„Die Krise sind nicht die Menschen auf der Flucht.“

Die Omnipräsenz der Coronapandemie hat Themen wie Flucht und Migration aus der medialen Sichtbarkeit verschwinden lassen. Jedoch zwingen anhaltende Konflikte in Afghanistan, im Sudan, in Belarus oder entlang der ‚Balkanroute‘ täglich viele Menschen, ihre Heimatländer zu verlassen. Caroline Schmitt forscht zu Migration und Inklusion und hat mit ad astra über die aktuellen Spannungsfelder gesprochen.

Hat die Flüchtlingskrise 2015 Europa verändert?

Ich möchte eingangs etwas anmerken: Der Begriff ‚Flüchtlingskrise‘ hat sich sehr stark in der Debatte zu Fluchtmigration zementiert. Ich finde das problematisch. Das Problem sind nicht die Menschen, die fliehen müssen, sondern die Ursachen von Flucht wie Krieg, Verfolgung, Armut, Un- gleichheiten und zunehmend mehr auch Klimakatastrophen. Das bemerkenswerte am ‚langen Sommer der Migration‘ 2015 war, dass Menschen es geschafft haben, das Migrationsregime der EU parziell außer Kraft zu setzen und den schweren Weg nach Europa zu bewältigen. Die Paradoxie daran ist, dass sich Menschen auf einen lebensgefährlichen Weg begeben müssen, zum Beispiel über das Mittelmeer oder über die ‚Balkanroute‘, um Flüchtlingsschutz beantragen zu können. Ich vermute, viele haben noch Bilder und Erlebnisse aus diesem Sommer im Kopf – zum Beispiel von Bahnhöfen, an denen Menschen angekommen sind und mit Kleidung und Spielsachen empfangen wurden. Der Begriff der so genannten ‚Willkommenskultur‘ wurde geprägt und es herrschte eine Aufbruchstimmung, die mit vielen etwas gemacht hat.

Was genau hat sie mit uns gemacht?

Es gab viel Solidarisierung. Solidarität entsteht gerade dann, wenn Menschen soziale Ungleichheiten als zu groß empfinden. Man möchte das nicht mehr hinnehmen und kollektiv für eine Veränderung einstehen. Das wurde 2015 – auch durch die breite, mediale Berichterstattung – ganz stark sichtbar und spürbar. Menschen haben mit anderen mitgefühlt, die sie nicht kannten, mit Biografien, die ihnen nicht vertraut waren.

War das auch den großen Zahlen an ankommenden Menschen geschuldet?

In Österreich war es definitiv eine neue Situation. Viele jüngere Menschen hatten zum ersten Mal unmittelbar mit dem Thema Flucht zu tun; manche lebensältere Menschen erinnerten sich an eigene familiale Verwobenheiten. Man muss dazu sagen: Flucht ist ja keine neue Thematik. Die ganze Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte von Migration, Flucht und Vertreibung. Und dennoch hat sich die Lage 2015 durch Kriege und militärische Konflikte zugespitzt. Die Zahl der Menschen auf der Flucht hat sich in den letzten zehn Jahren auf über 80 Millionen verdoppelt.

Was ist von der „Willkommenskultur“ sieben Jahre später übriggeblieben?

Davon spricht im Moment kaum jemand. Abschottung ist das Thema der Stunde. Viele Projekte und Initiativen, die 2015 entstanden sind, haben sich zwar institutionalisiert, und es gibt auch weiterhin solidarisches Engagement, aber die EU ringt noch immer um Lösungen im Umgang mit Fluchtmigration. Zeitgleich sterben Menschen auf den Fluchtrouten, erleben Push- Backs und werden immobilisiert.

Europa und im Speziellen die EU sieht sich als Wertegemeinschaft, die für Frieden, Menschenrechte und Gleichstellung steht. Werden diese Werte bei der Diskussion um Fluchtthematiken ausgeklammert?

