Warum gibt es Mathematikunterricht?

Die Mathematik ist eines der ältesten Schulfächer überhaupt, weshalb sich für viele die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung nicht stellt. Aber wofür lernen wir Algebra und Differentialgleichungen eigentlich? ad astra hat bei David Kollosche, Vorstand des Instituts für Didaktik der Mathematik, nachgefragt.

Wenn eine 16-jährige Schülerin Sie fragen würde, wofür sie die Inhalte des Mathematikunterrichts in Zukunft braucht, welche Antwort würden Sie ihr geben?

Viele würden sagen, dass sie es später im Leben einmal braucht. Das ist aber in den meisten Fällen nicht wahr oder sehr unwahrscheinlich. Man muss es differenziert betrachten. Wenn es beispielsweise um Analysis geht, könnte man sagen, dass es sich um eine große intellektuelle Entwicklung der Menschheit handelt, auf der sehr viele technologische Innovationen basieren. Von daher ist es eher ein kulturelles Lernen, zu verstehen, wie Analysis funktioniert. Auch wenn die Mehrheit der Schüler*innen es später nie mehr anwendet. In zwei Studien von mir habe ich Schüler*innen der 9. Schulstufe zu ihren Einstellungen zum Mathematikunterricht befragt. Da kam schnell die Frage auf: „Warum gibt es Mathematikunterricht?“ – Die Schüler*innen haben geantwortet, dass es für das spätere Leben wichtig ist. Gefragt nach Beispielen haben sie meist sehr elementare Fähigkeiten wie Grundrechenarten und Prozentrechnen angeführt. Für Themen aus höheren Schulstufen sehen sie keine Anbindungsszenarien. Das hat uns auch verblüfft, denn wenn dieses Motivationsgebäude, also der Versuch, die Relevanz in dem zu sehen, was man lernt, so leicht zusammenfallen kann, ist das aus meiner Sicht eine Gefahr für den Unterricht.

Worin besteht dann der Zweck des Mathematikunterrichts?

Die vorherrschende Meinung ist, im Mathematikunterricht geht es um das Mathematiklernen. Diese Erklärung ist aber nicht ganz überzeugend, da die meisten Schüler*innen bereits kurz nach Ende ihrer schulischen Laufbahn viele Inhalte nicht mehr abrufen können. In England wurden Erwachsene zu ihren mathematischen Fähigkeiten befragt, und da zeigte sich, dass der Großteil nur die Themen bis zum 4. Schuljahr beherrscht. Das sind nur die Grundrechenarten. Den Lernstoff, der danach kommt, kann nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung abrufen. Deshalb bin ich nicht davon überzeugt, dass das fachliche Lernen die Erklärung dafür sein kann, warum wir uns als Gesellschaft diese riesige Institution Mathematikunterricht leisten, die viel Geld und Zeit kostet. Daher habe ich nach anderen Erklärungen gesucht.

Welche haben Sie gefunden?

In der Schulsoziologie beispielsweise werden auch andere Funktionen für Schule genannt. Ich bin der Meinung, dass diese auch explizit auf den Mathematikunterricht zutreffen, aber noch zu wenig beachtet werden.

Würden Sie uns diese näher erläutern?

Eine sehr bedeutsame Funktion von Schule ist die der Integration. Heranwachsende sollen in die Gesellschaft integriert werden, sowohl von ihrem Wissen als auch von den Verhaltensweisen her, damit das Zusammenleben funktioniert. Hier leistet Schule nicht nur für jeden Einzelnen etwas, sondern auch für die Gesamtgesellschaft, und das hat einen großen Wert.

Gibt es weitere Funktionen, die der Mathematikunterricht erfüllt?

