Das Lokale in der globalen Forschung
Die Wissenschaft ist international: Besonders in den Naturwissenschaften und in der Technik mit Englisch als lingua franca beobachtet man weltweite Kooperationen und die globale Mobilität von ForscherInnen. Dennoch sind lokale Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen geforscht wird, sehr vielfältig. Besonders sichtbar werden diese bei neu entstehenden Fächern. Die Wissenschafts-‐ und Technikforscherin Martina Merz zeigt nun mit einer aktuellen Publikation, die sie gemeinsam mit Philippe Sormani herausgegeben hat, die Merkmale dieser lokalen, regionalen und nationalen Kontexte am Beispiel von Naturwissenschaften auf.
Ist es egal, ob man als Physikerin in Zürich, in Hongkong oder in Teheran forscht?
Die Physik ist eine jener Wissenschaften, in der in verschiedenen Staaten und politischen Systemen auf ganz ähnliche Weise geforscht wird. Die Scientific Community der Physik ist international: Tagungen finden weltweit statt, es wird zwischen Kontinenten und über Landesgrenzen hinweg eng zusammengearbeitet, und Themen, Theorien und Methoden variieren mit den nationalen Verortungen der Physikerinnen und Physiker nur wenig. So kann man etwa an den Themen von Publikationen nicht ablesen, ob die Arbeiten in Zürich, Hongkong oder Teheran entstanden sind. Die Internationalisierung der Physik wird dadurch befördert, dass eine beträchtliche Anzahl junger Forschender in Europa und Nordamerika ausgebildet wird, bevor diese mit den erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen in ihre jeweiligen Herkunftsstaaten zurückkehren. Die Bedingungen, unter denen in der Physik geforscht wird, sind allerdings nicht überall gleich gut. Die finanzielle und instrumentelle Ausstattung variiert stark. Und obwohl die länderübergreifende Kommunikation und Information dank des Internets einfacher geworden ist, bleibt es schwierig, an vorderster Forschungsfront mitzuhalten, wenn man fernab der großen Zentren arbeitet. Die Möglichkeit, an den wichtigen Debatten auch persönlich teilnehmen zu können, darf nicht unterschätzt werden.
Welche Rolle spielt die Forschungspolitik? Ein Beispiel sind die Grand Challenges, die die Grundlage für das EU‐Förderprogramm Horizon 2020 bilden.
Forschungspolitik ist insbesondere Förderpolitik. Sie kann durch nationale oder regionale Interessen motiviert sein. So zeigt Miguel García‐Sancho in unserem Buch am Beispiel der Biomedizin in Spanien, dass die Forschungspolitik unter Franco die Konstitution einer nationalen Wissenschaft mit engem Anwendungsbezug anvisierte, während sie im neuen demokratischen Regime vor allem auf die europäische Integration der spanischen Wissenschaft abzielte. Aktuelle staatliche oder EU-Förderpolitik stellt massive Ressourcen für Forschung zur Verfügung, wobei neben themenindifferente Förderformate sehr große Programme treten, die Themen oder Forschungs‐ und Technologiefelder selektiv adressieren oder z. B. eine Orientierung an den Grand Challenges einfordern. Dabei wirkt die Forschungspolitik nicht lediglich von außen auf die Wissenschaft ein, sondern wird ihrerseits entscheidend durch wissenschaftliche Akteure mitgeprägt. Vergleicht man nun die thematischen Schwerpunkte der Forschungspolitik zwischen Ländern und Regionen, zeigen sich überraschend große Gemeinsamkeiten. In Europa wird eine Angleichung von Forschungsschwerpunkten durch die EU‐Förderpolitik begünstigt, aktuell durch das fast 75 Milliarden Euro schwere Forschungs-‐ und Innovationsprogramm Horizon 2020. Weltweit beobachtet man, dass neue Förderschwerpunkte von einer Region in die andere diffundieren. Die Nanowissenschaften z. B. wurden in den USA seit den frühen 2000er Jahre enorm gefördert; innerhalb weniger Jahre wurden vergleichbare Programme auch in vielen europäischen Staaten und in anderen Regionen aufgelegt.
Wodurch ist diese Diffusion getrieben?
