„Die Antwort muss meines Erachtens das Handeln sein, am besten gemeinsames Handeln.“

Die in Klagenfurt forschende und lehrende Philosophin Alice Pechriggl hat kürzlich ein Buch zu „Cornelius Castoriadis. Denker der Revolution – Revolution des Denkens“ vorgelegt. Aus Anlass des 100-jährigen Geburtstags des griechisch-französischen Philosophen, politischen Theoretikers und Psychoanalytikers beschäftigt sie sich mit seinem lebenslangen Einsatz für Autonomie, radikale Demokratie und die Überwindung des Kapitalismus.

Castoriadis war ein politischer Philosoph. Er trat für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen des Planeten sowie eine Begrenzung von Technologie und Produktion ein. 1997 ist Castoriadis gestorben. Seither hat sich die Welt nicht in diese intendierte Richtung entwickelt, oder?

Schon seit den 1970er Jahren hat sich Cornelius Castoriadis dafür engagiert. Wir sehen, dass genau das Gegenteil geschehen ist. Wachstum und Überproduktion werden weiterhin beschwört, auf unseren Straßen rollen die Waren und Güter frei in einem bisher nicht gekannten Ausmaß durch Europa. Wir zerstören tagtäglich die Natur. Castoriadis war schon vor fünfzig Jahren klar, dass diese Entwicklung in einen Abgrund führt. Heute sehen wir, dass viele Folgen nicht mehr umkehrbar sind.

Zu sagen was ist | Foto: David Schreyer

Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat (Rosa Luxemburg) | Foto: David Schreyer

Was brauchen wir? Eine Revolution?

Wir befinden uns mitten in einer Revolution, die aber nicht mehr gestaltbar ist, sondern uns überrollt. Viele Entwicklungen sind tragisch. Es sind nicht die Prinzipien des Gemeinwohls und des Wohlergehens der folgenden Generationen, die hoch im Kurs stehen.

Von wem kann in so einem System der Wandel ausgehen?

Cornelius Castoriadis war Radikaldemokrat. Er vertrat die Auffassung, dass es nicht ein*e Einzelne*r sein kann, der*die eine solche Veränderung gestalten kann. Er trat für eine partizipative, radikalere Demokratie ein, die sich von der oligarchischen Struktur der repräsentativen Demokratie abgrenzt. Das repräsentativ-demokratische System fußt auf den Parteien und ihren Kadern. Wir nehmen an, dass die Parteien bestimmte Ideen und Interessen repräsentieren, die sie dann – nach Wahlen gestärkt oder geschwächt – in die Parlamente einbringen. Das System funktioniert in dieser Weise aber nicht mehr, weil die Parteien hauptsächlich ihre eigenen Eliten, nicht einmal mehr ihre Klientele bedienen, und nur auf die Wiederwahl schielen, somit immer mehr das Gemeinwohl und erst recht die zukünftigen Generationen aus den Augen verlieren.

Was brauchen wir für eine partizipative, radikale Demokratie?

Schon Castoriadis hat eine Depolitisierung der Menschen wahrgenommen. Der Konsum und das Streben nach unaufhörlichem Wachstum machen uns apathisch. Sie üben eine anästhesierende Wirkung auf die Bürger*innen aus. Inmitten des Systems gewinnt man schnell den Eindruck, dass man nichts ausrichten kann. Veränderung kann aber nur von unten kommen, wie wir das beispielsweise mit der Fridays-for-Future-Bewegung sehen. In Frankreich gibt es auf Basis von solchen Bewegungen aktuell auch die Tendenz, ökologische und radikaldemokratische Aspekte im Staat zu verankern. Der Klimarat etwa, er kommt aus der Gelbwestenbewegung.

Wie genau kann man sich ein radikaldemokratisches System vorstellen?

In so einem System sind nicht mehr Parteien alleinherrschende Instanzen. Die Mitbestimmung geschieht nicht nur alle vier bis fünf Jahre mittels Wahlzettel, sondern es werden auf allen Ebenen demokratische Entscheidungsprozesse verankert. Blicken wir auf die Universitäten: Sie sind autonom und wählen ihren Senat. Eine Universität regiert sich zu einem gewissen Grad selbst. Ähnlich hat sich das Castoriadis auch auf betrieblicher Ebene vorgestellt. Dass sich das mit den kapitalistischen Prinzipien von Konzernen nicht verträgt, liegt auf der Hand.

