„Eine Entscheidung könnte immer auch falsch sein.“

Die Pandemie stellt unsere Gesellschaft vor schwierige Fragen, über die zu entscheiden ist: Welches Leben ist mit welchem Aufwand zu schützen? Wie sehr kann man die Freiheit des Einzelnen einschränken? Und kann man jemanden zu seinem (Impf-)Glück zwingen? Wir haben mit dem Philosophen Martin Weiss über Entscheidungen und Ethik gesprochen.

Die Pandemie kam für die meisten von uns unvorhersehbar. Inwiefern ist das relevant für die Entscheidungen, die wir in der Pandemie treffen?
Wir haben bis vor kurzem in einer Gesellschaft gelebt, in der wir uns eingeredet haben, wir hätten die absolute Kontrolle über unser Leben. Damit seien wir auch für alles verantwortlich, beispielsweise ob wir reich oder arm oder ob wir erfolgreich oder erfolglos sind. In dieser Situation müssen wir Entscheidungen treffen. Diese sind aber per se unvorhersehbar und häufig „unbegründet“ im Sinne von nicht notwendig ableitbar aus Prämissen. Entscheidung hat immer mit Freiheit zu tun. Wenn ich mich für etwas entscheide, dann bedeutet das, dass ich immer auch anders entscheiden hätte können. Weil ich eine Entscheidung nicht letztbegründen kann, könnte sie immer auch falsch sein.

Wir bewegen uns also auf unsicherem Terrain, oder?
Ja, von dieser Annahme ausgehend, kann man auch niemals eine Richter*in durch einen Computer ersetzen. Ethische Entscheidungen kann man nicht algorithmisieren. Man wird auf Basis der gleichen Fakten mal zu dieser Entscheidung, mal zu einer anderen kommen. Herausfordernd ist, dass wir in unserem Denken meist mit Allgemeinbegriffen hantieren, aber bei ethischen und juridischen Entscheidungen immer einen Einzelfall behandeln. Dem Einzelnen kann ich aber nicht mit einer allgemeinen Regel gerecht werden.

Die Politik argumentiert in der aktuellen Krise häufig mit einer Güterabwägung: Da ist der Schutz der Gesundheit auf der einen Seite und die Freiheit, das Bedürfnis nach sozialer Interaktion oder der Bedarf wirtschaftlicher Aktivität auf der anderen Seite. Darf man das gegeneinander aufwiegen?
Nehmen wir das Deutsche Grundgesetz, wo ganz zu Beginn festgelegt ist, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Diese Position geht auf Immanuel Kant zurück. In der Corona-Debatte prallt dieses Prinzip auf den Utilitarismus, also „dem größten Glück der größten Zahl“. Um ethische Fragen zu illustrieren, beziehen wir uns häufig auf das Beispiel des entführten Passagierflugzeugs, das auf ein Atomkraftwerk zugesteuert wird. Darf man das Flugzeug abschießen und damit wenige Menschenleben beenden, um dafür das Leben vieler zu retten? In Deutschland hat man festgestellt, dass man das nicht dürfe. Auch wenn man sagt, die Passagier*innen hätten nur noch eine halbe Stunde Zeit zu leben, dürfe die Lebenserwartung kein Argument dafür sein, um deren Würde zu verletzen und sie zu töten. Ähnlich ist es wohl auch in der Corona-Krise.

Andernorts, wie beispielsweise in Schweden, ist man aber einen anderen Weg gegangen.
Der Vorteil des Utilitarismus ist es, praktischer zu sein. Der Deutsche Ethikrat sagt daher, dass man zwar häufig von utilitaristischen Überlegungen ausgehe, aber diese haben dann eine „deontologische Einhegung“. Diese Grenze wäre da erreicht, wo die Menschenwürde angegriffen wird.

