„Es gibt keine natürliche Verbindung zwischen jemandem, der vermeintlich das Volk vertritt, und dem Volk.“
Die Volksabhängigkeit regelt seit den Revolutionen des 17.-19. Jahrhundert das politische Leben. Nur: Wer ist das Volk und wie wird es in der Politik repräsentiert? Anna Schober, Professorin für Visuelle Kultur, beschäftigt sich damit, wie das politische Leben und Bildwelten ineinandergreifen.
Welche Funktionen haben Bilder im politischen Leben?
Politische Debatten sind in der Gegenwart stark „kulturalisiert“. Das geht in beide Richtungen: Wir sehen sowohl einen „Clash“ als auch einen „Dialog der Kulturen“. Beides wird durch die Präsenz von Bildern und visuellen Inszenierungen öffentlich manifest.
Welche Rolle spielt die Unterhaltung dabei?
Der Entertainmentfaktor und die Personalisierung von Politik sind stärker geworden. Wir sehen etwa in asiatischen Gesellschaften eine starke Ausprägung von Unterhaltung während der Wahlkämpfe; das ist für uns zum Teil noch ungewohnt. In Thailand beispielsweise treten als Teil der Demokratisierungsbewegungen mitunter auch Mitglieder von Boybands als Politiker an und Politiker im Stil von K-Pop-Bands auf. In der Realpolitik haben diese aber kaum Chancen, tragfähige Koalitionen einzugehen und tatsächlich an die Macht zu kommen und Politik zu gestalten. Das kann dann auch zu Enttäuschungen bei den Wähler:innen und in der Folge zu umfassenden Debatten führen.
Politische Macht bezieht sich auf ein Volk, und dieses Volk muss – über Aufführung und mitunter in Bildern – präsent gemacht werden.
Sind Bilder in der Politik ein Phänomen der Gegenwart oder gab es sie auch schon früher?
Es gibt beides: längere Traditionen und Veränderungen. Bilder sind seit den Revolutionen des 17. bis 19. Jahrhunderts sehr wichtig. Seit dieser Zeit gibt es eine neue Instanz, die das politische Leben regelt: die Volksabhängigkeit. Politische Macht bezieht sich auf ein Volk, und dieses Volk muss – über Aufführung und mitunter in Bildern – präsent gemacht werden. In der Französischen Revolution wollte man sich von jeglicher Personalisierung von Macht befreien.Man hat den König geköpft und schuf so einen „leeren Platz“, wie der Philosoph Claude Lefort es nannte, auf den temporär Personen hingewählt werden können. Nach der Französischen Revolution wollte man zunächst gar nur auf abstrakte Figuren und Prozesse setzen, aber die Personalisierung hat sich rasch wieder eingeschlichen.
In der Französischen Revolution musste man zu Pinsel und Farbe greifen, um Bilder zu produzieren. Heute geht das viel leichter und so gut wie jede:r hat mit dem Smartphone das passende Equipment zur Hand. Wurde die Produktion und Verbreitung von Bildern im politischen Leben dadurch demokratischer?
Jein. Zumindest handelt es sich nicht um eine lineare Demokratisierung hin zu immer mehr Emanzipation, sondern zu Verschiebungen in Regimen, in denen geregelt wird, wer auf wen blicken kann und was dabei legitim ist. Oft geht die Tatsache, dass jede:r jederzeit fotografieren kann, auch mit einer Überwachung einher. Bilder sind demnach auch Spione von widersprüchlichen Prozessen: Sie zeigen nicht nur, was inszeniert ist, sondern zeichnen auch unwillkürliches Geschehen auf. Sie machen so auch nicht-intentionale Prozesse, Emotionen und Spannungen in der Gesellschaft sichtbar.
Politik hat immer eine symbolische Dimension.
In der politischen Debatte nutzen wir Symbole: Der Mund-Nasen-Schutz wurde zu so einem Zeichen, aber auch die Klimabewegung setzt auf Symbolkräftiges. Ist das ein neues Phänomen?
