Mladen Savić: Was tun? Gute Frage!

„Das Schlimmste im Leben“, hat mir ein Freund einmal gesagt, „ist es, wenn man eine Situation, aber keine Strategie hat“. Immer wieder denke ich zu den unterschiedlichsten Anlässen an die Aussage und ertappe mich genauso oft dabei, dass ich schmunzle. Es umfasst ja einiges, wenn man so will, und ist auf vieles anwendbar. Insbesondere in der Umweltfrage stellt sich automatisch auch die Frage der Praxis und kulturellen Reaktion auf die neuen Gegebenheiten: auf die längst bekannte Bedrohung des Ökosystems, die wir vorzugsweise mit vermeidendem Verhalten bewältigen.

Die Anpassung an situative Sonderlichkeiten lässt sich allgemein auffassen als Fähigkeit von Systemen, ungünstige Einwirkungen der Umgebung so abzufangen, dass ihr inneres Gleichgewicht nicht geschädigt wird. Dieses innere Milieu ist letztlich verantwortlich dafür, wie angenehm oder unangenehm das Überleben sich gestaltet und wie möglich es darin ist: nicht nur in Staat, Ehe oder Job, sondern in der Natur insgesamt, in erster Linie für ihre Lebewesen, von den primitivsten Organismen bis zu den komplexesten, welche wir Menschen darstellen – angesichts unseres großen, gefurchten, gelegentlich genutzten Gehirns.

Wenn wir die Natur beobachten und daraus lernen, durchschauen wir die Dynamiken von Prozessen in natürlichen Systemen. Wenn wir Experimente durchführen, versuchen wir beispielsweise, ein System von den Faktoren der Umgebung zu isolieren. Entsprechend systematisieren wir das aus der Erfahrung gewonnene Wissen, das wir dann über die Welt haben, und gliedern es in Wissenschaften und Disziplinen. Um der kommenden Klimakrise gewappnet zu begegnen, werden wir die Hilfe und Kooperation aller wissenschaftlichen Forschungsfelder auch bitter brauchen, doch sie allein werden nicht reichen. Auch die Massen brauchen Bewusstsein.

Als literarischer Utopist, der an den Primat der Intelligenz und prinzipiell die Macht der Wahrheit glaubt, gebe ich die Hoffnung indes nie auf, dass es sich irgendwann herumspricht: Die Abhängigkeit des Menschen von der Umwelt ist schier eine Tatsache, auch wenn die Umwelt nun eine nur unterworfene Natur ist und kein Haus des Lebens. Interessanterweise bedeutet das altgriechische Wort „oikos“, das im Begriff „Ökologie“ steckt, Hausgemeinschaft, Hof, Heim. Wir freilich fühlen uns in der Natur und auch in unserer gesellschaftlichen, zweiten Natur nicht eingebettet, sondern von ihr vielmehr getrennt. Dieser Umstand ist teils Erziehungssache, teils der ungebremsten Ausweitung des künstlichen Umfelds, allgegenwärtiger Nicht-Natur, geschuldet.

So thronen wir auf dieser 6.000 Trillionen Tonnen schweren und 4,56 Milliarden Jahre alten Erde innerhalb einer bedrohten Biosphäre, wo Leben sich in den buntesten Formen erhält, in einer Blase sozusagen, einem geschlossenen System mit weiteren, wechselwirkenden Subsystemen. Auf allen Ebenen des Lebens vermeine ich darum eine Dialektik von System und Umfeld vorzufinden, einen Tanz der Natur am gespannten Tau des Abgrunds entlang, den Kampf gegen Entropie und Tod neben der Anpassung zum Überleben und Gedeihen. Und wir tanzen mit.

Mein Onkel, wenn er einen guten Tag hat, meint manchmal, er sei in eine Welt geboren, die weder die humanste noch die intelligenteste wäre, aber immerhin in einer Zeit, da er die Möglichkeit gehabt hätte zu erleben, wie Blumen duften und ein blauer Himmel aussieht, was saubere Luft ist, trinkbares Wasser und eine sichere, warme Mahlzeit. Würde er zur letzten Generation gehören, die Gleiches behaupten könnte? Die Natur wird vielfach für eine Endlosressource und obendrein für eine Mülldeponie gehalten! Obwohl ich weiß, dass es einstmals vielleicht üblich gewesen ist, muss ich zugeben, dass nicht nur meinem Onkel, sondern auch mir trinkende Pferde am Fluss als romaneskes Bild heute schwer vorstellbar erscheinen – ich würde in den meisten Gewässern, dreckig, schaumig, industriell verschmutzt, wie sie sind, nicht einmal meine Socken waschen.

