Über Staatsschulden und ökonomische Kompetenzen in unsicheren Zeiten

Das wirtschaftliche Geschehen betrifft jede und jeden von uns, dennoch betrachten viele Menschen wirtschaftliche, insbesondere volkswirtschaftliche, Fragestellungen als undurchdringbare „black box“. Volkswirt Martin Wagner wirft im Interview mit ad astra Licht auf das heiß diskutierte Thema Staatsschulden und plädiert für mehr „economic literacy“. 

Was sind Staatsschulden und wie entstehen sie?
Das sind die Schulden der öffentlichen Hand, in Österreich hauptsächlich des Bundes. Sie entstehen, wenn die Staatsausgaben die Einnahmen übersteigen, es also ein Budgetdefizit gibt. Finanziert werden Staatschulden hauptsächlich durch die Emission von Staatsanleihen. Das sind Wertpapiere, in denen sich die Republik verpflichtet, über einen definierten Zeitraum vereinbarte Zinszahlungen zu leisten und zum Tilgungszeitpunkt den noch ausstehenden Betrag zurückzubezahlen. Diese Schuldpapiere werden von Anleger*innen gehalten, der Zusammenhang zwischen Ersparnissen und Schulden ist direkter sichtbar als etwa bei der Frage was mit dem Geld auf Sparbüchern passiert. Circa ein Drittel der österreichischen Schuldpapiere ist in inländischer Hand, inklusive Investmentfonds, Banken, etc. Österreichische Staatsanleihen gelten als sehr sicher und sind demgemäß eher niedrig verzinst.

Wie hoch sind die österreichischen Staatsschulden?
Staatsschulden werden meist im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgedrückt und liegen derzeit – nach einem spürbaren Anstieg im letzten Jahr – bei ca. 84 Prozent des BIP, das sind ca. 315 Mrd. Euro. Aufgrund der außergewöhnlichen Wirtschaftskrise betrug das Budgetdefizit letztes Jahr laut vorläufigen Zahlen mehr als 10 Prozent des BIP. Das Jahr 2020 war das erste Jahr seit vielen Jahrzehnten, in denen die globale Volkswirtschaft insgesamt geschrumpft ist.

Was ist beim Budgetdefizit zu beachten?
Das letzte Jahr, und je nach Verlauf der Pandemie, wohl auch 2021, ist durch gedämpfte wirtschaftliche Aktivität gekennzeichnet, dies führt zu hohen Budgetdefiziten – teilweise aufgrund der Finanzierung von Maßnahmen wie die Kurzarbeit. Die mehr als 10% des BIP im letzten Jahr sind folglich als Ausnahme zu verstehen.

Grundsätzlich sind bei der Bewertung von Budgetdefiziten zwei Dinge zu berücksichtigen. Erstens, wie ist die Wirtschaftslage im betreffenden Jahr – es ist etwas anderes, ob eine Krise vorherrscht, oder ob öffentliche Haushalte in Boomjahren mit einem Defizit bilanzieren. Zweitens, ist zu beachten, wofür die öffentlichen Ausgaben verwendet werden. Ein höheres Budgetdefizit wegen steigender Ausgaben für verbesserte Infrastruktur ist anders einzuordnen als bspw. die Finanzierung konsumorientierter „Zuckerl“.

Welche Rolle spielt die Wirtschaftskraft einer Nation?
Für die Tragfähigkeit von öffentlichen Schulden ist der Vergleich mit der Wirtschaftskraft zentral, daher betrachtet man die Staatsschulden meist im Vergleich zum BIP. Das entspricht grob dem In-Beziehung setzen von Schulden mit Einkommen bei Privatpersonen. Vermögenswerte dienen oft zur Besicherung, sind aber auf staatlicher Ebene schwer abzuschätzen und einzugrenzen.

Solange die Staatsverschuldung als langfristig tragfähig eingeschätzt wird, können sich Staaten günstig auf dem Anleihenmarkt finanzieren. Österreichische Anleihen sind so begehrt, dass sogar Anleihen mit negativer Verzinsung platziert werden konnten. Dass Österreich als gut aufgestellt gilt, erkennt man auch daran, dass österreichische Anleihen selbst am Beginn der Pandemie nur mit einem sehr kleinen Risikoaufschlag im Vergleich zu deutschen Bundesanleihen gehandelt wurden. In der Eurozone werden deutsche Bundesanleihen zu den niedrigsten Renditen, also als sicherste Staatspapiere, gehandelt.

