Lotteriefantasie und die Geschichte vom Glück

Wer träumt nicht von Reichtum und Glück? Ein internationales Forschungsteam, dem auch die Romanistin Angela Fabris angehört, untersucht die Entstehung der nationalen Lotterien und der Glücksspielfantasie in Europa vom 18. Jahrhundert bis heute.

Im Europa des 18. Jahrhunderts entstanden staatliche Lotterien, die nicht nur bald als Finanzierungsinstrument an Bedeutung gewannen, sondern auch bei der Bevölkerung ein beliebter Zeitvertreib waren. Eng mit diesen Aspekten verbunden ist die Entstehung einer kulturellen Figur, die als „Lotteriefantasie“ bezeichnet wird.

Angela Fabris vom Institut für Romanistik beschäftigt sich in einem vom Research Council of Norway geförderten Projekt mit der Glücksspielfantasie ab dem 18. Jahrhundert. „Die Lotteriefantasie ist der Traum von finanzieller Verbesserung und sozialem Aufstieg durch eine plötzliche, lebensverändernde Wendung des Schicksals durch einen beträchtlichen Lotteriegewinn“, erklärt Angela Fabris. Obwohl Gewinnfantasien in der Literatur, im Theater, in den Zeitschriften, in der bildenden Kunst und in den Medien immer wieder auftauchen, haben sie in der Wissenschaft wenig Beachtung gefunden. Auf gesellschaftlicher Ebene spielten die nationalen Lotterien jedoch in fast allen modernen europäischen Volkswirtschaften eine wesentliche Rolle. Ihr Aufkommen im 18. Jahrhundert war eng mit der Entwicklung des Finanzsystems und der Kreditwirtschaft verbunden. Und nicht nur das: Sie haben in der Vergangenheit auch zur Finanzierung bestimmter staatlicher Initiativen, von Kriegen und imperialen Expansionen beigetragen. Auf individueller Ebene nährte das Lottospiel hingegen die Träume vom sozialen Aufstieg von Männern und Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Ferner entwickelte sich daraus eine Wettkultur, in der beispielsweise Prognosen zu politischen Wahlkämpfen oder sportlichen Bewerben getroffen werden.

„Die Lotteriefantasie ist in ihrer Langlebigkeit einzigartig: Sie wurde im 18. Jahrhundert erfunden und ist auch heute noch grundlegend für den Erfolg der Lotterien.“ (Angela Fabris)

Ziel des auf drei Jahre angelegten Projekts ist es, neue Erkenntnisse über die historischen, sozialen, kulturellen, politischen und finanziellen Auswirkungen der Lotteriefantasie in Europa ab dem 18. Jahrhundert zu gewinnen.

„Es geht darum“, so Fabris, „zu untersuchen, wie Lottogewinnfantasien in der europäischen Kultur beschrieben, erzählt und überliefert, aber auch kritisiert und parodiert wurden.“

Die interdisziplinäre Projektgruppe, bestehend aus fünf Expert*innen aus England, Norwegen, den Niederlanden, den USA und Italien/Österreich, wird von Marius Warholm Haugen (Norwegian University of Science and Technology in Trondheim) geleitet. Angela Fabris untersucht hierbei Glücksspielfantasien in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen: in literarischen Texten wie Theaterkomödien, Briefwechseln, Tagebüchern und Autobiografien, aber auch in Zeitschriften und Kunstwerken des 18. Jahrhunderts in Frankreich, Italien und Spanien.

Lotterie in Venedig im 18. Jahrhundert

Il lotto hatte die Macht, Träume von lebensveränderndem Reichtum zu wecken. Das Lotteriesystem verbreitete sich daher im Laufe des 18. Jahrhunderts in Venedig sehr rasch, denn hier wurde sowohl öffentlich im „Ridotto“ (venezianisches Casino) als auch privat in den Palästen gespielt. Der Karneval, der von Oktober bis März dauerte, begünstigte diese Praxis. „Die venezianische Lotterie war mit anderen Worten Teil einer weit verbreiteten Glücksspielkultur“, sagt Angela Fabris. Die Lotterie übte eine starke Anziehungskraft auch auf die unteren Bevölkerungsschichten aus, da sie ihnen die Hoffnung auf einen möglichen finanziellen und sozialen Aufstieg bot.

„Die Lotterie löste eine breite soziale Anziehungskraft aus.“ (Angela Fabris)

Im Gegensatz zu anderen Formen des Glücksspiels war es hier nicht notwendig, adelig, reich, intelligent oder kultiviert zu sein; die Lotterie stand allen Gesellschaftsschichten offen. „Im 18. Jahrhundert wurden die Privilegien zum ersten Mal infrage gestellt. Die Gesellschaft gewann eine gewisse Mobilität und die Strukturen waren nicht mehr so starr. Städte wie Venedig begannen, sich zu kommerzialisieren, und das Glücksspiel gewann in dieser Atmosphäre an Bedeutung“, beschreibt Angela Fabris die sozialen und politischen Veränderungen in Venedig im 18. Jahrhundert.