Welche Prinzipien brauchen wir in einer Radikaldemokratie?

Eine zentrale Rolle nimmt das Rotationsprinzip ein, das schon in Aristoteles‘ Analyse der Demokratie betont wurde: Man muss einander in den Positionen abwechseln, denn es können natürlich nicht immer alle gleichzeitig regieren; die politische Tugend definiert er als die Fähigkeit abwechselnd zu regieren und regiert zu werden. Gerade Regierende müssen außerdem jederzeit absetzbar sein, wenn sie sich nicht an die Gesetze halten. Wenn heute jemand wegen eines Vergehens abgesetzt wird, schreien seine Parteigänger*innen „Putsch!“. Das ist lachhaft und zeigt, wie weit deren Gesinnung von der Demokratie entfernt ist.

Gibt es Bereiche, in denen radikaldemokratische Ansätze auch bei uns gelebt werden?

Der bekannteste Bereich ist die Schöffengerichtsbarkeit. Menschen ohne professionellen Bezug zur Rechtsprechung werden damit betraut, sich mit ihrer Urteilskraft an den Verfahren zu beteiligen. Daran wird auch festgehalten. Oder Bürgerräte in Bereichen der Stadtplanung sind ein weiteres Beispiel.

Hatte Castoriadis noch Hoffnung für die Menschheit?

Am Ende hatte er wenig Hoffnung, aber er gab sie nie ganz auf.

Bleibt uns als Menschen also nur die Depression?

Die Antwort muss meines Erachtens das Handeln sein, am besten gemeinsames Handeln. Die Apathie macht uns noch ohnmächtiger und hilfloser, das schlägt sich dann auch auf die Psychen der nächsten Generation. Jede*r soll dort handeln, wo er*sie kann. Wir machen das beispielsweise mit der Reihe „Lectures for Future“ an der Universität, aber es gibt unzählige Möglichkeiten, sich an der Eindämmung der Klimakatastrophe zu beteiligen.

Aktuell sind wir, getrieben vom Krieg, eher zum Maßhalten aufgefordert. Sind wir Menschen dafür gemacht?

Es ist erschreckend, dass uns erst jetzt dieser Krieg zum Energiesparen zwingt. Warum hat sich die EU, die westliche Welt nicht schon vor 30 Jahren dazu entschieden und stattdessen die Ökologiebewegung diffamiert? Wir sehen, dass der Mensch wohl nicht zum Maßhalten, sondern eher zur Hybris tendiert. Das Maßhalten ist ein Entwurf, oder ein Vorhaben. Der Hang zum Übermaß ist im modernen Menschen weitgehend unreflektiert geblieben. Sein technischer Allmachbarkeitsglaube ist eines, das andere ist, dass wir die Technik brauchen, um aus den aktuellen Schwierigkeiten herauszukommen. Aber: Jede neue Technik zieht Folgen nach sich, die nicht gewollt, ja katastrophal sind. Wir haben also Handlungsspielraum, müssen aber die Auswirkungen auf vielen Ebenen mitdenken und entsprechend begrenzen. „Selbstbestimmung ist auch Selbstbegrenzung“, das war ein oft wiederholter Satz von Castoriadis, der mir gefällt.

Buchcover Cornelius Castoriadis

Zum Buch:
Alice Pechriggl (2022).
Cornelius Castoriadis. Denker der Revolution – Revolution des Denkens.
Bielefeld: transkript.

Zur Person


Alice Pechriggl ist seit 2003 Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie. Sie war unter anderem Gastprofessorin an der Universität Paris I (Sorbonne), am Gender-Kolleg für Doktoratsstudien an der Universität Wien und am Institut d’Etudes Européennes an der Université Paris VIII (St. Denis). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der philosophischen Anthropologie, der Kulturphilosophie und der Philosophie der Politik. Bei Castoriadis schrieb sie in den 1990er-Jahren an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris eine PhD-Arbeit.



Alice Pechriggl | Foto: K.H. Fessl (Eröffnung der Ausstellung von Ruth Hanko)