„Der digitale Raum ermöglicht neue Gewaltdynamiken, bietet aber auch die Chance für neue Formen der Konfliktbearbeitung.“
Cora Bieß fragt sich, wie Jugendliche Konflikte und Gewalt im digitalen Raum wahrnehmen und wie Konfliktsensibilität dazu beitragen kann, dass Zivilcourage gefördert wird. Sie arbeitet dazu an neuen theoretischen Überlegungen, die auch intersektionale Perspektiven berücksichtigen. Gleichzeitig spricht sie mit Jugendlichen darüber, wie es ihnen mit Streit und Gewalt im Digitalen ergeht und wann sie bereit sind, sich im Sinne einer Konfliktlösung einzumischen.
Kann man Online-Konflikte getrennt von Offline-Konflikten betrachten?
Man kann das nicht immer genau voneinander trennen. Es gibt, gerade auch bei Jugendlichen, Konflikte, die im WhatsApp-Klassenchat beginnen und sich dann im Klassengefüge an der Schule weiter ausweiten.
Welche Unterschiede gibt es dennoch?
Online werden Konflikte oft schnell unübersichtlich. Beispielsweise ist bei TikTok für die User:innen oft gar nicht einsehbar, an wen die Inhalte adressiert sind und was andere damit machen. Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft das Zeit-Raum-Verständnis: Online geht alles sehr schnell. Damit einher geht auch ein Kontrollverlust, weil gar nicht mehr eingeschätzt werden kann, wie weit Inhalte binnen Sekunden gestreut sind. Andererseits können auch schon lange in Vergessenheit geratene Bilder, Videos und Texte zu einem späteren Zeitpunkt wiederauftauchen. So kann etwas, das gar nicht mehr akut scheint, wieder erneut an die Oberfläche geraten.
Sie beschäftigen sich damit, wie Jugendliche mit Hilfe von Konfliktsensibilität dazu befähigt werden können, Zivilcourage in der Online-Kommunikation an den Tag zu legen. Fördert der digitale Raum Zivilcourage?
Insgesamt bietet der digitale Raum als vernetzte Öffentlichkeit das Potenzial dazu, weil es niederschwelliger sein kann einzugreifen. Schon mit einem Emoticon kann man Gewalt Einhalt gebieten und recht einfach „Stopp!“ sagen. Es ist auch leichter, Inhalte zu löschen, zu blockieren oder zu melden. Im Analogen ist das oft sehr viel schwieriger.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Ja, nehmen wir das Beispiel eines Fußgängers, der auf der Straße nachts von einer anderen Person gewaltvoll angegriffen wird. Wenn das Geschehen nur durch eine Dritte beobachtet wird, muss sich diese Person überlegen: „Gefährde ich mich mit dem Eingreifen auch selbst? Wie lange dauert es, bis die Polizei kommt, und was tut sie dann?“ Vieles davon fällt im digitalen Raum weg: Die Gefahr von direkter Gewalt betroffen zu sein, also physisch angegriffen zu werden, spielt im Digitalen eine geringere Rolle, und ich kann viel schneller andere mobilisieren, die mich unterstützen können. Der digitale Raum bietet die Chance, Inhalte beispielsweise durch Screenshots zu dokumentieren. Dies kann als Beweisgrundlage für die Strafverfolgung genutzt werden. Gleichzeitig haben aber viele Jugendliche auch im Online-Raum Angst vor nicht-absehbaren Folgen, wenn sie sich beteiligen und einmischen. Studien zeigen, dass Jugendliche sich wenig darüber austauschen, welche Gewalterfahrungen sie in der Onlinekommunikation machen. Da Gewalterfahrungen für viele schambesetzt sind, ist betroffenen Jugendlichen oft nicht bewusst, dass sie nicht die einzigen sind, die Gewalt erfahren haben. Folglich verhalten sich viele Jugendliche passiv, weshalb es mehr Dialogräume braucht. Austauschräume darüber sind nötig, welche Gewaltphänomene in der Onlinekommunikation existieren, um Jugendliche zu befähigen, sich gegen Gewalt zu wehren, in gewaltvollen Situationen einzugreifen oder sich für einen konstruktiven Konfliktaustrag und Antidiskriminierung einzusetzen.
Welche Rolle spielt die Anonymität?
Einerseits kann sie den Mut zur Zivilcourage fördern, weil sie Schutz bietet. Man muss so weniger negative Folgen befürchten. Andererseits berichten die Jugendlichen, die ich interviewe, dass sie eher bereit sind, in Online-Konflikten einzugreifen, wenn Freund:innen, Familie oder Bekannte davon betroffen sind.
Wie kommen Sie mit den Jugendlichen zu Konflikten ins Gespräch?
Ich gebe wenig vor, weil mich ja vorwiegend interessiert, wie Jugendliche Konflikte verstehen. Die Konflikteskalation nach Glasl beschreibt die Entwicklung von Konflikten auf drei Ebenen und neun Stufen. Diese sind auf Cartoons visualisiert, und sie helfen mir beispielsweise im Gespräch mit Jugendlichen Konflikte verständlicher zu machen: Welche Dynamiken nehmen sie wahr, welche Stufen sind am Weg der Eskalation erkennbar und was müsste passieren, um Konflikte sinnvoll zu bearbeiten? Jugendliche sprechen dann selbst über Konflikte und versuchen die Rolle von Dritten zu erfassen, die sich konstruktiv im Sinne von Zivilcourage einbringen könnten. Darüber hinaus arbeite ich mit Szenarien, die verschiedene Formen zivilcouragierten Handelns darstellen.
Wie sind Sie selbst zu diesem Thema gekommen?
Nach meinem Bachelorstudium in Erziehungswissenschaften habe ich beim Jugendamt im Bereich der Inobhutnahme von minderjährigen geflüchteten Jugendlichen gearbeitet. Dort habe ich viel über Nord-Süd-Verhältnisse und Ungleichbehandlung und Ungleichmachung gelernt. Danach habe ich im Master Friedensforschung und internationale Politik in Tübingen studiert und meinen Schwerpunkt auf die Friedensbildung gelegt. So konnte ich die verschiedenen Vorerfahrungen miteinander verknüpfen.
Ihr Doktoratsstudium haben Sie an der Universität Klagenfurt belegt. Warum?
Ich hatte von Claudia Brunner, die mich nun am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung betreut, einiges gelesen und sie bei Veranstaltungen kennengelernt. Im Rahmen meiner Arbeit bei der Berghof Foundation haben wir sie dann nach Tübingen eingeladen. Dort ist dann auch die Idee für dieses Dissertationsthema entstanden.
In einer Welt voller Konflikte: Wie optimistisch blicken Sie in die Zukunft?
Bei meiner Arbeit, sowohl für die Berghof Foundation als auch als Referentin bei der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, liegt der Fokus oft auf Krieg und Gewalt. Viele Erfahrungen sind dabei ernüchternd. Die Friedensbildung gibt aber Hoffnung. Wir sehen zwar neue Gewaltdynamiken, auch im digitalen Raum, aber wir können Friedensbildung weiterentwickeln, um die Friedensfähigkeiten von jungen Menschen zu stärken, damit sie selbst in Zukunft Friedensstifter:innen werden können. Ja, ich bin immer wieder optimistisch.