Corona zeigt das Primat der Zahlen

Wissenschaft scheint aktuell medial allgegenwärtig. Claudia Brunner gibt dazu zu bedenken, dass vorwiegend ein bestimmter Wissensbestand, nämlich ein kleiner Teil eines naturwissenschaftlichen, englischsprachigen Kanons, sichtbar wird. Sie hat in einem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Habilitationsprojekt zum Thema „epistemische Gewalt“ unbequeme Fragen zu einem aufgeklärt-emanzipatorischen Selbstverständnis wissenschaftlicher Wissensproduktion gestellt und hat ihre Erkenntnisse dazu jüngst in Buchform veröffentlicht. Mit uns hat sie über die Repräsentation von Wissen im aktuellen Corona-Diskurs gesprochen.

Das Interview wurde am 24. April 2020 geführt und am 28. April 2020 veröffentlicht.

Alle Welt wartet täglich auf neue Erkenntnisse zur Verbreitung und Eindämmung des Coronavirus. Was lernen wir in der aktuellen Ausnahmesituation über die Produktion von Wissen?

Wir lernen, dass ganz bestimmtes Wissen wie selbstverständlich gilt, und anderes Wissen gar nicht auftaucht. Die sogenannte Coronakrise macht deutlich, was – auch in der Wissenschaft – dem Mainstream angehört und was marginalisiert ist. Wir sehen, dass das Primat der Zahlen vorherrschend ist. Es ist ein naturwissenschaftliches Paradigma, das sich quasi pars pro toto für die Wissenschaft präsentiert. Monodisziplinarität dominiert den Diskurs, wissenschaftliche Vielfalt und Kontroverse werden vereindeutigt, auch, um zunehmend autoritäre politische Verhältnisse zu stützen.

Nehmen wir als Beispiel die in Deutschland stark präsenten Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck. Ihre Einschätzungen decken sich in vielen Bereichen, in anderen widersprechen sie einander. Gleichzeitig haben beide betont, dass Widerspruch in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches sei und dass man die Arbeit des jeweils anderen sehr schätze. Dennoch sehnen sich die Menschen nach mehr Klarheit: Es soll entweder Drosten oder Streeck recht behalten. Ist den Menschen wissenschaftliche Uneindeutigkeit überhaupt zuzumuten?

Ich denke tatsächlich, dass es in einer von Angst dominierten Öffentlichkeit noch schwerer als sonst auszuhalten ist, dass es auch in der Wissenschaft eine Diversität von Standpunkten und auch tatsächlich viel Nichtwissen gibt. Gewünscht ist die vermeintlich objektive, eindeutige Expertise, die aber nicht notwendigerweise neutral oder unbedingt richtig ist. Die Vorherrschaft bestimmter Disziplinen und Standpunkte tut der Vielfalt der Wissenschaft momentan nicht gut. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einem radikal schrumpfenden Demokratieverständnis, wo Erlässe und Verordnungen das Ringen um Konsens ersetzen – und wir alle uns, gewissermaßen entlang eines „virologischen Imperativs“ daran zu gewöhnen scheinen.

Welches Wissen ist Ihrer Wahrnehmung nach aktuell marginalisiert?

Blicken wir auf die Diagramme, die wir derzeit überall zu sehen bekommen. Da gibt es den Strich, der die Intensivbettenanzahl abbildet. Zu Beginn der Coronakrise, und genährt von Bildern des realen Schreckens etwa aus Italien, wurde dieser Faktor wie ein unveränderbares Naturphänomen betrachtet: Diese Grenze dürfen wir nicht überschreiten. Nicht diskutiert wurde, dass neoliberale Austeritätspolitiken in Europa und weltweit dazu geführt haben, dass der Gesundheits- wie auch der Bildungsbereich insgesamt ausgehungert wurden, um Profite und Renditen für Wenige anstatt Nutzen für Viele zu schaffen Diese Politiken sind ebenfalls keine Naturgewalt, sondern ganz im Sinne spezifischer Interessen und Akteur*innen.

Welche Disziplinen finden in der öffentlichen Debatte zu wenig Raum?

Langsam wird allen klar, dass wir vor einer massiven Wirtschaftskrise stehen, deshalb werden nun auch zunehmend die Ökonom*innen gehört. Die gesamte Frage der sozialen Verwerfungen, vor allem auch im globalen Kontext, ist in den öffentlichen Debatten, in denen es um Wissenschaft geht, völlig ausgeklammert. Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen werden nur mit Behübschungszusatzwissen wahrgenommen, oder dann, wenn sie der autoritären Wende das Wort reden.

Sie kritisieren das Primat der Zahlen in der aktuellen Diskussion. Warum?

