Martin Luther | Foto: AVTG/Fotolia.com

Vom Aufkommen der Urteilskraft: Neue Forschungsplattform zu „Judgment“

In der Frühen Neuzeit (1450/1500-1800) kam dem Begriff des Urteils bzw. der Urteilskraft eine neue Bedeutung zu: Es wurden unterschiedliche Praktiken des Urteilens geprägt und eine Kultur des Urteilens geschaffen, die bis heute ein wesentliches Merkmal aufgeklärter Gesellschaften ist. Ziel einer neuen fach- und institutionenübergreifenden Kooperation ist es nun, diesen Begriff und seine wichtige Rolle für die Ausprägung moderner Gesellschaften, die sich Werten der Toleranz und der Wertschätzung von Wissen verpflichten, zu untersuchen. Als erste öffentliche Veranstaltung findet am 2. Mai 2017 die Podiumsdiskussion „500 Jahre Reformation – und kein Ende. Eine Spurensuche in Kärnten“ an der Alpen-Adria-Universität statt.

„Das Urteil bzw. die Urteilskraft ist ein Schlüsselbegriff der Ideengeschichte der Frühmoderne. Darunter wurde einerseits das kognitive Vermögen von Subjekten aufgefasst, sich zu besonderen Sachverhalten eigenständig zu verhalten, andererseits auch der Akt, in dem sich das Vermögen äußert“, so Ursula Renz (Institut für Philosophie), die als eines von drei Gründungsmitgliedern in Klagenfurt am Projekt „The Exercise of Judgment in the Early Modern Period“ mitwirkt. Ausschlaggebend dafür sei, dass Urteilskraft als ein „unveräußerliches Vermögen von Individuen“ angesehen wurde, welchem das Recht der freien Meinungsbildung entspricht. Zudem traute man der Urteilskraft etliche Vermittlungsleistungen zu, etwa zwischen Allgemeinem und Besonderem, Theorien und deren Anwendung, oder zwischen moralischen Prinzipien und der Einschätzung eigenen Verhaltens vor dem ‚Gerichtshof des Gewissens‘.

Was hat sich aber nun im praktischen Leben der Menschen dieser Zeit verändert? Wie Reinhard Stauber (Institut für Geschichte) deutlich macht, hatte die Aufwertung des Urteils für viele Lebensbereiche eine große Bedeutung: Es wurden neue Praktiken der experimentellen Naturbeobachtung etabliert, die sich am Modell des Verhörs von Zeugen orientierten und eine Aufwertung des Expertenurteils in allen Lebensbereichen wie Rechtskultur, Politik, Medizin oder Forschung zur Folge hatten. „Die Praxis des Expertenurteils, welches analog zu den Zeugenaussagen vor Gericht dazu dient, das Wesen der Fakten zu bezeugen und welches auf den Kriterien der Aufrichtigkeit und Kompetenz beruhte, führte zur Entstehung einer eigentlichen Expertenkultur, die sich bis in die heutige Wissenschaftskultur und –gesellschaft erhalten hat.“

Wie Susanne Friede (Institut für Romanistik) ausführt, entstanden im Zuge der Einführung und Erprobung von Urteilsverfahren neue Textsorten, so u.a. der ein Abwägungsverfahren inszenierende Renaissance-Dialog. Die Grenzen des Beurteilbaren lotet seit der Renaissance die literarische Utopie aus. „Dank der Emanzipation von bisher unhinterfragten Autoritäten und (auch diskursiven) Automatismen wurden neue Räume menschlichen Gestaltungshandelns geschaffen.“ Alles in allem komme der Reflexion über den Begriff des Urteils und den kognitiven, medialen oder sozialen Bedingungen der Ausübung der Urteilskraft für zahlreiche Diskurse der frühmodernen Geistesgeschichte eine zentrale Bedeutung zu.

Mit der Forschungsplattform möchten die drei ProfessorInnen einerseits die historische, philosophische, philologische und kulturwissenschaftliche Forschung und Reflexion über das, was Urteilskraft ist und leistet, fördern. Gleichzeitig wollen sie aber auch in begrifflich geschärfter und historisch reflektierter Weise auf die überzeitliche, staats- und bildungspolitische Bedeutung dieses Vermögens aufmerksam machen. Denn, so ihre gemeinsame Ausgangsüberlegung: „Der Kompetenz zur Analyse und der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung bedarf unsere Zivilgesellschaft heute nötiger denn je.“ Mit Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung des Themas ist ferner vorgesehen, nach einer Eingangsphase das Spektrum der beteiligten Fächer zu erweitern.

Neben dem Klagenfurter Gründungs- und Leitungsteam sind zunächst fünf weitere Forscherinnen und Forscher der Universitäten Graz, Wien und Salzburg am Projekt beteiligt. Mit den Mitteln aus der Ausschreibung „Hochschulraum-Strukturmittel Kooperationsprojekte Forschung“ des BMWFW will man Workshops und Tagungen organisieren sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs unterstützen. Außerdem sollen, ausgehend von ‚Judgment‘, österreichische Forschungs-Aktivitäten zur Frühen Neuzeit über eine Online-Plattform kommuniziert werden.

Zur Veranstaltung:
„500 Jahre Reformation – und kein Ende. Eine Spurensuche in Kärnten.“
Im Gespräch miteinander und mit dem Publikum sind: Niclas Förster (evang. Theologe), Hans-Peter Premur (kath. Theologe), Ursula Renz (Philosophin), Reinhard Stauber (Historiker) unter der Moderation von Susanne Friede (Romanistin)
Stiftungssaal der Universität Klagenfurt | Dienstag, 2. Mai 2017 um 18 Uhr c.t.
Eine Veranstaltung der Evangelischen Hochschulgemeinde, der Forschungsplattform ‚Judgment‘ der AAU und der Katholischen Hochschulgemeinde.