Corona-Leugnung zwischen Notstandsagieren und Handeln

Die Philosophin Alice Pechriggl hat für die Serie „philosopher en temps d’épidémie“ einen Essay verfasst, den Sie hier in der Originalfassung lesen können. Das (französischsprachige) Video dazu gibt’s hier.

Wir haben es heute angesichts des SARS-CoV-2 mit globalen, die ganze Welt betreffenden Auswirkungen zu tun; alles (gr. pan), das ganze Volk (gr. demos) bzw. alle Völker als Weltbevölkerung sind betroffen. Diese totale Dimension wird uns jeden Tag via Medien bewusst gemacht, nachdem sie viel zu lange in Abrede gestellt und geleugnet wurde. Doch es geht darum, gerade auch die unangenehmen Dinge beim Namen zu nennen, Parrhesia, sagen was ist. Wie in dem Satz von Rosa Luxemburg, den wir seit der Renovierung unserer Universität immer wieder lesen dürfen: „Sagen was ist, ist die revolutionärste aller Taten“. Wir wissen, dass diese Pandemie schon im Jänner als solche bewusst war, doch die chinesische Regierung hat damals gegen die Ausrufung einer Pandemie durch die WHO ein Veto eingelegt, obwohl die meisten anderen Länder das gefordert haben. Damals war der Virus längst in Europa, insbesondere in der Lombardei. Chinas Regierung sollte sich – wie so viele andere – verantworten müssen, und Chinas Regierung wird sich nicht verantworten, nicht gegenüber seiner Bevölkerung, nicht gegenüber der Welt.

Wenige unter den so genannten Verantwortlichen weichen rasch dem Druck, weil sie ihm psychisch nicht gewachsen sind; noch viel weniger unter ihnen, die ein wenig Schamgefühl besitzen, wie der Bürgermeister von Völkermarkt, treten zurück, obwohl sie keine Schuld trifft. Die meisten, die aufgrund ihrer Corona-Leugnung zu spät gehandelt haben, halten an ihrer selbstbezüglichen Unschuldsvermutung fest, obwohl längst alle wissen, dass sie vermessen und schlichtweg falsch ist: ihre aktive Leugnung der Gefährlichkeit der Pandemie ist mittlerweile auch weltberühmt.

Die Corona-Leugnung war cool, ja sogar chic, auch hierzulande, aber viel mehr noch in Großbritannien, Spanien, Frankreich und den USA. Sie ist es nicht mehr, zu schlimm hat der Virus diese Länder erfasst, und es sterben nicht nur ältere Menschen in großer Zahl. Eine Gefahr oder ein unsägliches Verbrechen zu leugnen führt uns zur Verleugnung im psychoanalytischen Sinn, der den Kern auch kollektiver Formen der Leugnung darstellt, ob es sich um Corona-Leugnung, Klimawandel-Leugnung oder um die Leugnung der Shoah handelt.1 Nichts soll sich ändern, the show must go on oder die Arbeit, ob aus narzisstischer Angst (Ehrgeiz) oder aus realer Existenzangst: beides kann das ohnehin nie ganz sichere Ich massiv unterminieren. Vor der Anerkennung der traurigen und schockierenden Wahrheit, also die extrem beängstigende Ausbreitung der Pandemie über ein Land nach dem anderen, haben die Menschen mehrheitlich zur Leugnung der auch ihnen unmittelbar bevorstehenden Gefahr tendiert: shutdown, lockdown, Sterblichkeit, Kollaps des Gesundheitssystems und vor allem: die Unsicherheit bezüglich des Endes dieser Pandemie. Wer leugnet oder herunterspielt, muss momentan die Angst nicht verspüren. Manche verspüren sie nie, andere wachen durch sie aber auf.

