Helene Gattereder – Wann endlich kämpfen?

Helene Gattereder

Wann endlich kämpfen?

Seine Augen sind dunkel, sanft, wie seine Stimme. Er steht gerade da, die Hände wie immer am Rücken verschränkt steht er in der Tür zum Trainingsraum. Und während sie versucht, sich an ihm vorbei zu drücken, hört sie ihn sagen: „Wann wollen sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

Was hat er gesagt?

Er spricht schlecht Deutsch, aber sie hat es genau verstanden.

„Es ist so wichtig zu kämpfen, so viel Potential – und Sie wollen nicht kämpfen“!

 

Vor einer Woche war sie in seinem Büro und hat ihm mitgeteilt, dass sie die Freikampfübungen, die dreimal pro Woche zum Trainingsprogramm gehören, nicht mehr machen will.

„Ich mag nicht, gibt’s nicht“, hat er gesagt. Aber dann hat er ihr doch zugestanden: „Na gut, aber ab und zu doch“.

Dabei war sie grade so stolz auf sich, dem Großmeister ein Ich-Mag-Nicht entgegengesetzt zu haben. Fühlte sich stolz. Endlich nicht mehr so winzig, unwissend und verschreckt. Und jetzt das. Alles in ihr wird eng, wieder nicht durchgehalten, sie weiß ganz genau, sie wird nachgeben. Sie geht auf und ab wie in einem Käfig, dann fällt ihr endlich eine Antwort ein.

„So klein fühl ich mich, wenn ich das machen muss“, sagt sie und deutet die Größe mit Daumen und

Zeigefinger an. Aber das interessiert ihn herzlich wenig, und solche Sätze hört er sowieso nicht gern. Sein Körper zeigt ganz kurz Unwillen und Abwehr. Sie merkt das sofort, sie hat gelernt, auf solche Zeichen zu achten. Er wird aber gleich wieder sanft.

„Es ist so wichtig, zu kämpfen!“, betont er wieder.

Sie geht immer noch auf und ab, die Luft stoßweise und seufzend herauspressend. Dann ein Blick in seine Augen, ganz hinten das Lächeln, das sich jetzt auch bei ihr bemerkbar macht. Er hat ja recht. Wann werde ich wirklich anfangen zu kämpfen? Nicht verteidigen, kämpfen!

„Also gut, ich mach‘s wieder“, sagt sie. Warum tut sie so, als würde sie ihm einen Gefallen tun? Es ist ja wichtig für sie. Sie kann sich nicht beruhigen, immer noch rebelliert sie innerlich. Im Auto spricht sie mit sich selbst, weint und schläft dann auch schlecht.

„Wann wollen Sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

 

Wie war das damals?

Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, wohnt am Land. Der Bus fährt immer zehn Minuten nach der Stunde in die Landeshauptstadt. Vierzig Minuten dauert die Fahrt in jeweils eine Richtung, hin und zurück, in die Bezirksstadt sind es zwölf Minuten. Aber dort ist es das Gleiche. Jeder kennt jeden, kein ordentlicher Gesprächsstoff, kaum einer liest ein Buch und die ehemaligen Schulfreundinnen kennt sie kaum mehr. Sie war ja schon viele Jahre nicht mehr hier. Ihr Mann ist Vertreter, auch dann unterwegs, wenn es nicht geschäftlich ist. Mit Freunden, Kumpanen, mit Männern, die gerne trinken, was sie überhaupt nicht mag. Sie ist die ganze Woche allein mit dem Kind in dieser armseligen Behausung.

Zimmer, Küche, Wasser aus dem Ziehbrunnen, den sie vor der Kälte schon im Herbst einwintern muss und der dann doch einfriert und mühselig von ihr immer wieder mit heißem Wasser, das sie oben in die Öffnung beim Schwengel einfüllt, aufgetaut werden muss. Er ist ja nicht da, er fährt mit dem Firmenauto durch die Gegend, schläft in guten Hotels, bringt ab und zu fremde Damen- und komischerweise auch Herrenwäsche nach Hause. Sie tobt. Aber sie weiß ganz genau, sie wird, wie immer, nichts Ernsthaftes unternehmen.

Das Plumpsklo ist eigentlich kaum auszuhalten. Im Sommer stinkt‘s erbärmlich und im Winter friert einem der Arsch ab, wenn man erst durch den frisch gefallenen Schnee stapfen muss, um auf den grauslichen Brettern zu hocken. Und die Mäuse, die ihr durch Kratzgeräusche nachts schreckliche Angst einjagen bis sie endlich weiß, woher diese Geräusche kommen, sitzt sie vor dem Fenster, mit einem Messer in jeder Hand und wartet auf den vermeintlichen Einbrecher. Er muss ja nur einen großen Schritt machen, um über diese niedrige Mauer zu kommen. Alles ist feucht. Die Vorhänge frieren im Winter an der Schlafzimmermauer an. Die kann man erst im Frühling wieder in die richtige Stellung bringen, weil sonst ja alles reißt. Aber es glitzert immer schön, wenn man das Licht einschaltet.

Es ist Freitag, Mitternacht. Er ist wieder von seiner Wochentour zuerst zu seiner Mutter gefahren, hat Freunde getroffen und wird nach Alkohol riechen, wenn er nach Hause kommt. Wird mit ihr schlafen, weil sie glaubt, es ihm schuldig zu sein, weil er ja das Geld verdient und sie froh sein muss, so eine gute Partie gemacht zu haben. Angestellter, das ist schon was, und sie doch aus so einem Milieu kommt. Der Vater Knecht, die Mutter, ein abgelegtes Kind einer Vagabonda bei Bauern. Beide sind Kinder von nicht bekannten Vätern. Nicht nur die Kriegsjahre haben beide gewalttätig gemacht. Das Leben mit fünf Kindern auf Zimmer und Küche bringt schon eher die dunklen Seiten der Menschen zu Tage. Da sind dann Menschen, die zwar auch auf Zimmer und Küche aufwachsen, aber dafür Wasser und ein eigenes WC am Gang hatten, und nur zwei Kinder aufzogen, Privilegierte. Dazu kommt noch, dass er die Hauptschule besuchen durfte.

Nach einem Jahr kam es zum Umzug in eine kleine Wohnung in einem Schloss -Nebengebäude in der Stadt. Wieder Plumpsklo, aber im Haus unter der Stiege. Wieder Mäuse, die werden aber mit Schuhen, die vorsorglich vorm Schlafengehen am Nebenbett deponiert sind, vertrieben. Die Katzen warten schon jeden Morgen vor der Wohnungstüre auf die in den Fallen gefangenen Mäuse. Dann endlich. Eine richtige Wohnung. Dritter Stock, in Villach. Hell, klein aber mit Parkettboden, richtiger Küche, eigenes WC.

Astrid, das zweite Kind wird mit einem Herzfehler geboren, was man ihr aber erst sagt, nachdem sie beim Arzt vorstellig wird, wo denn die Vorladung zur Pockenimpfung bleibt. Die gibt’s nicht für dieses Kind, das hat einen Herzfehler.

 

Beatrix Haidutschek – Dazwischen Liebe.

Beatrix Haidutschek

Dazwischen Liebe

Die Geschichte der Begegnung von Rudolf Haidutschek und der jungen Ingeborg Bachmann während des Zweiten Weltkrieges

 

 

 

Im Zimmer Nummer Sieben des Pflege- und Seniorenheimes fällt gelbes Herbstlicht durch das angelaufene Glas der Balkontüre auf den in der Mitte stehenden Tisch. Ein praktisches Modell. Gerade Formen, abwischbare Kunststoffplatte, zeitlos, beige. Rudolf, seit dem letzten Schlaganfall verwirrt, betrachtet im Sessel vornübergebeugt die vor ihm liegenden, ausgeschütteten Schwarzweißfotografien aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Kleine Bilder mit gewelltem Rand von einer erstaunlichen Schärfe und Qualität. Lange, sehr lange Zeit hat er sie in einer ehemaligen Rasiercremeschachtel, schwarz mit aufgedrucktem Blumenmotiv aufbewahrt. Diese ist mit ihm mehrmals umgezogen und zuletzt, wahrlich zuletzt hier an dieser Endstation seines intensiven Lebens angekommen. Bis zum heutigen Tag waren sie geordnet, teilweise auf der Rückseite beschriftet. Mit Bleistift in akkurat nach rechts gerichteten Buchstabenfolgen und mit Jahreszahlen versehen. Jetzt in blassen, kaum leserlichen Wortinseln verschwommen.