Andere sagen, die Menschenwürde wäre gefährdet, wenn Menschen in Altenheimen abgeschottet werden. Welches Argument hat die Ethik hierfür?
Ja, es geht uns nicht nur um das bloße Leben, sondern – auch schon bei Aristoteles und Platon – um das gute Leben. Gesundes Leben ist die Voraussetzung eines guten Lebens, aber sie kann nicht das einzige Ziel unseres Lebens sein. Deshalb sind die Fragen nach einem guten Leben in unseren Entscheidungen mit zu behandeln.

Wenn zu meinem guten Leben dazu gehört, in vollen Clubs zu tanzen, lebe ich momentan aber massiv eingeschränkt.
In liberalen Demokratien haben wir uns darauf verständigt, dass jeder für sich selber entscheiden kann, was das gute Leben ist. Die einzige gerechtfertigte Einschränkung meiner Freiheit ist der Bereich, wo ein anderer durch mein Verhalten Schaden nimmt. In einer Pandemie kann ich relativ rasch andere gefährden, etwa indem ich keine Maske aufsetze, Partys feiere oder vielleicht auch, indem ich mich nicht impfen lasse. Mit unseren Gesetzen und Verordnungen verbieten wir den Menschen momentan, sich selber zu gefährden, um unser Gesundheitssystem – und damit wiederum andere – zu schützen.

Kann ich jemals das Gute tun und mich dennoch frei fühlen?
Kant sagt, alle vernunftbegabten Lebewesen haben die Einsicht in den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Sein-Sollendem und Nicht-Sein-Sollendem. Diese Einsicht ist gleichbedeutend mit der Einsicht in die eigene Freiheit: Wenn ich den kategorischen Imperativ, also den Befehl als solchen erkenne, habe ich mich schon als „frei“ erkannt. Ich kann wissen, was das Gute ist, und trotzdem das Böse tun.

Ein Schlagwort, das häufig fällt, ist die Verhältnismäßigkeit. Wer kann darüber entscheiden, was verhältnismäßig ist?
In der Demokratie ist es das Parlament, wobei ich betonen möchte: Das sind nicht „die“ Politiker*innen, sondern „unsere“ Regierung, die „wir“ gewählt haben. In einer Demokratie müssen wir in einem öffentlichen Diskurs ausverhandeln, welche Maßnahmen verhältnismäßig sind. Die Antworten kann Ihnen kein Ethiker geben, sondern die Gemeinschaft muss darüber Konsens erzielen.

Diese Gemeinschaft gerät aber zunehmend in Gefahr, auseinander zu driften. Die Menschen bewegen sich in den Sozialen Medien in Blasen, in denen sie sich in ihrer Version der Realität bestärken. Dazu zählen auch viele Verschwörungstheorien. Wie fatal ist dieser Prozess für unsere Gesellschaft?
Hegel schreibt sinngemäß: Wenn eine Behauptung gegen die andere steht, und wenn wir nicht mehr argumentieren, dann bleibt nur noch Gewalt. Verschwörungstheorien sind ähnlich wie Ideen im religiösen Fanatismus so aufgebaut, dass man sie nicht widerlegen kann. Es gibt die These, dass Verschwörungstheoretiker*innen davon ausgehen, dass das Leben absolut kontrollierbar sei. Die Kontrolle läge nur nicht in ihren eigenen Händen, sondern bei den Mächtigen und Bösen, die die Welt beherrschen. Sie projizieren also die Idee der absoluten Kontrolle des Subjekts auf jemanden anderen. Sie sitzen aber einem Irrtum auf: In Wirklichkeit ist es so, und damit komme ich zurück zum Anfang, dass wir unser Leben nicht beherrschen können.

 

Zur Person

Martin G. Weiss ist assoziierter Professor am Institut für Philosophie. Er hat an der Universität Wien studiert und promoviert. 2019 hat er an der Universität Klagenfurt im Fach Philosophie habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Italienische Philosophie, Bioethik, Wissenschaftsforschung, Ethik in der Medizinischen Biotechnologie, Technikphilosophie und Religionsphilosophie.

für ad astra: Annegret Landes