Nicht nur der Mathematikunterricht, sondern Schule im Allgemeinen hat eine Legitimationsfunktion. Sie rechtfertigt gesellschaftliche Institutionen und Praktiken. Vor allem Mathematik wird in der öffentlichen Diskussion oft dafür benutzt, um über gewisse Themen zu kommunizieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Corona- Pandemie. Es werden ständig Modelle und Zahlen präsentiert, die etwas aussagen sollen. Der Mathematikunterricht trennt zwischen einer kleineren Gruppe, die sich als kompetent erachtet und sich in der Lage sieht, solche Modelle zu hinterfragen und zu durchschauen, und der größeren Gruppe von Menschen, die es nicht versteht. Somit könnte man Mathematik in der Gesellschaft als ein Machtinstrument bezeichnen. Da stellt sich für mich die Frage, ob Mathematikunterricht die Menschen darauf vorbereiten soll, sich durch Mathematik beherrschen oder regieren zu lassen.

Mathematik vermittelt auch andere Fähigkeiten wie Problemlösungskompetenz und strategisches Denken. Ist das ein Vorurteil oder Tatsache?

In der Mathematik gibt es wiederkehrende Tätigkeiten wie das Begründen, das Abarbeiten von Verfahren oder mathematisches Modellieren. Diese sind vom mathematischen Inhalt unabhängig und stehen mittlerweile auch in den Lehrplänen. Ob der Mathematikunterricht dazu dient, sich diese Fähigkeiten anzueignen und das vielleicht sogar über das Fach hinaus, das ist noch unklar. Studien dazu sind eher ernüchternd, da sie darauf hindeuten, dass solche allgemeinen Kompetenzen schwer transferierbar sind.

Wie hat sich der Mathematikunterricht im Laufe der Zeit verändert?

Die Inhalte sind seit 90 bis 100 Jahren relativ stabil geblieben. Eine große Veränderung gab es in den 1980er und 90er Jahren: Da hielt die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik in den Unterricht Einzug. Mathematik hat in den letzten Jahren europaweit an Unterrichtsstunden verloren. Dadurch sind andere Inhalte verdrängt worden. Im deutschsprachigen Raum kann man beobachten, dass die Unterrichtsmethoden weggehen vom Frontalunterricht. Eine bereits etablierte Form ist das Unterrichtsgespräch, bei dem Lehrende versuchen, die Schüler*innen in ein Klassengespräch einzubeziehen und Inhalte gemeinsam erarbeitet werden. Vor allem in Volksschulen hat sich bei den Lehrmethoden in den letzten 40 Jahren schon viel getan.

Gibt es Bestrebungen, die Lehrpläne des Mathematikunterrichts zu verändern?

In Österreich arbeitet derzeit gerade die Lehrplankommission an einer Überarbeitung für die Lehrpläne der Mittelstufe. Man muss aber bedenken, dass viele gesellschaftliche Stakeholder Einfluss nehmen auf die Lehrplangestaltung. Zwei Kollegen haben zum Beispiel vorgeschlagen, in der Oberstufe keine Analysis zu machen, weil andere Dinge eventuell sinnvoller sind. In Deutschland sind die Universitäten Sturm gelaufen, weil sie meinten: Wie soll das beim Mathematik-Studium funktionieren, wenn nicht mehr alle Abiturient*innen in der Oberstufe Analysis hatten? Wenn sie es dann erst im Studium lernen, fallen dadurch andere Fächer aus dem Studienplan raus. Das hat also weitreichende Konsequenzen. Deshalb sind Änderungen der Lehrpläne in Schulen hoch komplex und laufen sehr langsam und schrittweise ab.

Zur Person


David Kollosche studierte und promovierte an der Universität Potsdam. Seit Oktober 2019 arbeitet er als Universitätsprofessor für Didaktik der Mathematik an der Universität Klagenfurt, wo er seit Herbst 2020 das Institut für Didaktik der Mathematik leitet. Seine Forschungsinteressen liegen in soziopolitischen Untersuchungen und der Bildungstheorie des Mathematikunterrichts.



Kollosche David | Foto: aau/photo riccio

für ad astra: Katharina Tischler-Banfield