 

Seine Tochter ist auf Besuch. Sie fuhr mit dem Auto aus Klagenfurt nach Arnoldstein. Vierzig Minuten Fahrtzeit auf der Autobahn, gefühlsmäßig eine Ewigkeit.  Sie sitzt ihrem Vater gegenüber wie in einem anderen Raum, getrennt durch die Glasfront der Erinnerungen.

 

Er greift Richtung eines einzelnen Fotos, trifft nicht, schüttelt den mit reinweißem Haar bedeckten Kopf, berührt mit seiner rechten Hand, die seit dem Krieg wie taub ist, sein Kinn und versucht es erneut. Obwohl Schweiß seine Stirn bedeckt und ihn diese Handlung offensichtlich anstrengt. Schwerstarbeit für Geist und Körper. Bilder fallen dabei zu Boden, sie fallen wie nasse Herbstblätter, wollen liegen bleiben. Er bemerkt es nicht. Wiederum ein Versuch. Der „Schwarzweißhügel“ in der Mitte des Tisches bildet einen Krater, wird umgerührt. Sie verharrt regungslos, um ihn nicht zu stören und beobachtet bei sich denkend was er wohl sucht.

 

Im Raum ist das laute Atmen seiner im Bett liegenden Frau zu hören. Zu Mittag muss sie ihren Körper ausruhen lassen, denn tagsüber verbringt sie ihre Zeit im Rollstuhl sitzend. Sie möchte schlafen, rasten.

„Was machst du denn schon wieder?“

Sie kennt ihren Mann schon zweiundsechzig Jahre und spürt seine Unruhe beinahe körperlich.

„Gib doch endlich einmal Ruhe!“

 

Das Fallen der Bilder ist lautlos. Rudolf ist versunken in seinem Fischen nach seinen Geschichten. Seine Sprechweise ist seit dem letzten Schlaganfall verändert. Anfangs schwer verständlich, doch mit längerem Reden besser.

Da, er hat ein Bild gefunden, in seiner Hand. Beim Betrachten richtet sich sein Körper unmerklich auf.

„Da bin ich mit der Inge!“

Sein linker Zeigefinger zeigt auf das kleine Papier in seiner rechten Hand.

„Hab ich dir schon von der Inge erzählt?“

Seine Frau reagiert unvermutet schnell: „Wer will das schon wissen? Deine alten Geschichten, immer dieselben!“

Vater blickt auf, schweigt dazu und macht mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, ohne jedoch das Bild von Inge aus den Augen zu verlieren.

Er sieht seine Tochter an und ist für einen kurzen Moment wieder da. Der Vater mit seinem Blick, dem klaren Blick aus seinen ausdrucksstarken hellen Augen.

 

Die Zeit scheint still zu stehen. Langsam zieht es die Tochter in ein vergangenes Geschehen. Bild verbindet sich mit Bild, wird zu fortlaufenden Szenen.

 

Er hat ihr schon von Inge erzählt. Geschichten verbinden sich mit dem Foto und aus diesem erwächst ein Stummfilm. Einst durchlaufend vertont, droht dieser Film an verschiedenen Stellen zu reißen, oder er wird durch die Hitze des Vorführapparates schmelzen, zu einem schwarzen, ausgefransten Etwas, einem Loch. Aus dem mittig wiederum ein weißer Fleck, ein freier Raum dahinter sichtbar werden könnte. Ihr scheint es so, als säße sie in einem alten Kino, wo sich langsam der Vorhang vor der Leinwand beiseiteschiebt. Sie wartet.

Ihr Vater räuspert sich und nimmt sie mit in das Jahr 1943.

 

 

Im Hohen Norden

 

Eine Landschaft zeigt sich. Ohne Berge, Flachland mit hin und wieder eingestreuten Hügeln, bedeckt von weißem Schnee bis an den Horizont. Von Schneeverwehungen versteckte Krüppelbirkenhaine, vereinzelte Felsbrocken, Weite, Kälte, diesiges Licht.

Das Land der Mitternachtssonne. Finnland.

Sie kennt die Bilder ihres Vaters, seine Motive von der Tundra gespeist. Wie ein Puzzleteil setzt sie ihn hinein. Da steht er auf Wache. Später wird er das Lied „Es steht ein Soldat am Wolgastrand – hält Wache für sein Vaterland“ lieben.

Jetzt im Jahre 1943 ist er in einen dicken Innenpelzmantel mit Fellhaube gekleidet. An seinen Füßen Lederschuhe, die steif und kalt bleiben. Nur die in der Heimat von seiner Mutter gestrickten Wollsocken wärmen einigermaßen. Unter den Fußsohlen Eis und Kälte. Zwei Zehen sind erfroren, totes empfindungsloses Gewebe. Hier herrschen Temperaturen von minus fünfunddreißig Grad und mehr.

Die „Eismeerfront“, ein passender Name.

Sie fragt sich: „Was machen diese jungen Männer hier?“ Und ihr fällt ein Spruch von Ludwig van Beethoven ein, den er anlässlich der Uraufführung seiner siebenten Symphonie schrieb:

„Uns alle erfüllt nichts, als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben!“

Damals nach der Völkerschlacht von Leipzig. Jetzt mitten im Zweiten Weltkrieg an der Front, gilt wieder  dasselbe. Frieden scheint uns Menschen weniger zu liegen als der Krieg. Noch zwei Jahre wird er dauern, der totale Krieg – in diesem Jahr ausgerufen. Doch ihr Vater weiß nicht, wie der Krieg ausgehen wird, was aus ihm wird und ob er seine Heimat je wiedersehen wird. Er steht in der Kälte.

 

„Ich war so müde beim Wache stehen. Oft waren es zwei Tage und eine Nacht lang ohne Schlaf. Nichts war so schlimm, wie nicht schlafen zu dürfen.

Vor mir das Feindgebiet, die Russen. Bis auf hundertfünfzig Meter Nähe. Uns Wachen war es verboten, einzuschlafen. Darauf stand die Todesstrafe, denn ein unachtsamer Wachtposten konnte die ganze Kompanie gefährden. Meine Müdigkeit war zeitweise so groß, dass es mir egal war, ob ich dafür erschossen worden wäre.

Die Augen fielen mir zu und ich konnte sie im letzten Moment wieder öffnen. Manche von uns fielen einfach um, blieben schlafend im Schnee liegen, wo man sie dann am nächsten Morgen fand, erfroren. Ich wollte nur mehr schlafen, einsinken in warme weiße Wolkenfelder. In Wärme und Sonnenlicht liegen, geborgen, ohne Bedrohung von Feind oder den eigenen Leuten.“

Vater atmet schwer, reibt wie selbstvergessen seine Hände aneinander und erzählt weiter.

„Stell dir vor, hier herrschte im Winter ein halbes Jahr Dunkelheit mit einer zarten Dämmerung am Morgen. Damals war mir der eisige Wind ein guter Freund. Er schnitt in meine Wangen, drang durch die Fäustlinge, blies von unten in meinen Mantel den Körper aufwärts. Um nicht zu frieren, bewegte ich immer wieder die Beine von links nach rechts. Wir nannten das den „Tundratango“.

Wenn ich die Nordlichter in ihrer rasch bewegten, wechselhaften Schönheit sah, war ich getröstet.“ Das war endlich Licht, Farbe, unbeschreibliches Himmelsgeschehen.

Er dreht sich zu ihr, sein Blick ist weich, verschwommen, die Stimme bricht, wird rauer.