Eine Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt lehne ich ab. Jakob Uexküll, der Wortschöpfer des Umweltbegriffs, hat 1909 das Ökologieverständnis auf den Menschen erweitert und damit einen Referenzbezug auf das Individuum und handelnde Subjekt geschaffen: Umwelt sei ihm zufolge zu unterscheiden von der Umgebung eines Organismus, denn die Umgebung nehme Lebewesen als Objekte auf, während die Umwelt von ihnen gestaltet werde. Kurz, das Leben soll und darf nicht isoliert betrachtet werden! Wenn wir uns gedanklich und handelnd aus der Naturgeschichte ausgliedern und Weltgeschichte als abgetrennt davon deuten, verkennen wir, über kurz oder lang, die Notwendigkeit zur Anpassung im Prozess permanenter Veränderungen. Das Milieu ist, wo alles stattfindet, jene Umgebung eines Lebewesens, welche auf es selbst einwirkt und seine Lebensumstände beeinflusst. Dies gilt, genau genommen, auch auf unsere Gattung im Umgang mit natürlichem und künstlichem Lebensraum.

In Bezug auf die Umwelt ist das Schlagwort des global village wohl wahrer als sonstwo; das Ökosystem kennt schließlich keine Landesgrenzen, und der Planet ist ein einziger und dieser allein. Unser Beitrag zu seiner Zerstörung ist zudem evident. Wenn wir demnach von den Umständen gebildet werden, die auf uns zurückwirken – und in ökologischer Hinsicht ist das für Milliarden von uns Menschen entscheidend –, dann müssen wir menschliche Umstände bilden, die die Natur und den Lebensraum und die Lebensgrundlagen der Menschheit schonen. Praktisch zu denken und gezielt zu handeln täte not, denn das Schlimmste wäre doch, für diese globale Situation keine Strategie zu entwickeln … Ich schreibe es, wenn nötig, gerne auf jede Wand und Mauer.

Das Leben in all seinen Erscheinungen und Formen und in seiner ganzen genialen Vielfalt ist bislang ausschließlich auf dem Planeten Erde zu finden. Darauf als Gegenstand, und auf nichts Anderes, konzentriert sich die Ökologie. Als Wissenschaft untersucht sie die Parameter des dynamischen Gleichgewichts alles Lebendigen im Austausch von Materie und Energie sowie das Auftreten von Phänomenen: einmal, mehrmals, zyklisch. Prozesse, deren Gesetzmäßigkeiten und Abweichungen inklusive, werden in einzelnen Disziplinen erforscht und sind aus ökologischer Sicht von größter Bedeutung. Mehr noch, da alle Ökosysteme dynamische Eigenschaften aufweisen, ist die elementare Form ihres Bestehens in einem operativen System die ständige Wiederholung eines Zyklus. Das macht, genau genommen, das dynamische Gleichgewicht aus, auf das wir als Laien vermehrt achten sollten.

Leben auf der Erde, möchte ich ergänzend noch erwähnen, erhält sich vorrangig auf Basis primärer Prozesse, aufgrund von: Photosynthese, Eutrophie, Dissimilation und Reproduktion. Die Photosynthese produziert mithilfe von Sonnenenergie, Kohlensäure, Wasser und Mineralien organische Materie und bildet somit den Anfang der Nahrungskette, sodass sie zur Steigerung der gesamten organischen Produktion beiträgt, nicht zuletzt durch das Nebenprodukt Sauerstoff, zuerst bei Blaualgen, dann bei Pflanzen. Die Eutrophie als regelmäßige Versorgung mit Nährstoffen bei Energiezufuhr macht sich diesen Umstand zunutze. Die Dissimilation als Verbrauch von Körpersubstanz besteht darin, dass komplizierte Stoffe abgebaut und in einfache umgewandelt werden – ohne dem wäre es unmöglich, Energie aus dem Abbau organischer Nahrung zu ziehen. Die Reproduktion als zuerst diploide, dann zweigeschlechtliche Vermehrung ermöglicht durch Rekombination der Gene eine Höherentwicklung von Organismen und deren gesteigerte Anpassungsfähigkeit.