Nein, dafür können wir auch wieder auf die Französische Revolution zurückgreifen. Damals wurden die Symbole der Monarchie öffentlich verbrannt und an deren Stelle hat man neue Zeichen, Denkmäler und auch gemeinschaftsbildende Veranstaltungen wie etwa Feste und Aufmärsche gesetzt. Politik hat immer eine symbolische Dimension. Die Umweltaktivist:innen nutzen das schon seit den 1980er Jahren, als man sich eingegraben oder an einen Baum gekettet hat. Das sind lange Traditionen, die in der Gegenwart aufgegriffen und abgewandelt und zum Teil „neu erfunden“ werden. Die Letzte Generation in Deutschland hat kürzlich angekündigt, sich nicht mehr auf Straßen kleben zu wollen. Das ist der Funktionslogik der Massenmedien geschuldet: Wenn es eine Übersättigung des Motivs gibt, wird dieses auch fallengelassen.
Sie sagten, dass Bilder an Bedeutung gewonnen haben, als die Volksabhängigkeit als Instanz in die Politik kam. Wer ist denn nun eigentlich dieses Volk?
Das Volk setzt sich aus zwei Dimensionen zusammen: Einerseits ist das Volk die konkrete Ansammlung von Menschen auf der Straße und andererseits ein Mythos. Das Volk ist also eine Fiktion und eine konkrete Versammlung von Individuen. Der Mythos Volk lebt oft von Feindbildern, über die man etwas Eigenes abgrenzt. Dafür müssen derzeit oft Migrant:innen und die Eliten herhalten, um im Gegensatz dazu ein ethnisch oder nationalistisch „reines“ Volk zu inszenieren. Wenn sich nun in der Politik eine:r als Vertreter:in dieses Volkes sieht, muss sie oder er dies inszenieren, durch Bilder, durch Symbole, Aufführungen und durch Reden. Es gibt keine natürliche Verbindung zwischen jemandem, der vermeintlich das Volk vertritt, und dem Volk.
Ich glaube, dass diese Akte der Reaktion aufeinander, ohne dass man sich dabei notwendig auf etwas einigt, das sind, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
Kommen wir durch diese Inszenierungen ins Gespräch miteinander?
Inszeniert sich jemand wort- und bildgewaltig als Vertreter:in des Volkes, gibt es in der Regel auch eine inszenierte Anschlusskommunikation. Bilder werden dann gegen andere Bilder gerichtet und machen eine Diversität an Perspektiven sichtbar, Bilder affirmieren sich aber auch wechselseitig, nehmen aufeinander Bezug. Ich glaube, dass diese Akte der Reaktion aufeinander, ohne dass man sich dabei notwendig auf etwas einigt, das sind, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
Im dunklen Anzug und mit Krawatte, mit aufgekrempelten Ärmeln oder in Sportschuhen in der Hofburg: Wie wichtig ist das Bild, das ein:e Politiker:in von sich abgibt?
In einer früheren Arbeit habe ich einen Diskurs in der Weimarer Republik untersucht, in dem sozialdemokratische Politiker in Fotomontagen am Strand aufgenommen in Badehosen repräsentiert wurden, um sie zu diffamieren. Heute posiert etwa Giorgia Meloni in einem professionellen Shooting im Badeanzug, der noch dazu die Farben der italienischen Flagge aufweist. Mit welcher Bedeutung ein Bild, das jemand abgibt, aufgeladen ist, ist stets im Wandel.
Wenn sich Politiker aber stylingtechnisch dem Volk annähern, wird das hierzulande oft kritisch gesehen.
In Österreich ist das paternalistische Verhältnis zur Politik eher stark ausgeprägt. Das geht auf die Tradition des Wohlfahrtsstaates zurück. Man sagt ja auch „Vater Staat“. Diese Versorgungsfunktion der Politik ist seit den 1990er Jahren in eine Krise gekommen. Heute sind auch mehr Frauen in der Politik vertreten. Das zeugt ebenso von einem veränderten Politikverständnis. Auch über Populismen werden gegenwärtig Krisen der Repräsentation inszeniert, die wiederum neue Symbole ermöglichen.