„Es war ein tägliches Warten auf Unvorhersehbares. Keinen Tag, keine Nacht war ich sicher, ob es meine letzte sein sollte.“

Sie fragt ihn: „Wie konntest du das auf die Dauer aushalten?“

„Ich habe immer im Augenblick gelebt. Dadurch hatte ich das Zeitgefühl ausgeschaltet. Vor dem Tod habe ich mich dann nach dem Krieg nicht mehr gefürchtet. Ich sah seine vielen Gesichter und habe später auch im Lazarett die Sterbenden betreut und sie bis zu ihrem Ende begleitet. Sie hatten letztendlich friedliche Züge und ihr letztes Wort war oft „Mama“. Man gewöhnt sich an Vieles.

Ich habe das Glück gehabt, unverletzt aus dem Krieg zurückzukommen. Seit dieser Zeit habe ich kein Problem mehr mich mit dem Tod auseinanderzusetzen.“

 

Mutter meldet sich wieder.

„Red‘ nicht schon wieder vom Krieg! Als ob es nichts anderes als Tod und Verderben gibt, ich kann es nicht mehr hören, deine ewigen Kriegsgeschichten!“

„Du hast ja recht, es gab auch heitere Momente.“

Wie schnell er eine Wendung vollzieht, wenn Mutter sie einfordert. Sie beobachtet wie Vater ein Lächeln auf sein Gesicht setzt und die Geschichte ins Positive lenkt.

Niemals will er Streit und Konfrontation. Harmonie ist sein Wunsch, auch wenn es Verzicht auf seine echte Gefühlswelt bedeutet. Also steckt er Gedanken, Worte über den Tod wieder weg und erzählt vom Holzstehlen, Schachspielen im Bunker.

Aber so leicht lässt sich die damalige Wirklichkeit nicht verstellen. Es drängt ihn zu reden. Da ist die Tochter, die heute zuhört. Das will er wahrnehmen.

„Die Briefe, das war immer ein Höhepunkt.

Die Post aus der Heimat. Manchmal kam sie wöchentlich, dann dauerte es wieder vierzehn Tage oder länger. Mit der Feldpost Nr. 24880. Briefe von Mama und Vater, meinen Schwestern, von Sophie, Astrid und von der Inge. Mama wollte mich nach dem Krieg mit Sophie verkuppeln, Gerüchte kursierten schon in Klagenfurt, bis ich sie mühsam widerlegen konnte. Ich und heiraten, damals undenkbar.

Aus den Briefen erfuhr ich, was daheim so los war. Ich schrieb nur Belangloses und beruhigende Worte. Viele Lügen, um sie nicht zu beunruhigen. Hätte nichts gebracht, nur Kummer. Sie aber schrieben sich alles von der Seele.

Besonders die Inge.

Sie beschäftigte mich, sie war anders. Schüchtern und dennoch irgendwie stark.

Ihre unschuldige Nähe gefiel mir. Doch ihre Briefe, die waren nicht unschuldig, schüchtern. Sie waren schwer, dunkel, gefüllt mit schwarzem Inhalt und Ideen vom Widerstand.“ Er stockt.

 

Bewegung des Herzens. Nach grauen Tagen. Ingeborg Bachmann

Eine einzige Stunde frei sein!

Frei, fern!

Wie Nachtlieder in den Sphären.

Und hoch fliegen über den Tagen

möchte ich

und das Vergessen suchen—

über das dunkle Wasser gehen

nach weißen Rosen,

meiner Seele Flügel geben

und, oh Gott, nichts wissen mehr

von der Bitterkeit langer Nächte,

in denen die Augen groß werden

vor namenloser Not.

Tränen liegen auf meinen Wangen

aus den Nächten des Irrsinns,

des Wahnes schöner Hoffnung,

dem Wunsch, Ketten zu brechen

und Licht zu trinken—

Eine einzige Stunde Licht schauen!

Eine einzige Stunde frei sein!

 

Inge, Inge sprach sein Innerstes an. Sie vermutet, dass es ihn geschmerzt hat, wenn er ihre Worte las, die klar von der Wahrheit im Krieg erzählten. Die Propaganda entlarvte und inneres Elend zur Sprache brachte. Der damalige Rudolf verbarg seine Emotionen geschickt und färbte sein blasses Gesicht mit einem tapferen rosa Schein, um auf seine Art zu überleben.

Später verstand er ihre Gedichte, doch er las wenig von ihr, der berühmten Frau aus Klagenfurt.

 

„Gib mir bitte ein wenig Wasser, mein Mund ist ganz trocken!“

Sie steht auf, reicht ihm den Becher an die Lippen.

„Danke“, er lächelt sie an.

„Ruh‘ dich etwas aus, ich bin ja da, du kannst auch später fortfahren zu erzählen.“

„Wer weiß, vielleicht vergesse ich bald meine Geschichten.“

Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. Sie muss sich kurz abwenden, um nicht ihre aufsteigenden Tränen zu zeigen. Wie lange noch, wer weiß wie lange noch?

Vater legt sich auf sein Bett. An den Wänden hinter und neben ihm hängen gerahmte Bilder aus seinem Leben. Ein Gruppenbild seines Männerbundes. Er vorne sitzend, das leuchtend weiße Haar und sein Lächeln hebt sich vom würdigen Ernst der übrigen Männerblicke ab. Einige Kinder und Jugendfotografien. Darunter eine Aufnahme im Wiener Prater, als so er um die fünf Jahre alt war. Angetan mit kurzen Hosen, einem Jopperl, im Hintergrund eine gemalte Szene mit See und Säule. Der ernste Blick, vom Fotografen angeordnet. Seine Haare kurz geschoren. Sie kennt die Geschichte dazu. Rudolf hatte einen Onkel und eine Tante in Wien. Diese durfte er manchmal besuchen. So wie in diesem Sommer, als das Foto entstand. Nach dem Stillhalten im Studio darf er mit dem Onkel in den Prater gehen. Rudi ist traurig, denn der Haarschnitt hat ihn tief traurig gemacht. So gehen sie an dem am Eingang stehenden großen Chinesenstandbild – dem Kalafati – vorbei zum Wurstelprater.

Rudi sitzt bald unter vielen anderen Kindern und freut sich auf das Puppenspiel. Der Vorhang öffnet sich und Hanswurst begrüßt die Kinder. Nach dem „Seid ihr alle da?“, ruft er in die Menge: „Jö, schau, da sitzt a Glatzata!“ Alle Kinder blicken auf ihn und lachen. Rudi springt auf und rennt davon. Später gehen sie nach Hause zu Tante Erna, die ihn mit einem warmen Kakao zu trösten versucht.

Dieser ehemals kleine Bub liegt nun als neunzig Jahre alter Mann schwer atmend auf seinem Bett im Pflegeheim. Die Jahre scheinen dahinzufliegen wie weiße Vögel auf ihrem Flug in den Süden. Aus der Kälte in die Wärme und wieder zurück, wenn es Zeit ist.

 

Ihr Vater zieht sich wieder aus dem Heute ins Jahr 1943 zurück.

Mit einem Ruck setzt er sich auf und blickt seine Tochter an.

„Dann hab ich sie getroffen. Ich war auf Heimaturlaub in Klagenfurt. Stell dir vor, was für eine lange Reise. Sechstausend Kilometer mit Schiff und dem Zug bis zum Hauptbahnhof  und zu unserer Wohnung vis-à-vis, der Bahnhofstraße fünfzig.“

Zeit für Begegnungen, die Eltern sehen, im eigenen Bett schlafen, Gemeinsamkeit und Ausgehen, um Mädchen und Freunde zu treffen. Weg von Kälte und Krieg, wenigstens kurzfristig.

 

„Hab‘ ich dir schon gesagt, dass ich ein guter Küsser war?“

„Rudi, hör auf, das ist nichts für deine Tochter!“, macht sich Mutter bemerkbar. Erst jetzt. Früher hat sie mitgehört, zwangsläufig. Sie kann nicht ausweichen, mit sich alleine sein. Außer er malt in seinem Atelier. Sonst sind sie aneinander gebunden. Beide in einem Zimmer, Tag und Nacht.

„Das war doch vor dir, du weißt doch „immer dein Rudi“, ab unserer Verlobung bis heute. Und geküsst hab ich dich ja auch!“

Keine Antwort erfolgt. Sie möchte sich auflösen in diesem Hin und Her, dem noch immer traurigen Spiel entkommen. Dazwischen scheint mein Platz zu sein. Geparktes Ausgleichen, vermitteln, harmonisieren aus tiefer Liebe zu den Eltern, sich selbst vergessend. Sie ist dergleichen müde. Die Tochter als Zünglein an der Waage der Beziehung.