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass Ursprungserzählungen (d. h. wer den Pionierstatus für sich beansprucht) mit Vorsicht zu genießen sind und daher einer sorgfältigen historischen Aufarbeitung der Entwicklungsdynamik neuer Forschungsfelder der Vorzug zu geben ist. Dass die massive Förderung eines neuen Forschungsfelds in den USA oder auch in der EU weltweit Beachtung findet und einen gewissen Nachahmungseffekt auslösen kann, hat zum einen mit den großen ökonomischen Erwartungen und Innovationsversprechen zu tun, die mit neuen Forschungs‐ und Technologiefeldern assoziiert sind. Zum anderen hat die Investition in Forschungsbereiche, die international als zukunftsträchtig gelten, auch einen hohen symbolischen Wert: sie steht für Fortschritt und Teilhabe an einer globalisierten Wissensgesellschaft, auch unabhängig von den konkret erwartbaren Innovationsgewinnen. Insofern ist es wichtig, jeweils genau zu prüfen, welche Motivationen und Erwartungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene mit neuen Förderprioritäten assoziiert werden. Dies gilt ebenso für die Grand Challenges. Dass die gesellschaftliche Einschätzung der Bedeutung von Forschung sehr unterschiedlich ausfallen kann, kennen wir aus der Debatte um den Klimawandel. Während er in Österreich durchgängig als ein reales und äußerst drängendes Problem im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft wahrgenommen wird, treffen der Klimawandel und die Klimawandelforschung in den USA vielerorts nach wir vor auf Skepsis.
Sind die Erwartungen der Fördergeber immer kompatibel mit dem, wie Wissenschaft funktioniert?
Manchen Wissenschaftsfeldern gelingt es besser als anderen, die mit den Themenschwerpunkten assoziierten Erwartungen zu bedienen. Dabei gehen wissenschaftliche Akteure strategisch vor: die geplante Forschungsarbeit wird auf die Erwartungen hin ausgerichtet, und die Passung wird auch kommunikativ hergestellt. Es gibt aber auch Forschungsfelder (z. B. im Bereich der Geisteswissenschaften), die weniger Anknüpfungspunkte zu den jeweils aktuellen Förderprioritäten haben und denen es aus diesem Grund schwerer fällt, die für ihre Forschung benötigten Ressourcen einzuwerben.
Wie lassen sich solche Strategien erkennen?
Wir beobachten zum Beispiel, dass bestimmte Begriffe, die in großen Förderprogrammen eine zentrale Bedeutung haben, bereitwillig aufgegriffen werden. Zum Beispiel ist Interdisziplinarität heute vielerorts eine Förderbedingung. In der Praxis ändern sich die wissenschaftlichen Inhalte und die Arbeitsweise allerdings weniger stark als man aufgrund der expliziten Orientierung an den Anforderungen meinen könnte. Um vorhandene Ressourcen abschöpfen zu können, werden die jeweiligen Anforderungen auf durchaus kreative Weise bedient. Dennoch ist die Flexibilität, Förderprioritäten zu adressieren, nicht beliebig groß. Wir haben beobachtet, dass externe Ressourcen in einem Labor oder einem Institut nur dann dauerhaft produktiv werden können, wenn vor Ort selbst eine inhaltlich tatsächlich gute Passung zur vorhandenen Expertise hergestellt werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: ein von uns untersuchtes Zentrum für Nanowissenschaften in der Schweiz konnte die vom Geldgeber eingeforderte Interdisziplinarität deshalb überzeugend in die Praxis umsetzen, weil es dabei auf einer langjährigen und bewährten Kooperation zwischen Mitgliedern der beteiligten naturwissenschaftlichen Institute aufbauen konnte.
Was passiert, wenn die Geldquellen für die Schwerpunkte wieder versiegen?
Wissenschaftliche Akteure beobachten und verfolgen die komplexe Landschaft der sich immer wieder verändernden Fördermöglichkeiten sehr aufmerksam. Versiegen Geldquellen, begeben sich Forschende auf die Suche nach alternativen Geldquellen. Dabei verlieren auch manche Begriffe wieder an Bedeutung. Als z. B. große Förderprogramme im Bereich der Nanotechnologie ausliefen, zeigte sich, dass manche Labors ihre Forschung beim Ansuchen um Finanzierung nun anders deklarierten, auch wenn sich an den Forschungsinhalten selbst nur wenig änderte.
Ist es also so, dass sich Forschungsschwerpunkte der Dynamik der Programme entziehen können?
Die Wissenschaft allgemein kann sich dem Einfluss der Förderprogramme nicht völlig entziehen. Das liegt zum einen daran, dass Forschung heute ohne Drittmittelfinanzierung nur in einem sehr reduzierten Umfang möglich ist; die Grundfinanzierung der Hochschulen reicht dafür schlicht nicht aus. Zum anderen ist das Wissenschaftssystem nach wie vor stark auf Wachstum ausgerichtet, und gerade neue Forschungsschwerpunkte brauchen für ihre Etablierung zusätzliche Ressourcen.
Verändern neue Fächer den Prozess, wie wissenschaftlich gearbeitet wird?