Die kollektiv relevante Verleugnung ist zugleich das nicht Wahrhabenwollen (in) einer totalen Situation, in der der Ausnahmezustand die Regel ist: Wir sind eingesperrt, es herrscht/e – ob es uns gefällt oder nicht – weitgehende oder komplette Ausgangssperre, damit der Virus nicht noch viel, viel mehr Tote fordert und das Gesundheitspersonal nicht gänzlich machtlos und ebenfalls tot hinterlässt. In solchen Situationen massiver Bedrohung setzt auf kollektiver Ebene ein psychischer Abwehrmechanismus ein, der in der Psychoanalyse und Psychotherapie gemeinhin als Spaltung bezeichnet wird. Gut und böse, wahr und falsch, ich und anderer werden unrealistisch voneinander abgespalten; auch Vorstellungen, die mit den von überall her in den psychischen Raum eindringenden Ängsten verknüpft sind, werden ausgeblendet, verleugnet, vom Bewusstsein abgehalten: abgespalten eben. Wenn das nicht (mehr) geht, wie im Fall der Pandemie bzw. der Gefährlichkeit des Virus, wird der Virus und die Gefahr, die von ihm ausgeht, zuerst projektiv dem anderen in die Schuhe geschoben („the chinese Virus“), dann mit autoritären Sprechakten und meist zu spät eingeleiteten Notstandsaktionen bekämpft.

Die Verleugnung geschieht in Anlehnung an den frühkindlichen Glauben, in den die Psyche bei solchen Gelegenheiten oft regrediert: dass nämlich Dinge, die ich wegen der vorgehaltenen Hand nicht sehe, auch für die anderen und an sich nicht existieren. Doch während das kleine Kind durch dieses Spiel lernt, dass es sich dabei eben um einen Trick handelt, versteigen sich Menschen, die angesichts einer Bedrohung im Modus der Spaltung verharren, nicht nur zur Intellektualisierung der Leugnung, sondern auch zu den abenteuerlichsten Theorien, insbesondere zu paranoischen Verschwörungstheorien. Verschwörungstheorien haben etwas Beruhigendes: Wenn China den Virus gebaut hat, um damit die Welt von dem drohenden Bürgerkrieg in Hong Kong abzulenken, wie eine der vielen kursierenden Theorien lautet,2 dann können sie ihn auch wieder zurückbauen; dann gibt es eine technische Kontrolle über die Natur, die ja den Glaubenspfeiler unserer technokratischen Religion darstellt. Überhaupt stellt Kontrollzwang zur Eindämmung unbeherrschbarer Ängste eine der Grundfesten von Religion oder religiösem Glauben mit Allmachtsinstanzen wie Göttern, Gott, Zauberern, Hexen, Heiligen oder intentionalen kosmischen Kräften dar. Niemand ist in seinem Unbewussten frei von dieser Art des Glaubens oder dessen, was Freud so treffend „magisches Denken“ nannte, das überbordende Ängste ein wenig zu bannen vermag – zumindest im Moment, bis die Realität sich wieder meldet.

Doch die permanent kreierten Wunder der als allmächtig angebeteten Technik, an die vornehmlich jene glauben, die von ihr die Lösung aller globalen Probleme erhoffen, ohne ihre zum Teil verheerenden Auswirkungen zu bedenken, haben uns in eine kollektivpsychische Situation versetzt, die angemessenes und überlegtes Handeln extrem erschweren: sie halten die Gesellschaften in einer Stimmung, in der das Pendel zwischen ohnmächtiger Abhängigkeit und Allmachtsillusion immer nur ausschlägt, ohne eine Mitte zu finden.

Auf politischer Ebene lassen sich Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie ansonsten undenkbare und als unzumutbar empfundene Einschränkungen gefallen. Sie tun dies nicht nur aus Angst, sondern Großteil aus Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen (der Vergleich macht Sie sicher…); sie wenden zuweilen aber auch nichts Triftiges gegen die von autoritären Regierenden durchgesetzte Ausschaltung des Parlaments ein, wie etwa in Ungarn. Die ökonomischen Einschränkungen sind – wie die grundrechtlichen auch – zweischneidig: einerseits erleichtern sie uns von einem krank machenden und den Planeten zerstörenden Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaftsweise (shareholder value, Gewinnmaximierung um fast jeden Preis, pekuniäre Verwertbarkeit von allem und jedem…), andererseits versetzen diese Einschränkungen viele Menschen in eine Prekarietät, die zusätzlich die Angst im Kollektiv erhöht und viele gegen die wichtigen Eindämmungsmaßnahmen aufbringt. In Zeiten der Pandemie wird Notstandshandeln zum dominanten Handeln gegen die Gefahr, aber auch gegen die Angst, die von dieser Gefahr ausgeht. Um genauer zu sein: in Zeiten der Pandemie erlangt die Spaltung eine Realität, die ihr sonst abgeht, weshalb auch die spaltende Leugnung so realistisch erscheint. Die Welt ist tatsächlich – und nicht nur imaginär – aufgespalten in (Über)Leben oder Tod, in psycho-ökonomische Depression oder Leugnungsmanie, in gut oder böse…