„Die warmen Lippen eines Mädels spüren wollte ich und schöne Worte hören. Inge aber hatte so eine dramatische Ader, so wie du meine Tochter!“

Das brauchte sie gerade noch, eine Verbindung zwischen der Schriftstellerin und ihr. Vergleiche, Verwechslungen, Familienaufstellungen. Bitte nicht heute.

Ihre Lippen schließen sich, der Vater bemerkt es nicht. Er spricht mit und für sich.

Im Innen und im Außen. Das Unerhörte mischt sich mit dem Verlauteten.

Er erinnert einen Abend, holt ihn aus der Versenkung und erlebt aufs Neue.

Das Foto mit ihm und Inge zeigt Wirkung. Wieder einmal.

 

 

 

Rudolf zieht seine Ausgehhose und sein kariertes Sakko an. Er steht in der großen ebenerdigen Küche in der Bahnhofstraße fünfzig.

Am Küchentisch sitzt sein Vater auf der Eckbank und liest in einem Buch. Seine Mutter heizt den Kohleherd ein. Trotz Sommerabend ist es hier kühl und der Zichoriekaffee will noch mit heißem Wasser aus dem Wasserkessel aufgegossen werden. Das Feuer knistert und knackt im Ofenloch. Es riecht nach Holz und Rauch, klammen Mauern und Sparsamkeit. Ein Glas der Küchenfenster ist zerbrochen und notdürftig mit Zeitungspapier verdeckt. Glas ist nicht verfügbar. Aus dem Radio erklingt Liszt. Reichsnachrichten und Siegermeldungen. Ein Aufruf der Winterhilfe, jetzt schon Socken für die Soldaten im Norden zu stricken.

„Die halten leider zu wenig warm“, meint Rudolf, „aber besser wie keine Socken.“

„Ja, damals war ich immer froh Zivilkleidung zu tragen!“

Ich war sehr penibel, was meine Kleidung anbelangte. Das Hemd musste sauber und gebügelt sein, das Sakko ausgebürstet und die Schuhe auf Hochglanz poliert.

Die Bügelfalte meiner Hose war besonders wichtig. Ich legte meine Hose immer unter die Matratze und meine Körperwärme mit meinem Gewicht waren das beste Bügeleisen. Im Innenhof der Wohnung putzte ich meine Schuhe. Dank meiner Schwester, die einen Farbenhändler geheiratet hatte, war auch im Krieg Schuhpasta vorhanden. Draufgespukt-glanzpoliert mussten sie sein.

Später habe ich Inge aus der Henselgasse abgeholt. Zum Feiern mit Freunden bei Ribiselsaft und Ribiselwein. Ich weiß nicht mehr, ob wir damals auch was gegessen hatten, aber unser Lachen und die Gemeinsamkeit beim Tisch sind mir in guter Erinnerung. Auch der Duft der Mädchen und ihre Anwesenheit, so Seite an Seite, vergesse ich nicht. Damals wollte ich Inge bitten den Inhalt ihrer Briefe zu ändern. Keine solchen Gedichte mehr von schwarzen Vögeln und wogenden Leichenbergen.

Mein Lebensmotto war immer „nur der feige stirbt vor seinem Tode“, doch damals war ich feige. Ich war zu feige ihr zu sagen, dass ich ihre Briefe alle verbrannt hatte. So gaben sie wenigstens im Feuer des kleinen Metallofens im Bunker Wärme ab. Wärme, die ich damals so ersehnte.

„Wenn du damals gewusst hättest, wie berühmt sie einmal werden würde…“, meint seine Frau leise, „hättest du sie nur aufgehoben!“

„Bis auf ein paar Mal miteinander ausgehen ist aus uns beiden kein Paar geworden. So hab‘ ich dich getroffen und jetzt sind wir miteinander hier.“

Ruhe erfasst den Raum. Der Krieg verzieht sich wie dieser Abend in die Grauzonen des alten Mannes zurück. Es ist Zeit, die Eltern sich selbst zu überlassen.

Sie drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, dreht sich um und will sich noch von der Mutter verabschieden. Doch diese ist wieder in sich gekehrt und sagt noch: „Danke für deinen Besuch!“ Und sieht wieder verloren vor sich hin.

Sie legt der Mutter behutsam die Hand auf die Schulter und geht aus dem Zimmer. Hinaus auf den Gang. Hinaus aus dem Speisesaal. Hinaus auf den Parkplatz zu ihrem Auto.

Noch kann sie nicht fahren, sich von dem Ort verabschieden. Morgen komme ich wieder, kein Entkommen. Stellungskrieg.

 

 

Helene Gattereder – Bojazl

Helene Gattereder

Bojazl´s Reise nach Wien und nicht mehr zurück

 

Sie weiß ja, sie kann den Frauen von der Fürsorge nicht trauen. Die gut genährten, kräftigen Frauen. Die ihrer Tante, die im Dorf beim Fleischhauer als Dienstmädchen gearbeitet hat, ihr lediges Kind, das bei der Heli in ihrer Familie aufwächst, weggenommen haben. Wie sie in der Sonne neben dem Werkskanal von der Schule nach Hause geht, kommt ihr eine dieser Frauen mit der Kleinen am Arm entgegen. Die Kleine weint und streckt die Arme nach ihr aus, aber die Frau lässt sie nicht einmal das Kind angreifen. Der ledige Vater, bucklig, hässlich, und bei seiner Mutter lebend, hat das Kind beansprucht und bekommen.

 

Und jetzt schon wieder so was.

Ihr Vater, er ist aus dem Krieg als Blinder nach Hause gekommen, der nach der Scheidung in Wien mit einer anderen Frau lebt, hat jetzt zwei seiner fünf Kinder beansprucht. Sie muss mit ihrem großen Bruder nach Wien. Keiner hat sie gefragt, keiner hat ihr was gesagt. „Koffer packen, du fährst nach Wien und gehst dort in die Schule.“ „Jetzt, in den Semesterferien.“

Dann wurde noch schnell ein Foto gemacht, mit ihren Brüdern, hinter dem Haus im Schnee und ihrem Bojazl. Den hat sie im Sommer von der Freundin ihrer Mutter in Maria Saal, die auch Heli heißt, bekommen. Sie hat noch nie ein eigenes Spielzeug gehabt und deshalb liebt sie den natürlich sehr. Mit seiner roten langen Zipfelmütze, den Schlenkerbeinen und-Armen. Mit der schönen weißen Halskrause an Armen und Füßen. Alles Spitzenkrausen. Und sie gibt ihn keine Minute aus ihren Armen. Alle sind traurig, aber keiner weint. Nur Hansi ist den Tränen nahe. Er wird auch später leicht weinen und jung sterben.

Dann geht’s zum Zug. Mit einer Fürsorgerin. Sie ist diesmal aber jung, nett und hübsch.

Während der ganzen neunstündigen Fahrt nach Wien, spricht sie kein Wort. Steht die ganze Zeit am Fenster und schaut hinaus. Am Semmering ist Demarkationslinie. Die Russen kommen ins Abteil, sie fürchtet sich, sagt aber kein Wort.

Es ist Abend, als sie in Wien ankommen. Der Vater mit der neuen Frau holt sie beide ab. Vor dem Bahnhof ist ganz viel Licht, es leuchtet hell und es gibt viele kaputte Häuser.

In einem Vier-Familien-Gemeindehaus sind sie und ihr Bruder jetzt zu Hause.

Die Nachbarfamilie im gleichen Stockwerk hat zwei Buben. Der Vater ist ein bissl komisch. Sie denkt immer, er ist ein Russe. Der eine Bub hat ein schönes Buch, es handelt über Eisenbahnfahrten in alle Länder der Welt und wenn der Vater nach Hause kommt, dann bringt er immer Puppen mit. Er gibt ihr das Buch aber nur dann zum Lesen, wenn sie ihm dafür den Bojazl überlässt. Und als das Buch ausgelesen ist, gibt er ihr den Bojazl nicht mehr zurück.