Es gibt zwar immer wieder den Aufruf an die humanitären Werte Europas und es werden Inklusionsdebatten geführt, aber viele Menschen sind davon exkludiert. Grund-, Menschen- und Kinderrechte werden nicht für alle Menschen umgesetzt. Damit kann sich Europa nicht zufriedengeben. Fluchtmigrationsprozesse machen diese Ungleichheiten sichtbar. Es gibt zwar kein Recht auf Mobilität, auf das man sich berufen könnte, aber es gibt das internationale und europäische Flüchtlingsrecht, das es anzuwenden gilt. Dadurch wird auch eine weiterreichende Problematik ins Licht gerückt: Wie und wo wir uns in der Welt bewegen können, hängt maßgeblich von unserem Pass ab. Mobilität ist ein Privileg, das bei unserer Geburt festgelegt wird. Die Politikwissenschaftlerin Ayelet Shachar nennt das die ‚Birthright Lottery‘. Ohne unser Zutun haben wir bestimmte Bewegungsrechte oder eben nicht. Das ist eine Form von Ungleichheit, die mit humanitären Werten in Konflikt gerät.

„Das Problem sind nicht die Menschen, die fliehen müssen, sondern die Ursachen von Flucht wie Krieg, Verfolgung, Armut, Klimakatastrophen.“
(Caroline Schmitt)

Wie können wir diesen Ungleichheiten begegnen?

Auf EU-Ebene gibt es noch keine nachhaltige Lösung. Die Festsetzung geflüchteter Menschen in ‚Geflüchtetenlagern‘ und -unterkünften ist jedenfalls keine. Es braucht ein gemeinsames, europäisches Vorgehen. Dabei kann sich der Blick ins Lokale und Regionale lohnen, wo sich kreative Ansätze zeigen. Zum Beispiel die Idee der ‚Solidarischen Stadt‘. Sie orientiert sich am US-amerikanischen und kanadischen Konzept der ‚Sanctuary City‘ aus den 1970er Jahren. Städte wie Toronto oder New York City wollen allen Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Teilhabe und Zugang zu Kultur, Gesundheit, Bildung, Wohnraum ermöglichen. Diese Konzepte sind für die Umsetzung von Inklusion auch aus Forschungssicht interessant. In Europa versuchen zum Beispiel Barcelona oder Zürich solidarische Stadtkonzepte umzusetzen.

Sind diese Initiativen auf regionaler Ebene der Schlüssel zum (Inklusions-) Erfolg?

Konzepte wie jenes der ‚Solidarischen Stadt‘ stiften Verbindungen zwischen Menschen und sind Ausdruck einer transnationalen Verbundenheit und Verantwortungsübernahme. Man darf sie aber auch nicht überbewerten, weil sie die nationalstaatliche Politik nicht aushebeln können und Menschen auf der Flucht nicht suggerieren sollten, in einem sicheren Raum zu leben, in dem etwa Abschiebungen nicht mehr passieren würden. Zivilgesellschaftliche Initiativen sind wichtig und können viel bewegen. Sie dürfen aber nicht dazu führen, dass sich Nationalstaaten oder die EU aus der Verantwortung ziehen.

Sind „Parallelgesellschaften“ hinderlich für eine inklusive Gesellschaft?

Der Begriff der ‚Parallelgesellschaft‘ vermittelt den Eindruck, als würden sich bestimmte Menschen von anderen bewusst abschotten. Ähnlich wie beim Integrationsbegriff geht man von zwei getrennten Gruppen aus: von denen, die einer Stadt oder einem Land vermeintlich zugehörig seien, und von denen, deren Zugehörigkeit in Frage gestellt und an Bedingungen geknüpft wird. Das baut mehr Ungleichheiten auf, als ihnen entgegenzuwirken. Inklusion stellt hingegen heraus, dass Gesellschaft durch Diversität geprägt ist, sei es in Bezug auf Nationalität, Sprache, Alter, Geschlecht oder Weltanschauungen. Wenn wir Inklusion als Menschenrecht fassen, dann darf niemand aufgrund von Diversitätsdimensionen ausgeschlossen sein.

für ad astra: Katharina Tischler-Banfield

Zur Person


Caroline Schmitt ist seit März 2021 Professorin für Migrations- und Inklusionsforschung. Sie studierte Erziehungswissenschaft mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie an der Universität Trier. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Solidarität, Inklusion und Diversität in der Migrationsgesellschaft, inter- und transnationale Soziale Arbeit, pädagogische Professionalität und Krisen- und Katastrophenforschung.

Porträtfoto Caroline Schmitt