Nun ist das Notstands- und Katastrophenhandeln mehr Strategie im Kontext Angst abwehrenden Agierens als ein Handeln im besten Sinn demokratischer deliberatio, also des gemeinsamen politischen Zu-Rate-Gehens und Entscheidens, wie wir es in friedlichen Zeiten viel eher zu tun vermögen. Doch fragen wir uns einmal in Ruhe, trotz der Hektik und der ängstlichen Aufgeregtheit, die unsere Gedanken leicht verwirren: Waren wir nicht schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten über weite Strecken eher im Modus eines Notstandsagierens gefangen als handelnd unser Zusammenleben zu gestalten? Die Sparpolitiken inmitten von Prosperität vor allem gegen das im Zentrum des Gemeinwohls stehende Gesundheits- und Bildungssystem; die zunehmende Prekarisierung der jungen Generationen; die immer schnellere Ausbeutung unserer menschlichen, gesellschaftlichen und vor allem unserer planetaren Ressourcen; der Aufstieg des „Burnout“, also der Erschöpfungsdepression in der permanenten kapitalistischen Festbeleuchtung zur ersten und charakteristischsten psychischen Erkrankung und die mit dieser „hochzivilisierten“ Lebens-, Liebes- und Wirtschaftsweise verbundenen chronischen Erkrankungen wie Gefäßerkrankungen, Krebs und Diabetes: Sie alle zeigen etwas auf, sind Symptome einer tiefliegenden Malaise, von der nichts und niemand die Menschen retten wird, außer eine Katastrophe oder eine Revolution, denn zu mächtig ist das Wachstumsdiktat und die Ankurbelungsrhetorik, die es am Leben hält. Es kann sein, dass es beider bedarf, einer Katastrophe und einer Revolution. Ich denke, dass wir uns seit einigen Jahren mitten in einem derartigen Umschwung befinden, der – wie die Corona-Krise – unseren Zugang zur Welt verändert.

Es ist zu hoffen und dafür zu kämpfen, dass hinreichend viele Menschen, also die überwiegende Mehrheit der Menschen und Regierungen, das besonnene Handeln im Sinne des Gemeinwohls wählen, das den Ängsten und Hoffnungen der Menschen Platz einräumt und nicht das blinde Agieren im Zeichen der Spaltung und der illusionären Festbeleuchtung. Es wäre fatal, wenn ganze Gesellschaften in die unrealistischen und gemeingefährlichen Leugnungen oder die nationalistisch-autoritären Reaktionen kippten, in die die Leugnung jederzeit umschlagen kann. Die mangelnde Solidarität in Europa, die nationalistische Engstirnigkeit in Bezug auf die europäische Schuldenpolitik und die Weigerung, sofort ein Grundeinkommen für alle zu instituieren, sind allerdings keine guten Vorboten. Denn ohne europäische, ja globale Solidarität bei gleichzeitiger Aufwertung der lokalen radikaldemokratischen Ebene wird die Weltpolitik weder dieser noch anderen globalen Herausforderungen gewachsen sein; und ohne ein Grundeinkommen, das eine unbürokratische Basis für den Ausstieg aus vielen unnötigen und katastrophalen Wirtschaftszweigen ohne Massenverelendung ermöglichen würde, sind weitere mörderische Entwicklungen in Europa und dem Globus zu befürchten, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, von der ökologischen Katastrophe ganz zu schweigen. Die Gelegenheit zum Ausstieg aus diesem Raubbausystem ist jetzt, sie muss aber ergriffen werden, sonst zieht sie ungenutzt vorüber. Es kann aber auch sein, dass danach alles so weitergeht wie zuvor, denn the show must go on, weil hinter uns ist ja bekanntlich auch die Sintflut. Wir werden sehen, aber es wird von uns allen abhängen, so wie die Intensität, mit der ein Virus zuschlagen kann.