Die Eltern streiten, Heli weint, aber der Bojazl bleibt für immer in der Nachbarwohnung.

Sie kriegt dann, an ihrem neunten Geburtstag eine Puppe. Sie hat Schlafaugen. Die aber bald stecken bleiben und damit dies nicht bemerkt wird, verschwindet die Puppe in einer Schachtel unterm Bett und wird zum Dauerschlaf verurteilt. Das fällt natürlich auf und wird schnell behoben. Ihre Brüder, die in den Ferien zu Hause sind, machen die Puppe dann ganz kaputt.

Das Zuhause in Wien gefällt ihr gut. Alles ist so sauber und sie hat schöne Kleider. In der Schule nimmt sie ihre Lehrerin einmal mitten aus dem Unterricht, sie gehen zum Direktor. Sie fürchtet sich, aber die Lehrerin will nur dem Direktor zeigen, wie gut sie lesen kann. Sie ist aber froh, als sie wieder in der Klasse war und nichts passiert ist.

In den Ferien darf sie mit ihrem Bruder wieder nach Hause. Sie dürfen aber nicht mehr zurück nach Wien, weil der Vater die Kinder nur gebraucht hat, um schnell und billig eine große Gemeindewohnung zu bekommen. Es war dann aber ein schöner Sommer mit Erika, Elke, Dagmar und den anderen, der einzige Sommer in ihrem Schulleben, den sie nicht bei einem fremden Bauer verbringen musste. Und das war sehr schön.

 

Franz Supersberger – „Schnee ist nicht weiß“.

Franz Supersberger

„Schnee ist nicht weiß“

Zwei Buben, etwa elf Jahre alt, haben sich auf den Stufen einer Eingangstreppe für ein Foto aufgestellt. Hinter ihnen sind die Glastüren eines wahrscheinlich öffentlichen Gebäudes erkenntlich. Der Größere trägt einen Kärntneranzug, darunter ein weißes Hemd, am Kragen zugeknöpft. Der Rock spannt sich um die Mitte, die Ärmel und die Hosenbeine sind schon etwas zu kurz geraten. Es ist anzunehmen, dass er sich im Wachsen befindet und der Anzug ihm zu klein geworden ist. Sein Kumpel trägt eine lange Sommerhose, eine helle Strickweste, ein kariertes Hemd und dazu karierte Socken. Beide lächeln, der Kleinere spitzbübisch mit halbgeöffnetem Mund, der Größere verschmitzt mit geschlossenen Lippen. Der Größere im Kärntneranzug bin ich. Der Anzug wurde vom „Avemichlschneider“ in der Beinten vor meinem Eintritt in das Bischöfliche Knabenseminar Tanzenberg maßgeschneidert. Er hat dabei versprochen, dass er in den Kärntneranzug Stoffreserven einbauen wird, damit der Anzug mit mir mitwachsen kann. Jeweils in den großen Schulferien wird er ihn an meine Körpergröße anpassen.

Es ist ein Sonntagvormittag im Frühsommer, Anfang der 60er Jahre, das erste Schuljahr neigt sich dem Ende zu. Wir stehen vor dem Schulgebäude von Tanzenberg, eine Expositur vom Bundesgymnasium Klagenfurt. Wir besuchen dieselbe Klasse und sind im angeschlossenen Knabenseminar untergebracht. Beide stammen wir aus dem Drautal, der Kumpel aus Paternion, ich aus Ferndorf.  Die Vorfreude auf die großen Schulferien schimmert auf unseren Gesichtern ein wenig durch. Das Internat begeht einen Festtag, den Seminartag. Aus allen Tälern von Kärnten treffen Eltern, Geschwister und Verwandte der Zöglinge ein. Es ist ein Tag der „offenen Tür“, wo für die Besucher die Studier- und Schlafsäle, Waschräume, Musikzimmer, der Speisesaal und andere Einrichtungen geöffnet werden. Von den Schülern der Oberstufe werden Gesangs- und Theateraufführung dargeboten. In einigen Klassenzimmern sind Arbeiten aus dem Zeichen- und Werkunterricht ausgestellt. Am späten Nachmittag bekommen die Gäste im Innenhof des Renaissanceschlosses Tanzenberg eine Jause serviert. In der folgenden Stunde erwarten wir unsere Väter, die sich wahrscheinlich schon während der Zugfahrt begegnet sind. Vor ihnen liegt der Fußmarsch auf der kurvigen Straße, vom Bahnhof Maria Saal auf die Anhöhe Tanzenberg. Wenn sie Glück haben, werden sie von anderen Besuchern in einem Pkw mitgenommen.

*

Eine kurze Lederhose war vor meinem Eintritt in das Knabenseminar den Sommer über das liebste Kleidungsstück. Unverwüstlich und praktisch, weil unempfindlich. Ich konnte mir daran die Hände abwischen, egal wie schmutzig sie waren. Indem sie regelmäßig mit einer Speckschwarte eingerieben wurde, blieb sie geschmeidig. Mit dem Übertritt in das Gymnasium bekam ich eine schönere und feinere Garderobe. Die Internatsleitung hatte den Eltern eine lange Liste mit den benötigten Kleidern und der Wäsche zugesandt. Die Anzahl der Unterhosen, Unterleibchen, Socken, Hemden, Hosen und Jacken, Pullover, Trainingsanzüge, Sporthosen, Handtücher, Hausschuhe, Turnpatschen und Sonntagsschuhe war genau angegeben. Dazu kamen die Bettwäsche, zwei Leintücher, zwei Flanell-Leintücher, zwei Steppdeckenüberzüge und zwei Polsterüberzüge. Die Mutter habe ich zum Einkaufen verschiedener Kleidungsstücke nach Villach, in das Kaufhaus Warmuth, begleitet. In Ferndorf bestiegen wir den Personenzug, setzten uns auf die Holzbänke in der zweiten Klasse und los ging die Fahrt, immer der Drau entlang. Einmal war der Fluss nahe an den Bahngeleisen, ein andermal weiter weg, die Auwälder standen teilweise unter Wasser. Vom Bahnhof marschierten wir über die Draubrücke zum Hauptplatz und betraten das in ganz Oberkärnten bekannte Kaufhaus. Im Erdgeschoß gab es Töpfe, Pfannen, Gläser, Löffel, Messer und anderes Gerät für den Haushalt. Ein Herr im Anzug und mit Krawatte erkundigte sich nach unseren Wünschen und begleitet uns zum Aufzug. Dort erwartete uns ein junger Bursche, welcher den Lift bediente. Mit ihm fuhren wir in die oberen Stockwerke. Die Mutter wurde von eleganten Verkäuferinnen in grünen Arbeitsmänteln begrüßt, die ihr vielerlei Bekleidung zum Aussuchen zeigten. Nach dem langweiligen Anprobieren in mehreren Abteilungen fuhren wir mit dem Lift in das Erdgeschoß. Die ausgesuchten Kleidungs- und Wäschestücke wurden gerade in ein Packpapier mit grünen Streifen zu zwei Paketen verpackt und mit einer grünweißen Kordel verschnürt. Ich erhielt einen Luftballon. Zurück am Bahnhofvorplatz kehrten wir in der Jausenstation ein und die Mutter bestellte zwei Paar Frankfurter mit extra viel Senf. Für die Heimfahrt kaufte sie bei einem Obst- und Süßwarenstand zwei Stück Bananen. In jedes der Kleidungs- und Wäschestücke wurde meine Zöglingsnummer 231 eingenäht. Zum Großteil hat dies meine Schwester gemacht. Die Steppdecken- und Polsterüberzüge zierten ein kleinteiliges Rosenmuster. Ich bekam eine Toilettentasche mit Seife und Zahnputzzeug und einen Wäschesack zum Abgeben der Schmutzwäsche, alles mit der Nummer 231 versehen.