Lotterie als kulturelles und literarisches Motiv

Der finanzielle und soziale Aufstieg machte die Lotterie zu einem beliebten kulturellen und literarischen Motiv in der venezianischen Literatur. Angela Fabris wurde in den Texten des 18. Jahrhunderts von Carlo Goldoni, Pietro Chiari sowie Giacomo Casanova fündig. Die Autoren setzten sich mit der Lotteriefantasie literarisch auseinander und stellten die Realitäten der damaligen Zeit dar. „Die schillernde Figur Casanovas führte die Lotterie in Paris ein, er finanzierte eigene staatliche Projekte damit und natürlich auch sich selbst“, sagt Angela Fabris und bezieht sich auf seine autobiografischen Memoiren „Histoire de ma vie“ (1789–1798). Carlo Goldonis Komödien „La donna di garbo“ (1743) und „La bottega del caffè“ (1750) beschreiben die negativen Auswirkungen der Spielsucht, der auch der Autor selbst zeitweise erlag.

Die Romanistin verweist in diesem Zusammenhang auf eine Besonderheit des 18. Jahrhunderts: die „Moralischen Wochenschriften“; diese periodisch erschienenen Zeitschriften stellten eine neue Form der Publikation dar und richteten sich an das bürgerliche Lesepublikum. In Venedig war dies die „Gazzetta Veneta“ (1760–1761) von Gasparo Gozzi, der darin die Lottozahlen veröffentlichte und so die Sehnsucht der Venezianer*innen nach Veränderung schürte.

Für Fabris haben die Geschichten von Chiari, Gozzi und Casanova eines gemeinsam: Das einfallsreich dargestellte Lottospiel kompensiert oder mildert die Nachteile von Geburt, Klasse und sozialer Stellung. Daher fehlte es nie an Spieler* innen; so betitelte Pietro Chiari 1757 einen seiner Romane mit „La giocatrice del lotto ovvero Memorie di madama Tolot“, wobei der Name der Protagonistin bezeichnenderweise ein Anagramm des italienischen Worts Lotto ist. Die Spuren der Lotteriefantasie finden sich darüber hinaus auch in Kunstwerken des 18. Jahrhunderts wieder, wie etwa in verschiedenen Gemälden von Pietro Longhi, die den „Ridotto“ darstellen. Auch diese sind Teil der Forschung.

Die Lotterie wurde einerseits als Verbindung zwischen Fleiß, Beständigkeit, Glück und Gewinn, andererseits als wirtschaftliche Ausbeutung der leichtgläubigen Bevölkerung gesehen. In Venedig, wie auch in anderen maritimen Handelsstädten wie Genua und Antwerpen, waren die religiöse Kritik an der Lotterie sowie der moralische Diskurs darüber jedoch weniger ausgeprägt als in anderen europäischen Städten. In einigen Fällen findet sich aber auch die Hell-Dunkel-Darstellung der Fantasiegestalt der Lotterie.

Doppelmoral der Lotterie

Die Lotterie hat die Macht, lebensverändernde Träume von Reichtum zu wecken. „Sie ist aber gleichzeitig von einer Doppelmoral geprägt, nämlich der Spielsucht und ihren sozialen Folgen“, erklärt Angela Fabris. Diese Probleme sind nach wie vor relevant, auch wenn sie heute von anderen politischen, sozialen und psychologischen Diskursen geprägt sind. Die von Angela Fabris bisher untersuchten Werke zeigen, dass im venezianischen Kontext der Zufallscharakter, die Wettbewerbsfähigkeit und die Abhängigkeit von der Lotterie präsenter waren als die Ideale der Geschicklichkeit und des Verdiensts. Aus diesem Grund setzte sich die Darstellung der negativen Seiten des Lottospiels in den Texten des 18. Jahrhunderts durch. Diese Motive zusammen mit der Sehnsucht nach wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg begleiten die Geschichte der Lotteriefantasie durch die Jahrhunderte und über nationale Grenzen hinweg.

Im Rahmen des Projekts gibt es noch viel zu recherchieren. Angela Fabris plant im nächsten Schritt eine Analyse der visuellen Darstellung der Lotteriefantasie in der Werbung des 21. Jahrhunderts. Die Ergebnisse des Gesamtprojekts werden über Social Network (Blog und Instagram) vermittelt und am Ende in einer Publikation mit dem Titel „The Invention of the Lottery Fantasy: A Cultural, Transnational, and Transmedial History of European Lotteries“ veröffentlicht. 2024 werden dazu eine internationale Konferenz in Bergen und zuvor Workshops in Paris, Utrecht, Oxford und Venedig stattfinden.

für ad astra: Lydia Krömer

Zur Person


Angela Fabris studierte an der Universität in Triest, Italien, und habilitierte sich 2012 in Romanischer Literatur an der Universität Klagenfurt. Sie ist assoziierte Professorin für Romanische Literatur und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik. Ihr Forschungsfokus liegt sowohl auf der italienischen und spanischen Erzählliteratur des 14., 17., 18. und 21. Jahrhunderts als auch auf dem Filmgenre, dem Raumdiskurs und auf Mittelmeerstudien. Sie ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen und Herausgeberin der wissenschaftlichen Reihe AAIM, De Gruyter. Seit drei Jahren ist sie auch Visiting Professorin an der Università Ca’ Foscari Venezia.