Venedigs Kanäle zuschütten: Filippo Tommaso Marinettis Futurismus

Die Arbeiten des italienischen Schriftstellers und Gründers des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti sowie des Autors Aldo Palazzeschi stehen im Mittelpunkt der Dissertation von Sandra Kremon. Sie hat ihr Studium im PhD-Programm „Italian Studies“ kürzlich abgeschlossen und sich dabei gefragt, wie sich die literarische Darstellung Venedigs während der avantgardistischen Bewegung gewandelt hat.

Den Futurismus wollte Filippo Tommaso Marinetti nicht als rein künstlerische Strömung verstanden wissen, sondern er holte in seinem 1909 erschienen Manifest zu einem Rundumschlag gegen alles Bestehende aus: Museen und Archive seien „Friedhöfe vergeblicher Anstrengungen“, der Mensch in seiner naturgegebenen Gestalt solle durch Maschinenmenschen ersetzt werden und alles Weibliche sei zu zerstören, die Reproduktion solle ein metallisierter Mann lösen, der sich selbst fortpflanzen könne. Gewalt und Krieg seien die einzigen Mittel, um diese Ideen einer neuen Welt umzusetzen. Ähnlich fundamentale Ansichten hatte Marinetti auch zu den traditionellen Städten wie Rom, Florenz und Venedig, wie uns Sandra Kremon, Absolventin des Doktoratsstudiums „Italian Studies“, erzählt: „Er wollte das traditionelle Stadtbild komplett verändern. Die Kanäle Venedigs sollten zugeschüttet werden. Die Futuristen verherrlichten die Großstädte, die Metropolen, und verabscheuten die „passatistischen“ Städte.“ Sandra Kremon hat unter anderem untersucht, inwiefern die Thesen des futuristischen Architekten Antonio Sant’Elia in Marinettis Texte Eingang gefunden haben.

Filippo Tommaso Marinetti lebte bis 1944, zuletzt in Venedig. Ein Jahr vor seinem Tod schrieb er den Roman Venezianella e Studentaccio, der erst 2013 veröffentlicht wurde. Dieser Roman spielt in Venedig und beschäftigt sich erneut mit seinen futuristischen Ideen einer modernen Stadt: Futuristische Figuren möchten ein „Nuova Venezia“ bauen, ein utopisches Bauwerk, das nicht nur aus Glas besteht. Marinetti greift in seinem Roman auch auf die bisherige Architektur Venedigs zurück.

Auf die Frage, warum sie es für wichtig erachtet, dass man sich wissenschaftlich mit Werken wie diesen befasst, erläutert Sandra Kremon: „Es ist wichtig zu analysieren, wie sich Sichtweisen und ihre Darstellung in der Literatur im Laufe der Zeit verändern.“

Sandra Kremon hat ihre Dissertation „in cotutelle“ (binationale Promotion) in Italien und in Österreich gleichermaßen abgeschlossen. Betreut wurde sie dabei von Angela Fabris und Ricciarda Ricorda. Grundlage dafür ist eine Kooperation zwischen der Universität Klagenfurt und der Università Ca’ Foscari Venezia. Sie hat in beiden Ländern Recherchen betrieben, an Konferenzen teilgenommen und Seminare besucht. Derzeit ist sie Stipendiatin am Österreichischen Historischen Institut in Rom. Sandra Kremon möchte weiterhin in der Wissenschaft arbeiten: „Ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Wenn ich Dokumente und Handschriften finde, die mir neue Einblicke ermöglichen, freue ich mich richtig.“ Das Italienische hat Sandra Kremon früh fasziniert. 2013 war sie Erasmus-Studentin und 2014 Visiting Student an der Università Ca’ Foscari. Es folgte ein Stipendium am Centro Internazionale di Studi della Civiltà Italiana „Vittore Branca“ (Fondazione Giorgio Cini, Isola di San Giorgio Maggiore, Venedig).  Neben dem Studium des Italienischen und Spanischen in Klagenfurt hat sie zusätzlich Russisch und Slowenisch gelernt.

 

Auf ein paar Worte mit … Sandra Kremon



Was motiviert Sie, wissenschaftlich zu arbeiten?
In meiner Dissertation widmete ich mich u. a. der Archivarbeit. Dabei stoße ich immer wieder auf bis dato unveröffentlichte Dokumente. Es bedeutet mir sehr viel, einen Beitrag zu meinem Forschungsgebiet leisten zu können.

Verstehen Ihre Eltern, woran Sie arbeiten?
Im Großen und Ganzen wissen Sie, womit ich mich beschäftige. Leider können sie meine Dissertation nicht lesen, weil sie auf Italienisch ist. Dennoch sind sie sehr interessiert an meinem Projekt.

Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an Ihre wissenschaftliche Arbeit zu denken?
Ja, mittlerweile kann ich mich im Urlaub gut entspannen.

Was bringt Sie in Rage?
Ungerechtigkeit und Verlogenheit

Und was beruhigt Sie?
Spaziergänge in der Natur und Yoga

Wer ist für Sie der*die größte Wissenschaftler*in der Geschichte und warum?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich möchte mich diesbezüglich nicht festlegen und keine*n bestimmte*n Wissenschaftler*in hervorheben.

Worauf freuen Sie sich?
Auf neue Herausforderungen und auf eine spannende und abwechslungsreiche Zeit in Rom.