Ich war ein unauffälliger Volksschüler, der gerne in die Schule ging und dafür mit guten Noten belohnt wurde. Zu den Vorzugsschülern gehörte ich nicht. Als eifriger Leser borgte ich mir wöchentlich ein Buch aus der Schulbibliothek aus. Der Schulweg, eine Schotterstraße von St. Paul nach Politzen, war etwa vier Kilometer lang. Dafür brauchte ich über eine Stunde. Erlaubte es die Witterung, setzte ich mich beim Heimgehen am Wegrand nieder und begann im ausgeborgten Buch zu lesen. Das eine und andere Mal wurde ich dabei von vorbeikommenden Nachbarn aufgefordert, nach Hause zu gehen. Bei drei bis vier Mitschülern war es vorgesehen, dass diese ein Gymnasium besuchen. Darunter der Sohn vom Gemeindearzt, die Tochter eines Lehrers und der Sohn vom Betriebsleiter des Heraklithwerk. In der Zeit nach Ostern hat mich der Vater bei der abendlichen Stallarbeit, beim Füttern und Melken der Kühe gefragt, ob ich Lust hätte, in Tanzenberg das Gymnasium zu besuchen. Bei der Pfarrgemeinderatssitzung vor zwei Tagen hat ihm der Pfarrer vorgeschlagen, einen von seinen vier Buben nach Tanzenberg zu schicken.  Der Vater war über das Ansinnen vom Pfarrer sichtlich erfreut. Aus unserer Nachbarschaft, vom Bauernhof vulgo Grabner, ging der Sohn Alois in Tanzenberg zur Schule. Von ihm erhofften sich die Kirchenbesucher, dass er einmal Pfarrer werden wird. Als Ministrant konnte ich ein wenig Latein, vieles nur auswendig. Bis Anfang der sechziger Jahre feierten die Priester die heilige Messe in lateinischer Sprache, das Evangelium wurde auf Deutsch verlesen. Als Ministranten antworteten wir dem Pfarrer auf seine Gebete auf Lateinisch: „Dominus vobiscum. Et cum spiritum tuam.“ – „Im Internat gibt es gleichaltrige Buben und du könntest viel Neues lernen. Alois, der zwei Jahre älter ist, würde sich in den ersten Monaten um dich kümmern. Die Waschräume, Schlaf- und Studiersäle sind beheizt, es gibt Warm- und Kaltwasser“, schwärmte mir der Vater vor. Annehmlichkeiten, die wir am Bauernhof nicht hatten, welche ich aber auch nicht vermisste. Der einzige beheizte Raum im Bauernhaus war die Küche. Unsere Stuben zum Schlafen waren nicht beheizt, wir hatten auch kein Badezimmer. Im Winter wickelten wir um einen Dachziegel, der vorher im Backrohr des Holzherdes aufgewärmt wurde, einige Stofffetzen und nahmen diesen in das Bett mit. Unter dem Bett stand ein Nachttopf, den wir morgens nach dem Aufstehen vor das Haus trugen und in den Abfluss von den Dachabwässern leerten. Am Bauernhaus angebaut war ein Plumpsklo. Für die morgendliche Wäsche stand in einer Ecke der Küche eine Waschschüssel mit warmem Wasser. Beim Wechseln des Wassers wurde das Wasser aus dem Küchenfenster in die Wiese gekippt.

Wenn ich fleißig lerne, könne ich nach der Matura etwas studieren, Rechtsanwalt oder Professor. Nicht alle „Tanzenberger“ werden Pfarrer. Als Rechtsanwalt hätte ich dereinst ein angenehmeres Leben als ein Elektriker oder Schichtarbeiter im Heraklithwerk, ich solle darüber nachdenken, meinte der Vater zum Schluss. Neugierde und die Aussicht auf einen kurzen Schulweg, vom Internat direkt in das Schulgebäude, ließen den Gedanken, von den Eltern und Geschwistern getrennt zu sein, verschwinden. In meine Überlegungen mischte sich ein wenig Stolz, ein Gymnasium besuchen zu dürfen. Unterhielten sich Erwachsene über „Tanzenberger“, dann voller Bewunderung. In den Ferien, vor dem Eintritt in das Marianum, ging ich einmal wöchentlich mit Alois in das Pfarrhaus. Gemeinsam mit dem Pfarrer wiederholten wir den Lehrstoff in Deutsch und Rechnen. Alois verbesserte mit Unterstützung des Pfarrers seine Latein- und Griechischkenntnisse. Mein kindlicher Alltag richtete sich bis jetzt nach den Erfordernissen der Schule und nach den Abläufen am Bauernhof. Das ganze Jahr über sorgten wir Buben dafür, dass die Holzkiste in der Küche gefüllt

und das Wasserschiff im Herd voll war. Vor dem Mittagessen holten wir für den Vater einen Krug Most aus dem Keller und machten dort zuerst einmal einen Schluck. Nach dem Mittagessen blieb ich am Küchentisch sitzen und erledigte die Hausaufgaben. Danach folgte ich, vom Frühjahr bis in den Herbst, den Erwachsenen auf das Feld, den Acker oder in den Obstgarten. Bei den Feldarbeiten kam es vor, dass etwas an Werkzeug, ein Pickel, ein Hammer, ein Krampen oder ein Weidekorb fehlte und ich wurde nach Hause geschickt, um es zu holen. Abends war ich beim Füttern der Kühe behilflich und kehrte mit dem Weidenrutenbesen den Viehstall auf. Beim Melken erzählte ich dem Vater was ich in der Schule gelernt hatte oder übte mit ihm das Einmaleins. Meine besten Freunde waren der gutmütige Hofhund „Wächter“ und der schwarze Kater „Murli“. Es waren meine letzten Sommerferien als Kind, wo alles noch seine Richtigkeit hatte. Kühe waren Kühe, Schafe waren Schafe und das Pferd war ein Pferd.

*

Über Nacht wurden die Eltern von einem Präfekten, einem korpulenten Mann in einem schwarzen Talar, abgelöst. Seinen Anweisungen musste ich jetzt Folge leisten. Meine neuen Brüder waren Buben aus allen Teilen von Kärnten, die genauso verunsichert waren wie ich. Sie kamen aus Dörfern und Tälern, wo ich noch nie gewesen war, die ich nur von der Landkarte kannte. Statt einem Klassenlehrer hatten wir stündlich einen anderen Professor.  Zusätzlich zu den neuen Vorgesetzten kam ein überirdisches Wesen. Für uns Zöglinge eine ganz und gar unheimliche Person, weil dieser nichts verborgen bleibt. Egal ob im Waschraum mit einem Mitschüler darüber gestritten wird, wer als nächster das Waschbecken benutzen darf oder im Schlafraum geschwätzt wird, dem lieben Gott, wie er von dem Präfekten genannt wurde, bleibt nichts verborgen. Selbst böse Gedanken, die ich gegenüber einem Freund hege, weil er mir bei der Hausaufgabe nicht behilflich war oder von seinen Manner Schnitten nichts geschenkt hatte, von alldem wusste Gott. Dem Präfekten blieb bei der Beaufsichtigung von uns viel Ärger erspart, es genügte sein Hinweis, dass Gott alles sieht, auch wenn wir es vor seiner Person vertuschen.

Die Algorithmen der Suchmaschinen und der Onlinehändler ziehen aus unseren persönlichen Aktivitäten im Internet Schlüsse und präsentieren uns unaufgefordert ihre Vorschläge. Sie erstellen ein Angebot für den nächsten Urlaub, den Fahrradkauf und den Flachbildschirm. Großen Widerstand gibt es heute gegen die immer weiter um sich greifende Installation von Videokameras, gekoppelt mit der neuesten Technologie der Gesichtserkennung. Dazu kommen aktuell Vorbehalte gegen die digitale Speicherung von persönlichen Daten, wie Krankenbefunde und Medikamentenkonsum, gegen die Aufzeichnung vom Internet- und Emailverkehr. Für mich, als ehemaligen Zögling, der in einem Klima aufgewachsen ist, wo nach Aussage der Präfekten der liebe Gott alles sieht, auch wenn ich es verheimliche, haben diese Vorbehalte keinen Stellenwert. Die geistlichen Erzieher erklärten mir, dass der liebe Gott auch die geheimsten Gedanken lesen könne. Über diese Fähigkeit verfügen heute die besten Algorithmen nicht. Die Katzen verfügen über die sprichwörtliche Veranlagung, jedes noch so kleine Geräusch wahrzunehmen. Öffnete ich in der Küche einen Müller Joghurt, dann sind die Katzen Charly und Undine, egal wo sie gerade waren, angerannt. Die zu Besuch weilende Enkelin war über diesen guten Gehörsinn erstaunt. Besorgt äußerte sie ihre Bedenken, ob die Katzen ihre geheimsten Gedanken hören könnten?