Die Entwicklung neuer Forschungsfelder verläuft typischerweise Hand in Hand mit der Entwicklung neuer Diskurse, Techniken, Instrumente oder theoretischer Ansätze. Große Veränderungen im Prozess der Forschung betreffen häufig nicht nur einzelne, sondern eine Vielzahl von Wissenschaften. Ein erstes Beispiel ist die als Big Science bezeichnete Forschung an sehr großen und komplexen Experimentalanlagen (z. B. in der Astrophysik), die durch eine sehr ausgeprägte Spezialisierung und große Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, wie sie zuvor in der Wissenschaft nicht existierte. Ein zweites Beispiel ist der Computer, der die wissenschaftliche Arbeit in vielerlei Hinsicht heute sehr stark prägt. Sei es durch die veränderten internetgestützten Informations‐ und Kommunikationspraktiken, sei es durch neue Möglichkeiten, große Datenmengen zu speichern, archivieren, prozessieren oder auf neue Weise zu kombinieren und analysieren. Schließlich ermöglicht der Computer auch ein virtuelles Experimentieren und Explorieren, z. B. in der Klimaforschung, dem Drug Design und der Teilchenphysik.
Kommen wir zum Faktor „Mensch“: Im Labor für Teilchenphysik CERN arbeiten 3.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt. Gibt es so etwas wie kulturelle Prägungen, die für die Forschungsarbeit bedeutsam sind?
Am CERN spielen die personellen nationalen Hintergründe in der Forschungsarbeit keine große Rolle. Man kann den Begriff der kulturellen Prägung aber auch anders verstehen und fragen, wie es um die Experimentalkulturen am CERN steht. In der Tat beobachten wir in Forschungsteams interessante Unterschiede, die sich im Verhältnis zum Experiment und zum Computer ausdrücken und tendenziell zwischen Generationen variieren. Insbesondere erfahrene Physikerinnen und Physiker betonen, dass das praktische Arbeiten an der Messapparatur unabdingbar ist, um ein gutes Gespür für ein Experiment zu erwerben. Die große Hinwendung manch jüngerer Kolleginnen und Kollegen zu den Möglichkeiten, experimentelle Abläufe im Computer zu simulieren, betrachten sie hingegen mit einiger Skepsis. Während sich alle einig sind, dass Experimente in der Teilchenphysik heute ohne massiven Einsatz von Computersimulation nicht durchführbar sind, gehen die Ansichten allerdings darüber auseinander, wie wichtig die praktische Erfahrung mit der realen Apparatur auch heute noch ist.
An verschiedenen Orten zu forschen, ist ein hoher Wert für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Was bringt die Mobilität für den Forschungsoutput?
Wenn wir das gesamte Wissenschaftssystem in den Blick nehmen, tritt Mobilität als ein Modus des ortsübergreifenden Austauschs von Wissen und Expertise in Erscheinung. Erstens bietet die gemeinsame Forschungsarbeit und Diskussion vor Ort Gelegenheiten des Lernens, die sich durch den Austausch von Texten nicht ersetzen lassen. Zweitens fördert Mobilität die Kommunikation über Differenzen, etwa über gewisse von Ort zu Ort unterschiedliche Perspektiven auf einen Forschungsgegenstand. Solche Differenzen werden durch den persönlichen Austausch zwischen den neu Angekommenen und den ortsansässigen Forschenden sichtbar und verhandelbar. Gleichzeitig braucht gute Wissenschaft aber auch „Inseln“, d. h. Orte, an denen neue Ansätze und theoretische Perspektiven entwickelt werden und reifen können, ohne sogleich in den Sog internationaler Trends zu geraten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Romy Müller.
Zur Person:
Martina Merz ist seit Oktober 2014 Professorin am Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung der AAU. 1990 promovierte sie im Fach Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Danach wechselte Martina Merz in die sozial- und kulturwissenschaftliche Wissenschafts‐ und Technikforschung und damit zunächst an die Universität Bielefeld. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit führte die Forscherin von Genf über Bern nach Lausanne und 2006 an die Universität Luzern, wo sie im Rahmen einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Professur am Soziologischen Seminar das Projekt „Konfiguration der Nanowissenschaften als neues Forschungsfeld“ leitete. Danach folgten ein Aufenthalt an der Universität Helsinki und der Ruf an die Alpen‐Adria‐Universität. Derzeit leitet Merz ein FWF‐Projekt, in dem sie sich gemeinsam mit internationalen Partnern mit der Erzeugung von Wissen im Hadronen‐Speicherring (LHC) des europäischen Labors für Teilchenphysik CERN in Genf beschäftigt.
Zum Buch:
Merz, Martina & Sormani, Philippe (Hrsg.) (2016). The Local Configuration of New Research Fields. On Regional and National Diversity. Heidelberg: Springer.