In welchem Gesamtkontext stehen Staatsschulden?
Bei der Bewertung gehen die erwartete wirtschaftliche Entwicklung und ggf. die Krisenwahrscheinlichkeit ein, langfristig auch Aspekte wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit oder die Bevölkerungsstruktur bzw. -alterung. Es gilt, je unterschiedlicher Länder sind, umso weniger aussagekräftig ist der direkte Vergleich von Staatschuldenquoten. Als einige der neueren (ehemals planwirtschaftlichen) Mitglieder 2004 der EU beitraten, lag die österreichische Staatsschuldenquote knapp über 65 Prozent, während die baltischen Länder aus historischen Gründen Quotienten unter 20 Prozent mitbrachten. Die direkte Gegenüberstellung bot damals wenig Aussagekraft. Je länger Länder in einem gleichartigen System verweilen und je mehr sie sich in den Rahmenbedingungen ähneln, desto mehr Erkenntnisse liefert der Vergleich.

Gibt es ein optimales Verhältnis von Ausgaben zu Einnahmen?
Staatliche Leistungen und Ausgaben sind (in Demokratien) prinzipiell das Ergebnis kollektiver Willensbildung über Wahlen und die entsprechende Zusammensetzung der Parlamente. Demgemäß kann ein, schwer zu fassendes, Optimum in unterschiedlichen Ländern aber auch in unterschiedlichen Perioden sehr unterschiedlich ausfallen.

Um nicht in Staatsschuldenkrisen zu versinken, ist es sicherlich geboten, keine zu hohen Defizite und Schuldenquoten anzuhäufen, und einen möglichst hohen Anteil der Staatsausgaben für langfristig positiv wirksame investive Zwecke zu verwenden. Steigende Wettbewerbsfähigkeit, bessere Infrastruktur, besser ausgebildete Menschen tragen ja dazu bei, dass Staatsschulden später leichter zurückgeführt werden können.

In der öffentlichen Diskussion, vor Wahlen und in Krisenzeiten ist die Wirtschaft immer wieder ein Reizthema. Dennoch hält sich hartnäckig der Eindruck eines nebulösen, schwer greifbaren Konzepts. Wie kann “economic literacy” helfen?
Ich denke, es wäre wichtig solides Wissen über „die Wirtschaft“ zu einer normalen Tugend Erwachsener zu erklären. Die Kombination aus Unwissenheit über wirtschaftliche Mechanismen und die große Wirkung von wirtschaftlichen Mechanismen auf unser aller Leben – dazu müssen wir ja nur die Pandemie betrachten – erhöht die Wahrscheinlichkeit, falsche Entscheidungen zu treffen.

Vor diesem Hintergrund sehe ich „economic literacy“, also die Fähigkeit, Ereignisse, die unser wirtschaftliches Umfeld prägen, zu verstehen, darüber zu diskutieren und angemessen darauf zu reagieren als einen Beitrag oder als eine Dimension der Mündigkeit von Bürger*innen.

Ein wichtiger Aspekt scheint mir auch zu sein, stärker zu vermitteln, dass viele Ereignisse mit Unsicherheit behaftet sind. Damit können viele scheinbar nicht gut umgehen, und lassen sich deshalb auf vermeintlich einfache Erklärungen ein. Wir sollten unsere Fähigkeit trainieren, mit Unsicherheit umzugehen und zu akzeptieren, dass viele Fragen nicht abschließend oder binär beantwortet werden können. Die Zukunft nicht in allen Details zu kennen, bedeutet ja nicht, dass man nichts weiß.

Um Unsicherheit zu reduzieren ist es wichtig, auch und insbesondere in Krisenzeiten, möglichst klar, konsequent und unter Beschreibung der Unsicherheiten zu kommunizieren. Schon diese Quantifizierung bzw. Beschreibung leistet einen Beitrag zur Minderung der Unsicherheit. Weniger Unsicherheit wirkt sich generell positiv auf wirtschaftliche Aktivität aus, dies kann mithelfen Krisen besser zu überwinden.

Zur Person



Martin Wagner ist seit Oktober 2019 Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Makroökonomik. Zudem ist er Chief Economic Advisor des Gouverneurs der slowenischen Notenbank. Seine Forschungsschwerpunkte sind Quantitative Ökonomik, Ökonometrie und empirische Umweltökonomik.


Martin Wagner


für ad astra: Karen Meehan