Im Verhältnis zu den Räumen am Bauernhof waren die Schlafzimmer, der Studiersaal und der Speisesaal im Internat riesig und gewöhnungsbedürftig. Die Räume waren, gemessen an unserer Körpergröße, sehr hoch. Beim Arkadengang rund um den Innenhof reichte unser Kopf gerade bis zur Brüstung und im besten Fall erhaschten wir einen Blick vom Innenhof. Der glatte Steinboden war ideal, um darauf mit den Hausschuhen Schlittschuh zu fahren, aber untersagt. Das ungestüme Laufen auf den Gängen und über die breiten Stiegen, mit dem Verbot des Präfekten im Kopf nicht zu laufen, war ein Ausbruchversuch aus der Hausordnung.  Wer erreichte als erster den Speisesaal oder den Kinosaal? Verschlafen eilten wir frühmorgens zur Heiligen Messe in die Internatskirche. Danach drängelten wir aus der Kirche und stürmten zum Frühstück. Der Tischsenior, eine Kanne dampfender Milchkaffee, Butter und Marmelade erwarteten uns schon. Zu keiner anderen Essenszeit herrschte so geschwind Silentium wie frühmorgens. Vor und nach jeder Mahlzeit ertönte ein Glockenton. Etwa dreihundert Zöglinge standen von den Tischen auf, waren mäusestill und sprachen gemeinsam das Tischgebet. Nach dem Frühstück eilten wir hinauf in den Studiersaal und mit den Schulutensilien in das angeschlossene Gymnasium, ein Katzensprung. Oberstes Gebot war es, keine Schulsachen zu vergessen. Notfalls konnten wir in der Pause etwas aus dem Internat holen. Wenn, durften wir dabei nicht von einem Präfekten erwischt werden, sonst gab es eine Strafarbeit. Es waren unaufgeregte Schultage, außer es stand eine Schularbeit auf dem Stundenplan. An diesem Tag versuchte ich während der Frühmesse mit dem lieben Gott einen Pakt abzuschließen. Für eine gute Note versprach ich, künftig während der Messfeier aufmerksamer zu sein. War es Unverständnis von Seiten Gottes oder war es mein mangelnder Lerneifer, dass sich nicht immer die erwünschte Note einstellte? Hilfreicher war es, wenn ich neben oder in der Nähe von einem besseren Schüler saß.  Kein Kopfzerbrechen bereitete uns Schülern die Inspektionen des Direktors Eggermann aus Klagenfurt, dies war eine Herausforderung für die Professoren. Für eine Inspektion in der Klasse bevorzugte der Direktor die Unterrichtsstunden in Latein, Griechisch und Geschichte. Die geschickten Professoren animierten die Vorzugsschüler dazu, bei den Fragen des Direktors sofort aufzuzeigen. Allgemeine Erleichterung verbreitete sich, verließ der Direktor das Klassenzimmer. Für den Rest der Lateinstunde lockten wir Professor Braunecker mit einer Frage zum römischen Kaiser Augustus aus der Reserve. Er war der bessere Geschichtenerzähler als der Geschichtsprofessor. Sein geschichtliches Wissen war geprägt durch seine Arbeit als Archäologe in Ägypten und Griechenland.

*

Erlaubte es die Witterung, stürmten wir nachmittags in das Freie. Jede Schulstufe hatte am Fuße vom Schloss einen Fußballplatz. Zumeist war es ein Stück Wiese, welche notdürftig zum Fußballspielen adaptiert wurde. Die Fußballfelder der Unterstufe waren leicht abschüssig, dies erschwerte das genaue Zuspielen des Balles. Ich war kein Stürmer, aber als festverwurzelter Verteidiger ganz brauchbar. Manches Mal stolperte ich nicht über den Ball oder die Füße des anstürmenden Gegners, sondern über eine Baumwurzel. Die Oberstufenschüler durften das große, gepflegte Fußballfeld benutzen. Auf diesem wurden an den Sonntagnachmittagen zwischen Schulsportvereinen Freundschaftsspiele ausgetragen. Wir Zöglinge bildeten eine lautstarke Kulisse. Bei einem Fußballspiel konnten die Spieler und wir als Zuschauer unseren Emotionen freien Lauf lassen. Am Sonntagnachmittag gab es für mich die Gelegenheit, in der Nähe vom Fußballplatz im Gras zu liegen und meinen Tagträumen nachzuhängen. Ein Tagtraum beruhte darauf, dass Sonja, eine Mitschülerin aus der Volksschule, meine Eltern fragte: „Stimmt es, dass Franz Pfarrer werden will, wie es die Leute in Politzen erzählen? Dann will ich bei ihm Pfarrersköchin sein.“ Im Frühsommer gab es ein Fußballmatch zwischen den Professoren und den Präfekten. Die ehrwürdigen Professoren, ansonsten immer tadellos mit Anzug und Krawatte, und die Präfekten, ansonsten in ihren langen schwarzen Gewändern, hetzten halbnackt und schwitzend über den Fußballplatz. Für mich ein befremdendes Schauspiel. Wir freuten uns diebisch, kam jemand von ihnen außer Atem oder stürzte.

 

Während der Wintermonate war Fußballpause. In der Nähe vom Schloss gab es einen Hang zum Schifahren, auf dem Schlossteich konnten wir Eislaufen. Im engeren Umkreis vom Marianum in der Winterlandschaft Spazierengehen. Beflügelt durch abenteuerliche Geschichten aus dem Wilden Westen spielte eine kleine Schar aus unserer Klasse in den umliegenden Wäldern Indianer und Siedler. Mit kindlichem Übermut trotzten wir der kalten Jahreszeit und trafen uns auch bei Schneefall und kniehohem Schnee im Wäldchen hinter dem Professorenhaus. Meiner Erinnerung nach war dies eine Schlafstätte für die Junggesellen unter den Professoren. Als Späher vom Stamm der Apatschen bewies ich beim Auskundschaften der Siedlertrecks Geschick. Glückte der Überfall, dann zerrten wir die Bleichgesichter in unser Lager und banden sie an den Marterpfahl. Auf das Anzünden von einem Lagerfeuer verzichteten wir, um die Heimleitung nicht herauszufordern. Mit nassen Hosen bis zu den Knien, durchnässten Socken und Schuhen, kamen wir zurück in das Internat. Daran störte sich niemand. Die Halbschuhe vom Linder Schuster in Ferndorf boten im Winter keinen Schutz gegen Schnee und Kälte. Nur mit einem Pullover und Rock bekleidet verbrachte ich die ersten Winter im Freien.

*

Zu den samstäglichen Ritualen gehörte das gemeinschaftliche Duschen und die Beichte. Über die Wendeltreppe erreichten wir den Duschraum im Erdgeschoss, hinauf ging es in das Dachgeschoß zur Internatsbibliothek. Die Beichte war die Voraussetzung für den täglichen Empfang der Heiligen Kommunion. Bei der Frage nach möglichen Sünden habe ich mir bei der Gewissenserforschung schwergetan. Was sollte ich beichten? Zu den lässlichen Sünden zählten Streitereien und Raufereien mit Mitschülern, Verletzung des Silentiums, Unachtsamkeit während der Messfeier.  Zu den schweren Sünden gehörte der Ungehorsam gegenüber Präfekten und Professoren und die Unkeuschheit, begangen in Gedanken, Worten und Taten. Als Elfjähriger wusste ich nicht, was unkeusche Gedanken und Taten sind. Aus meiner kindlichen Not heraus habe ich wöchentlich den Beichtstuhl gewechselt und immer dieselben lässlichen Sünden gebeichtet. Bei etwa dreihundert sündigen Zöglingen habe ich angenommen, dass sich kein Beichtvater jeden reuigen Sünder und dessen Sünden merken wird.