Weil nicht diskutiert wird, wie diese Zahlen überhaupt zustande kommen, was sie verbergen, und nicht zuletzt, wer ihre Berechnung in Auftrag gibt. Mit methodologischer Reflexion könnte man Herrschaftskritik üben; das findet aber nicht statt. Stattdessen wird uns suggeriert, dass völlig klar wäre, wie welche Studien entstehen und was sie aussagen. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Methoden operiert wird, die Zahlen also kaum vergleichbar sind. Die Zahlen sind aber die Basis für weitreichende politische Beschlüsse, die unser aller Alltag bestimmen – und auch nachhaltig verändern werden.

Trauen wir allen Zahlen gleichermaßen?

Nein, Studien etwa aus China oder Zahlen aus dem Iran werden mit Argwohn betrachtet, gleichzeitig blicken wir mitunter anerkennend gerade auf China, das mit starker Hand das Virus vorerst unter Kontrolle gebracht hat. Plötzlich sind auch hierzulande Überwachungsapps auf unseren Smartphones denkbar, für deren Einsatz wir China noch vor wenigen Wochen verurteilt hätten.

Ist die internationale Scientific Community kein unpolitischer Raum? Wenn ich mir jetzt einen internationalen Virologie-Kongress vorstelle, begegnet man sich da nicht ebenbürtig?

Ich war zwar noch nie auf einem Virologie-Kongress, aber ich denke nicht, dass man davon ausgehen kann. Wissenschaft ist Teil von globalen Herrschaftsverhältnissen. Ich habe mich in meiner Arbeit damit auseinandergesetzt, was dominante und marginalisierte Wissensformen sind – und wie Wissen und Gewalt zusammenhängen. Da gibt es Autor*innen, die von einer epistemischen Monokultur sprechen. Diese bezeichnet nicht nur die Durchsetzung von Englisch als einzig gültiger Wissenschaftssprache, sondern auch bestimmte Arten und Weisen des Wissens, die überhaupt als anerkannt und legitim gelten. Andere Wissensformen werden nicht wahrgenommen, für irrelevant oder unwissenschaftlich erklärt. Gehandelt wird zudem auch mit symbolischem Kapital: Wer an einer renommierten Universität forscht, wird mehr gesehen und gehört als jemand, der von einer kleinen Einrichtung kommt. Viele Vorschusslorbeeren werden an vermeintliche Insignien der Intelligenz gehängt.

Der afrikanische Kontinent, der wohl mehr Erfahrung mit Seuchenbekämpfung hat als die meisten anderen Gebiete dieser Welt, beheimatet weniger international hoch anerkannte Universitäten als andere Kontinente. Dennoch wäre es aktuell doch sinnvoll, wenn dieses Wissen weitere Verbreitung fände, oder?

Ja, aber es ist zu vermuten, dass dieses Wissen kaum verbreitet wird. Um mit Wissen sichtbar zu werden, müssen zahlreiche soziale und epistemische Schwellen überwunden werden, und dafür ist häufig das symbolische Kapital, das in den westlichen Ländern der Nordhalbkugel verhandelt wird, entscheidend, und nicht unbedingt der Inhalt. Der Kanon ist ein euro-amerikanischer, englischsprachiger, der bestimmten Regeln des Wissenschaftsbetriebs sowie zunehmend auch großer Verlagskonzerne und einem immer stärker kommodifzierten Bildungssektor zu entsprechen hat. Im globalen Maßstab sind diese alles andere als demokratisch organisiert.

Warum sind die Herrschaftsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb so gestaltet?

Wissenschaften haben sich in Nationalstaaten entwickelt, die wiederum im Kontext von Kapitalismus und Kolonialismus stehen. Es wäre absurd zu glauben, dass Wissenschaften nach anderen Kriterien funktionieren als die Welt insgesamt. Nach 500 Jahren Kolonialgeschichte und vollständig durchgesetztem kapitalistischem Weltsystem haben wir nun – wenig überraschend – ein naturwissenschaftliches, englischsprachiges Paradigma, das dominiert. Setzt man sich mit epistemischer Gewalt auseinander, ist der Begriff der kolonialen Moderne zentral: Dabei geht man davon aus, dass die Welt wie sie ist, entlang von einem Abgrund organisiert ist. Die Verteilung von Arbeit und Ressourcen ist von Rassismus und Sexismus geprägt. Das sehen wir, wenn wir momentan zum Beispiel schmerzlich zu spüren bekommen, wer unsere Alten pflegt, und auch in jedem anderen Tätigkeitsfeld. Wessen Wissen und welches Wissen wird gehört? Und wer verrichtet die gefährlichsten, anstrengendsten und am schlechtesten entlohnten und gewürdigten Arbeiten? Die globale Ungleichverteilung wird heute sichtbarer denn je, sie hat mit unserer kolonialen Vergangenheit und kapitalistischen Gegenwart zu tun, die wiederum mit unseren Wissenschaften verstrickt ist. Am Beispiel der heiß ersehnten Impfung werden wir sehen: An wem wird getestet? Wem wird der Impfstoff wann zugänglich gemacht? Wer wird dafür bezahlen? Wer wird davon profitieren?

Können Sie aus der gegenwärtigen Situation etwas Positives für die Wissenschaftswelt ablesen?

