Die Armen aus dem Fernsehen und was sie mit Politik zu tun haben

In so genannten Scripted-Reality-Formaten werden von vielen Privatsendern Menschen portraitiert, die arm sind und vermeintlich in prekären, zugespitzten Lebenssituationen stecken. Doch welchen Effekt haben Sendungen wie „Armes Deutschland“ oder die österreichischen Pendants auf das öffentliche Bild von Armut? Wir haben mit Alban Knecht, Leiter des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik und Inklusionsforschung, über die Effekte der unechten Realität gesprochen.

Wann ist denn jemand arm?

In Österreich liegt die Armutsschwelle bei 60 Prozent des mittleren Einkommens, dann spricht man von Armutsgefährdung. Die Grenze ist natürlich ein bisschen beliebig, man kann damit aber europaweite Vergleiche herstellen. Derzeit gelten rund 14 Prozent der Erwachsenen und rund 19 Prozent der Kinder in Österreich als arm. Diese Werte sind zuletzt leicht gestiegen.

Mit welchem Armutsbegriff arbeiten Sie in Ihrer Forschung?

Ich will ein möglichst breites Bild darüber gewinnen, was die Menschen einschränkt bzw. sie unterstützt. Dazu gehören Bildung, Gesundheit, aber auch psychische Ressourcen. Betrachten wir die multidimensionale Problemlage, sehen wir auch in der Sozialen Arbeit und in der Sozialpädagogik, dass viele Menschen nicht nur zu wenig Geld, sondern auch noch viele andere Probleme haben. Zusätzlich zu diesem Spektrum an Ressourcen kann man auch die häufig fehlende Teilhabe an der Gesellschaft betrachten. Wenn das Geld nicht da ist, fällt der Kino- oder Restaurantbesuch mit Freund:innen ins Wasser. Oft verlieren Menschen so auch ihren Freundeskreis. In dem Fall spricht man dann von Teilhabearmut.

Warum gibt es diese Scripted-Reality-Formate, in denen Armut thematisiert wird?

Die Reality-Formate, in denen Menschen und Familien „live“ gezeigt werden existieren vor allem, weil sie billig sind. Das war die ursprüngliche Idee. Als man dann sah, dass vieles nicht spannend genug war, wurden daraus die Drehbuch-Dokus, die so genannte Scripted Reality. Dabei handelt es sich nicht um eine Realität mit Drehbuch, sondern eine Realität nach Drehbuch. Den Menschen werden Worte und Konflikte in den Mund gelegt. In diesem Umfeld gibt es auch einen Kampf um Wahrheit: Die Produzenten und Sender geben nur ungern zu, dass die Geschichten zugespitzt bzw. erfunden sind.

Welches Bild von Armut entsteht dabei?

Ein Bild der Extreme: Arme sind bildungsfern, sie erziehen ihre Kinder nicht und sie bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe. Vermittelt wird, dass Armut selbstverschuldet ist: Arme wollen schließlich nicht arbeiten und sind deshalb arm.

Diesem Bild begegnen wir in der Politik wieder.

Ja, für den politischen Diskurs ist der Unterschied wichtig: Die einen leisten, und dürfen dafür nicht zu stark besteuert werden, und die anderen leisten nicht. Die Differenz von den Lebensrealitäten wird damit legitimiert. In politischen Diskussionen wird die Armut häufig dann eingebracht, wenn es um Leistung geht. Das ist zuletzt auch bei der Burgerempfehlung des Bundeskanzlers in der Weinbar passiert.

Bildungsarmut wird häufig thematisiert. Ist sie ein Problem von Menschen die materiell arm sind?

Bildungsarmut ist in Österreich nicht nur häufig eine Ursache von Armut, sondern auch eine Folge von materieller Armut. Die Schule und die staatlichen Institutionen schaffen es in den deutschsprachigen Ländern schlecht, den Einfluss des Elternhauses auf die Bildungslaufbahn ihrer Kinder abzufedern. Das liegt mitunter am frühen Übergang in verschiedene Schultypen, aber auch an der Unterscheidung zwischen akademischer und handwerklicher Bildung. In vielen anderen Ländern, wie beispielsweise in Schweden, gibt es hier gerechtere Systeme.

Welches Publikum ziehen die Scripted-Reality-Formate an?

Diese Sendungen richten sich an 15- bis 20-Jährige, die häufig – auch bedingt durch viel zu kurze und kleine Hinweise – nicht verstehen, dass es sich um Scripted Reality handelt. Es werden ja auch bewusst Tricks wie eine wackelige Kameraführung, schlechter Ton und Sätze mit vielen „Ähs“ eingesetzt, um Authentizität vorzutäuschen. Jugendliche nutzen das in der Phase der Identitätsbildung häufig als Abgrenzung: „Schau, die sind ja total panne, und ich bin nicht so.“ Wir können runterblicken und ziehen uns dabei hoch, auch wenn wir selbest nicht gerade die besten Schüler:innen auf den besten Schulen sind. Sie erlernen mit diesen Sendungen gewissermaßen die soziale Ausgrenzung.

Wie schätzen die vermeintlich Portraitierten ihre Fernsehauftritte selbst ein?

Einige Sendungen beziehen sich ganz konkret auf bestimmte Problemviertel. Ein Bekannter von mir hat in so einem Viertel dann auch die Menschen befragt, wie sie dazu stehen, wie über ihr Viertel berichtet wird. Diese sind mitunter schockiert; auch deren Lebensraum wird dadurch abgewertet. In Summe ist das ein sehr bitteres Geschäft. Unter den Folgen leiden letztlich auch die Menschen, die dort leben, selbst wenn die Darsteller bzw. Darstellerinnen kurzfristig positiv einschätzen, dass sie im Fernsehen wie eine Art Schauspieler auftreten.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Im Kurs „Armut – Armutsdiskurse – Armutsbekämpfung“ haben wir die Situation mit Studierenden gemeinsam analysiert und uns auch angeschaut, wie man im Kontext von Sozialarbeit, in Jugendzentren oder Betreuungseinrichtungen, mit den Jugendlichen über diese Formate sprechen kann. Dabei sollen Folgen, aber auch die Produktionslogiken dieser Sendungen, thematisiert werden.

Wie wird abseits dieser Formate in der Öffentlichkeit über Armut gesprochen?

In Österreich ist es die Armutskonferenz, die immer wieder deutlich auf die strukturellen Probleme hinweist. Dabei kann es – auch anhand von Einzelfalldarstellungen – gelingen, den biographischen Bogen zu spannen: Wie kommt jemand in diese Situation? Welche Verkettungen von Ereignissen kommen häufig vor und was sind die dahinterstehenden strukturellen Probleme? Es täte uns allen gut, wenn diese strukturelle Dimension stärker in den Mittelpunkt rücken würde, um ein realistischeres Bild von Armut zu gewinnen.

 

Zur Person



Alban Knecht ist Postdoc-Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung im Arbeitsbereich für Sozialpädagogik und Inklusionsforschung. Er beschäftigt sich insbesondere mit sozialer Ungleichheit, Armutsforschung und Sozialpolitik. Seine Habilitation verfasst er zur Beschäftigungsförderung von benachteiligten Jugendlichen.