Journalismus muss abholen

Der gesellschaftliche Diskurs verschärft und radikalisiert sich zunehmend. Doch warum gelingt es den demokratiegefährdenden Strömungen besser, Menschen abzuholen, als jenen, die Demokratie fördern möchten?

„Forschungen auf Basis der europaweiten Daten des Eurobarometer zeigen, dass Menschen, die besonders intensiv in den Sozialen Medien aktiv sind, auch solche sind, die eher bereit sind, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren“, erzählt uns Josef Seethaler. Er ist Medienwissenschaftler am Institut für Vergleichende Medien- und Kommunikationswissenschaften, das gleichermaßen der Universität Klagenfurt wie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angehört. Dieses potenzielle Engagement will er vorerst wertfrei gesehen wissen. Im Wesentlichen stünden diesen Menschen zwei Wege offen: Sie könnten sich demokratieförderlichen oder demokratiegefährdenden Gemeinschaften anschließen.

Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit wie der Sturm auf das US-amerikanische Kapitol oder auch die Anti-Corona-Demonstrationen zeigen: Den radikalen Kräften gelingt es offenbar besser, diese Menschen abzuholen und in ihre Aktivitäten einzubinden. In den Thesen von Josef Seethaler hätten auch die Medien als wichtige Akteurinnen in einer Demokratie die Aufgabe, Anlaufpunkte für dieses Engagement zu sein. In Österreich seien für ihn beispielsweise die Einschränkungen für den ORF, in den Sozialen Medien aktiv zu sein, in dieser Frage „eine demokratiepolitische Katastrophe“.

„Der Journalismus muss sein Selbstverständnis und seine Zielorientierung den veränderten Mediennutzungsbedingungen anpassen.“
(Josef Seethaler)

Ein Großteil der Menschen in Österreich wünscht sich eine aktivere Beteiligung an demokratischen Prozessen. Damit verändert sich auch die Mediennutzung. Wir bräuchten, so Seethaler, einen „partizipatorischen Journalismus“: „Der Journalismus muss sein Selbstverständnis und seine Zielorientierung den veränderten Mediennutzungsbedingungen anpassen“, erläutert er weiter.

Medien haben generell zwei Funktionen: Sie müssen informieren und Ereignisse in größere Kontexte einordnen. Gleichzeitig sollten sie aber Informationen so präsentieren, dass sie die Mediennutzer*innen sinnvoll in ihre Lebenszusammenhänge einbinden können. Josef Seethaler nennt als Beispiel die Coronakrise und verweist darauf, dass am Höhepunkt der zweiten Welle im November/Dezember 2020 rund 40 Prozent der Menschen die Maßnahmen gegen die Pandemie übertrieben fanden. „Wir bekommen täglich Infektionszahlen präsentiert. Es ist den Medien aber nur partiell gelungen zu erklären, dass die aktuelle Gesundheitskrise jeden und jede betrifft und wir alle – und nicht bloß die Politik – für ihre Bewältigung verantwortlich sind.“

Hier gäbe es viel Nachholbedarf. Josef Seethaler fordert dazu: „Medien sollen sich selbst als Teil der Zivilgesellschaft begreifen.“ Gemeint sei damit nicht, die Menschen in mehr oder minder moderierten Foren aufeinander losgehen zu lassen, sondern beispielsweise lokal oder regional Möglichkeiten aufzuzeigen, wie und wo sich Menschen vernetzen und engagieren können, beispielsweise bei NGOs. Als positives Beispiel nennt er nicht-kommerzielle Angebote wie Radio Agora in Kärnten. Auch traditionelle Medien würden in Ansätzen Bemühungen in diese Richtung betreiben, aber: „All dies muss auch medienpolitische Unterstützung beispielsweise durch Förderungen erfahren.“

für ad astra: Romy Müller