Es ist gut, dass vieles parallel nebeneinander existieren kann.
Wenn der Vater der Staat ist, ist dann das Volk das Kind?
Ja, das ist aber einer aufgeklärten Demokratie nicht zuträglich. Anhand dieser Frage sehen wir auch verschiedene Wünsche und Spannungen, die es in unserer Gesellschaft gibt. Es ist gut, dass vieles parallel nebeneinander existieren kann. Problematisch wird es, wenn Gruppen versuchen, diese Auseinandersetzung auszuhebeln oder politischen Disput einzuschränken oder gar zu verbieten.
Wir sehen in diesem Jahr nicht nur vielen politischen Inszenierungen, sondern mit der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland auch einem sportlichen Großereignis entgegen. Wird auch in den Stadien das Volk sichtbar, und mit welchen Bildern?
Wir sehen auch bei solchen sportlichen Großereignissen starke politische Dimensionen. Angela Merkel hat sich beispielsweise immer als enthusiastischer Fußballfan inszeniert. Recep Erdoğan spielt selbst Fußball, und trägt mitunter auch Trikots, die auf Wahltage anspielen. Aber auch NGOs oder Künstler:innen nutzen den Sport, um politische Kommentare abzugeben. Die Bilder, die wir von solchen Ereignissen sehen, haben nicht nur eine konfliktverschärfende Funktion, sondern können auch Gemeinsinn vermitteln. Ähnliches sehen wir auch bei Festen wie dem Villacher Kirchtag, wo Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen, aber in ähnlichen Outfits zusammenkommen und so Gemeinsinn zelebrieren.
Welche Konflikte werden in den Fußballstadien auch sichtbar?
Ich habe in einer früheren Arbeit einen Diskurs zur Werbeaktion der „kinder-Schokolade“ aus dem Jahr 2018 untersucht. Dort waren auf den Schokolade-Schachteln statt den typischen hellhäutigen Kindermodels Kinderfotos der Spieler der deutschen Nationalmannschaft zu sehen. So wurde mit Spielern wie Mesut Özil oder Jérôme Boateng auch die Vielfalt Deutschlands sichtbar. Extreme rechte Gruppen haben dann entsprechend darauf reagiert, als nächstes wurden die von diesen Gruppen geschaffenen Bilder dann von Satiremagazinen parodiert. Über solche Bilder werden Positionen inszeniert und Konflikte ausgetragen, und das ist gut so. Es ist ein Charakteristikum solcher über Bilder ausgetragenen Auseinandersetzungen, dass es nicht darum geht, sich zu einigen oder Konsens zu erzeugen. Über verschiedene Perspektiven und Bildsetzungen treten Weltsichten in Spannung und Konflikt zueinander und wir machen uns ein Bild über unsere Gesellschaft. Letztlich waren dann jene in der Mehrheit, die sich für die Sichtbarkeit von Diversität aussprachen. So äußert sich Demokratie.
Zur Person
Anna Schober-de Graaf ist Professorin für Visuelle Kultur am Institut für Kulturanalyse. Ihre Forschungsschwerpunkte sind populäre Bildmedien und Bildende Kunst der Moderne und der Gegenwart, Politische Ikonographie, Praktiken des Visuellen und Geschichte des Wahrnehmens, Ästhetik der Öffentlichkeit, Transnationalität und kulturelle Differenz sowie Methoden der Bild- und Kulturwissenschaften.
Anfang 2024 erschien die Special Section zum Thema „Visual Intervention and the (Re)enactment of Democracy“ in der Reihe Visual Studies, die von Nicole Doerr (University of Copenhagen) und Anna Schober herausgegeben wurde (Visual Studies: Vol 38, No 5 (tandfonline.com)).