Bolsonaro, Johnson oder Trump haben sich jüngst noch mit der Verleugnung des Virus beschäftigt. Mittlerweile kommen sie damit jedoch sogar an ihre eigenen Grenzen. Man könnte also hoffen, dass Wissenschaft künftig mehr Anerkennung findet. Ich bin da aber nicht ganz so optimistisch, da es ja – wie bereits ausgeführt – nur spezifische Wissenschaftsformen sind, die in den Genuss kommen, politisch relevant zu werden. Vielleicht bietet uns die aktuelle Situation aber die Chance, dass die sogenannte Third Mission der Wissenschaften mehr wertgeschätzt wird. Doch auch die ist neu zu denken, nämlich als Interaktion von Wissenschaft und Gesellschaft, deren Teil sie ist, und nicht lediglich als Intervention von oben nach unten. Das jedoch stellt den Prototyp des allwissenden, vorzugsweise euro-amerikanischen Experten, selten wird dieser von Frauen oder Menschen aus anderen Kontinenten verkörpert, infrage.

Zur Person

Claudia Brunner ist assoziierte Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Universität Klagenfurt. Seit April 2015 hat sie eine Elise-Richter Stelle des FWF (Wissenschaftsfonds der Republik Österreich) inne und arbeitete bis Jänner 2020 am Standort Wien der Universität Klagenfurt daran. Im Dezember 2019 hat sie nach erfolgreicher Habilitation an der Fakultät für Sozialwissenschaften die Venia Docendi für das Fach Politikwissenschaft an der Universität Wien erhalten.

Claudia Brunner (2015) | Foto photo riccio

Zum Buch

Was hat Wissen nicht nur mit Macht, sondern auch mit Gewalt und Herrschaft zu tun? Dient das eine nur zur Rechtfertigung des anderen? Oder liegt das Problem tiefer, in unserem Wissen selbst begründet? Und wenn ja, warum ist das so? Und was bedeutet dies für die Wissenschaften? Die Sozialwissenschaftlerin und Friedensforscherin Claudia Brunner legt mit ihrem aktuellen Buch eine transdisziplinäre Theoretisierung des Konzepts epistemische Gewalt vor, entlang dessen diese Fragen diskutiert werden.

Im Rahmen ihres vom Wissenschaftsfonds der Republik Österreich (FWF) geförderten Habilitationsprojekts, dessen Anfänge bereits mit dem Caroline Humboldt Preis der Humboldt-Universität zu Berlin ausgezeichnet und dessen Ergebnisse an der Universität Wien verteidigt wurden, stellt die Autorin unbequeme Fragen zum aufgeklärt-emanzipatorischen Selbstverständnis wissenschaftlicher Wissensproduktion.

Ausgehend von post- und dekolonialer sowie feministischer Theorie verbindet sie kritische Perspektiven auf den Zusammenhang von Wissens- und Gewaltverhältnissen entlang des noch wenig bekannten Konzepts epistemische Gewalt mit anderen weiten Gewaltbegriffen. In den Werken von Johan Galtung (strukturelle und kulturelle Gewalt), Pierre Bourdieu (symbolische Gewalt) und Judith Butler (normative Gewalt) lotet sie die Dimension des Epistemischen vor dem Hintergrund der sogenannten kolonialen Moderne aus. Diese kritische Relektüre mehr oder weniger kanonisierter Autor*innen verschränkt sie mit einer facettenreichen Spurensuche nach Konzeptionen epistemischer Gewalt in unterschiedlichen Debattenfeldern der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die in konventioneller Gewaltforschung weitgehend marginalisiert sind.

„Gewalt ist nicht nur anderswo, anderswer und anderswas“, kritisiert Brunner das weit verbreitete Credo der Moderne. Epistemische Gewalt liegt tief in den Prämissen einer euro-und androzentrischen Wissenschaft begründet. Sie ist mit anderen, auch ganz direkten und physischen, Formen von Gewalt eng verbunden. Und Gewalt war und ist nie nur Ereignis, sondern auch Prozess und Verhältnis. Sie umfasst die Zerstörung von Ordnung ebenso wie deren Begründung.

Um dies zu zeigen, verortet Brunner ihre theoretische Grundlagenforschung mit dem Konzept der bis heute anhaltenden Kolonialität von Macht, Wissen und Sein. Deren epistemische und politische Voraussetzungen reichen in die 500jährige Geschichte der weltweiten kolonialen Expansion Europas zurück. Die Konsequenzen dieser Kolonialität prägen globale Ungleichheits-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse bis heute. Diese herauszufordern und überwinden zu lernen, bedarf eines beständigen Ringens um Gewaltfreiheit, das seine eigene Verortung auf dem gewaltförmigen epistemischen Territorium der Moderne nicht weiter leugnet.

Weiterführende Informationen zum Arbeitsschwerpunkt der Autorin siehe www.epistemicviolence.info

Brunner, Claudia (2020). Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript, Edition Politik (auch open access)