Alles in allem, und ich versuche mich schlicht und kurz zu halten: Wenn die primären Prozesse gestört werden, geschieht Gefährdung – was Gegenmaßnahmen verlangt, versteht sich. Übersäuern die Meere infolge fossiler Brennstoffnutzung und der Massentierhaltung durch Ausschüttung von CO2 und Methan, reißt ein Glied in der globalen Nahrungskette, und die Welt geht wörtlich unter. Verschwinden die Lebensräume für Tierarten infolge fortschreitender Urbanisierung und industrieller, chemisch-monokultureller Landwirtschaft, führt die schwindende Biodiversität zu Problemen in der Pflanzenbestäubung und mittelbar in der menschlichen Nahrungsversorgung ebenso. Verschmutzen die Böden, das Grundwasser und die Biotope bis zu ihrem Zusammenbruch, wird die Nährstoffaufnahme für die irdische Biomasse überhaupt problematisch.

Die rücksichtslose Einwirkung auf Ökosysteme abseits wissenschaftlicher Kriterien – beispielsweise aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen oder Ähnlichem – führt dauernd zu ihrer Degradierung, zu ungewollten Veränderungen, gewichtigen Nebenfolgen, Langzeitschäden oder Zerstörung. Die Warenwirtschaft, soviel steht jedenfalls fest, verhält sich ihren Imperativen und Resultaten nach nicht nachhaltig. Man muss kein Spezialist sein, um zu begreifen, was Ernst Haeckel 1866 mit seiner ersten Definition der Ökologie geliefert hat, nämlich, dass Leben nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist – und dass die Verhältnisse der Organismen zur Natur samt ihren existenziellen Voraussetzungen mitbedacht werden müssen. Eines wird wohl nicht nur mir klar sein: Eine gesamtgesellschaftlich strategischere Haltung wäre hierbei vonnöten. Was tun? Gute Frage! Ich komme darauf zurück …

 

Kommentar von Gernot Waldner

Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sich der Author@Musil mit dem heutigen Text in ein neues Gebiet gewagt hat. Der Titel des Textes „Was tun? Gute Frage!“ zerfällt in zwei Teile, die den Aufbau des Textes antizipieren und auch deutlich machen, wie sich der Autor seinem neuen Gebiet nähert. Der erste Teil des Titels spielt auf Lenins Hauptwerk von 1902 an, in dem, kurz gesagt, diskutiert wird, ob man eine gesellschaftliche Situation selbst verstehen kann, da man ja in dieser Situation steckt, oder ob einem das Wissen vermittelt werden muss, da es nicht spontan entsteht. Lenin hatte ein Position in dieser Frage, ob seine institutionellen Konsequenzen (Zentralkomitee , etc.) dieser Antwort gerecht wurden, ist ein anderes Thema. Der Author@Musil fragt sich, ausgehende von einem „Freund“ (Kautsky?) ähnliches, kündigt aber bereits im Titel mit einem Ausrufezeichen an, das hier noch einige Dinge zu klären sein werden, bevor es neue Stellenausschreibungen (Naturagitator, Homöostasevorsitzender, etc.) in Kärntner Tageszeitungen zu lesen geben wird.

 

Mir selbst ist die globale Situation, in der wir uns befinden, nicht klar, womit ihre katastrophalen Folgen nicht bezweifelt werden sollen, über letztere herrscht breiter wissenschaftlicher Konsens. Ausgehend vom Text hab ich mir zwei Fragen gestellt:

1) Muss man die Grundlagen verstehen, um die Folgen beachten zu können? Mir scheint zum Beispiel, dass ich eine Rede analysieren kann, ohne Experte für den menschlichen Artikulationsapparat zu sein. Ist das mit den „primäre[n] Prozesse[n]“ der Ökologie anders? Stichwort Emergenz. Oder wäre die primären Prozesse zu ignorieren schon eine Art von ökologischem „Populismus“?

2) Bei einer unserer letzten Gespräche ging es darum, dass es kaum noch gut erhaltene Naturlandschaften in Österreich gibt. Dennoch gab es z.B. in Kärntner Fichtenwäldern eine Art Gleichgewicht, in dem bewaffnete Jäger (trotz aller sozialen Gefahr) die Rolle von Wölfen übernahmen und Wildtiere töteten, was man ökologisch interpretieren kann: Jungbäume wurden gerettet. Kann man in bestimmten Fällen daraus schließen, dass Menschen erst ein Teil eines ökologischen Gleichgewichts erkannt werden, wenn letzteres beschädigt ist? Und heißt das nicht auch, dass es für ein Ökosystem unterschiedliche Formen von Gleichgewicht gibt? Warum klingt das Reden über „Natur“ selten so, als würde es mehrere Formen von Gleichgewicht geben?

 


FOR FOREST -Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 4