt. Die Verjüngung durch Poesie potenzierte sich noch, als er sich wenige Wochen später als alter Mann in eine junge Frau verliebte: Marianne Jung, aus Linz stammend, allerdings mit dem Frankfurter Bankier Jakob von Willemer verlobt (den sie dann auch heiratete). Die gegenseitige erotische Anziehung blieb freilich im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen der Zeit und wurde von beiden in Poesie sublimiert. Denn Marianne ‚orientalisierte‘ mit, dichtete mit. In ihr fand Goethe die einzige der – doch ziemlich zahlreichen – Frauen seines Lebens, die ihm so von Gleich zu Gleich gegenübertrat. Von mindestens drei Gedichten im West-östlichen Divan wissen wir, dass sie von Marianne stammen – und in Tiefe und Qualität denen Goethes in nichts nachstehen.

Inwiefern wirkt der West-östliche Divan bis heute nach?

Nehmen wir als Beispiel das 1999 von Daniel Barenboim, Edward Said und Bernd Kauffmann gegründete Jugendorchester West-Eastern Divan Orchestra. Es wurde aus arabischen, palästinensischen und israelischen jungen Menschen zusammengestellt, um den Dialog und Austausch zwischen den Kulturen zu fördern und ein Zeichen zu setzen gegen den andauernden Krieg. Der Titel West-östlicher Divan hat sich – so zeigt dieses Beispiel – ist inzwischen ein eigenständiges Label für das Programm geworden, das hinter Goethes Divan steht: kulturübergreifender Austausch. Die Brücken, die Goethe poetisch geschlagen hat, die brauchen wir noch heute. Dringender denn je.

Inwiefern ist Kunst ein adäquates Mittel dafür?

Die Menschen sind – unseres Wissens – die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, die ein Selbst-Bewusstsein haben. Wir können mental aus uns heraustreten und uns selbst beobachten, beurteilen. Wichtige Voraussetzung für jede Ethik, für jedes Zusammenleben! Zum Selbst-Bewusstsein gehört auch Selbst-Vergewisserung, und diese haben die Menschen über Jahrtausende hinweg aus der Kunst bezogen. Kreative Techniken wie Schreiben, Malen, Musizieren hatten und haben eben diesen psychosozialen Zweck der Selbstvergewisserung für jede, für jeden von uns. Das ist bis heute die Aufgabe der Kunst – und zwar in allen Kulturen, weltweit. Daher ist Samuel Huntingtons unseliges und einseitiges Konzept der Clash of Cultures aus vielerlei Gründen irreführend: Dass es eine Kultur oder mehrere Kulturen nebeneinander gibt, die kriegerisch gegeneinanderknallen, ist eine grobe Vereinfachung. Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Migrationsgeschichte, Kulturen sind also immer gemischt und gar nicht genau abgrenzbar. Erinnern Sie sich, was ich eben zur Erfindung der Schrift, den Religionen, dem Transfer von Ost nach West, nach Europa erläuterte. Wichtig ist: Erst, wenn wir uns mit uns selbst und miteinander auseinandersetzen, können wir als Gesellschaft weiterwachsen – und zwar transkulturell. Im Zeitalter der Globalisierung müsste das selbstverständlich sein. Goethe hat es – poetisch – im Divan vorgemacht und sich für einen „freyen geistigen Handelsverkehr“ eingesetzt. Das ist sein Konzept einer ‚Weltliteratur‘.

Zur Ausstellung

Die Ausstellung „Poetische Perlen“ aus dem „ungeheuren Stoff“ des Orients. 200 Jahre Goethes West-östlicher Divan ist in Weimar von 19. April bis zum 21. Juli 2019, in Frankfurt von 21. August bis zum 23. Oktober 2019 zu sehen. Das gleichnamige, von Anke Bosse (Robert-Musil-Institut für Literatruforschung/Kärntner Literaturarchiv) verfasste Begleitbuch ist im Wallstein Verlag erschienen (ISBN: 978-3-8353-3423-6, 15,00 €).