Für Abwechslung im Internatsalltag sorgte das gemeinsame Fernsehen am späten Mittwoch- und Samstagnachmittag. Jeder Studiersaal hatte einen Fernseher, der nur mit Erlaubnis des Präfekten eingeschaltet wurde. In der Unterstufe konnten wir die Tierserien „Fury und Lassie“ anschauen. Fury beginnt damit, dass Joey den Namen seines Mustangs „Fury“ laut in die Prärie hinausruft. Diesen Ruf vernimmt das Pferd und galoppiert über Stock und Stein zu seinem Freund Joey. Dieser tätschelt den Hals des schwarzen Hengstes und sagt: „Na Fury, wie wär’s mit einem kleinen Ausritt, hast du Lust?“, worauf Fury freudig wiehert und Joey sich auf das Pferd schwingt und beide davon galoppieren. Der Präfekt benutzte die Fernseherlaubnis, um eine Klasse von Jungen zu bändigen. Waren wir während der Studierstunde unruhig und nicht mit Eifer beim Lernen, drohte er uns das Fernsehen zu streichen. Vor Beginn der Sendung stellten wir unsere Stühle in Richtung Fernseher, mussten mucksmäuschenstill sein, dann wurde der Fernseher eingeschaltet.

Nach dem Abendessen und vor der abendlichen Studierstunde gab es die Möglichkeit, im hauseigenen Kiosk Schul- und Toilettenartikel zu kaufen. Der etwa 25 m2 große Raum, im Durchgang vom Internat zur Schule gelegen, wurde durch eine Budel geteilt, dahinter befanden sich die Regale mit den Lern- und Pflegeutensilien. Als Verkäufer agierte der Hausmeister. Schon vor dem Öffnen um 19 Uhr gab es am Gang eine Ansammlung von bis zu dreißig Schülern. Nach dem Aufsperren stürmten alle den Kiosk und für die Vordersten bestand die Gefahr, von den Nachfolgenden an der Budel erdrückt zu werden. Der Kauf einer Zahnpasta, eines Heftes oder eines Radiergummis war für einen Unterstufenschüler eine Geduldsprobe. Bedient wurden zuerst die Schüler der Oberstufe. Die lange Wartezeit war eine Entschuldigung, wenn ich zur abendlichen Studierstunde zu spät gekommen bin.

*

Von der Mutter erhielt ich monatlich einen Brief, wo sie mir die Vorkommnisse von daheim schilderte: Was die Geschwister machten, ob sie gesund waren und wie es ihnen in der Schule ging. Vom Alltag in der Landwirtschaft, dass die Kuh Mirna ein Kalb bekommen hatte und beide wohlauf sind. Der Vater mit dem Pferd beim Schmied in Molzbichl war, um die Hufeisen zu erneuern. Sie war mit der Kutsche in Spittal/Drau und hat in der Lagersiedlung die frisch geernteten Zwetschken und Äpfel verkauft. Die Kartoffelernte musste wegen Regen um einige Tage verschoben werden. Stattdessen haben sie die Krautköpfe eingeschnitten und zu Sauerkraut verarbeitet. Um die Tage von Nikolo kam der Vater mit dem Zug zum ersten Elternsprechtag nach Tanzenberg. Nach den Vorsprachen bei den Professoren und dem Gespräch mit dem Präfekten Kadras, blieb bis zu seiner Heimfahrt noch etwas Zeit und wir spazierten zum nahegelegenen Kollerwirt. In Begleitung eines Besuches war es uns Zöglingen erlaubt, die Gastwirtschaft zu besuchen. Ich trank einen Almdudler und bekam ein Packerl Manner Schnitten.

Außer Alois und mir besuchten noch einige Schüler aus dem mittleren Drautal das Knabenseminar. Der Vater von einem Klassenkameraden hatte einen Pkw-Kombi. Dieser erklärte sich bereit, mich und – soweit Platz vorhanden – noch andere mitzunehmen. Dies hat die Heimfahrt und die Anreise in das Marianum für die Zukunft vereinfacht. Ungeduldig warteten wir vor unseren ersten Weihnachtsferien am Platz vor dem Internat auf seine Ankunft. Zu sechst saßen wir im Auto, der Kofferraum voll beladen und wir hatten noch Reisetaschen am Schoß. Von Ferndorf führte ein schmaler, steiler Güterweg nach Politzen, der unzureichend vom Schnee geräumt war. Der Vater des Klassenkameraden war Landwirt und Viehhändler, mit Erfahrung bei winterlichen Fahrverhältnissen. Dazu verfügte er über eine Portion Gelassenheit und Humor, den er beibehielt, als das Auto im Steilstück in das Rutschen kam. Wir mussten aussteigen und das Auto anschieben. Sein Spruch war: „Mir miaßn schaun, dos ma aufekemman, dos Muatale wortat schoan.“ Vor dem Bauernhaus war der Schnee autobreit freigeschaufelt. Ein schmaler Steig zweigte links zum Hühner- und Schweinestall ab, durch den Torbogen ging es hinab zum Viehstall. Das Elternhaus erschien mir nach dem Aussteigen unscheinbar, die Fenster klein. Die Haustüre war gefühlsmäßig schmal und niedrig, instinktiv bückte ich mich beim Eintreten. Seit Wochen ging ich in einem Renaissanceschloss mit einer riesigen Eingangstüre, die wir Erstklässler nur mit Kraftanstrengung öffnen konnten, ein und aus. In der Labn standen die Eimer für das Schweinefutter, die Milchkannen und an der Wand hing die zerlegte Melkmaschine. An einem Nagelbrett hängen Arbeitsmäntel, Winterjacken und ein Hut. Ein paar Schritte weiter und ich stand in der Küche mit dem großen Holzherd, dem Diwan in einer Ecke, dem Esstisch mit der Eckbank in der anderen. Zwischen zwei Fenstern stand die zweiteilige Kredenz, mit einem Ober- und Unterschrank. Auf einem Türl vom Oberschrank klebte das Kalenderblatt vom Rauchfangkehrer, versehen mit allerlei Notizen. Auf dem anderem Türl steckten hinter einer Holzleiste die Lagerhauslieferscheine, die Streifen von der Stromrechnung und die Abrechnungen von der Molkerei. Am Fußende vom Diwan und an den Enden von der Eckbank lagen Kleidungsstücke vom Vater und den Geschwistern. Unter der Eckbank standen die Arbeits- und Sonntagsschuhe, Stiefel und Hauspatschen. Auf einem Nebentisch stapelten sich alte Ausgaben vom „Kärntner Bauer“ und die Zeitung der Raiffeisengenossenschaft, der Reimmichlkalender, Handschuhe und Mützen, eine Taschenlampe und das Nähzeug. Unbeholfen stand ich inmitten der Küche, schaute zur niederen Decke empor und blickte aus den kleinen Fenstern in die Abenddämmerung hinaus. Das eigene Schreibpult, mein Nachtkästchen und den eigenen Kleiderschrank gab es hier nicht. Der Tagesablauf des Internats war außer Kraft. Soviel Nähe war ich nicht mehr gewohnt. Ich wusste nicht, wo ich meine Tasche abstellen und was ich als nächstes tun sollte. Ich setzte mich dort auf der Eckbank nieder, wo ich früher immer gesessen bin. Die Mutter fragte mich, ob ich hungrig sei. Die Geschwister und der Vater kamen von der Tenne, dem Stall und der Holzhütte in die Küche und schauten mich, den Studenten, neugierig an. Innerlich überlegten sie wohl, ob ich für die Stallarbeit und zum Holzmachen noch tauglich sei. Wächter, der Hofhund, kratzte an der Küchentür und verlangte Einlass. Er begrüßte mich mit wedelndem Schwanz und gab mir die Pfote.

*

Rund um das Schloss Tanzenberg erstreckten sich die weitläufigen Äcker, Wiesen, Obst- und Gemüsegärten der Meierei. Diese belieferte die Internatsküche mit Lebensmittel, Obst und Gemüse. Im Spätherbst haben wir klassenweise die Meierei bei der Kartoffel- und Obsternte unterstützt. Die Kartoffeläcker waren um vieles größer als daheim am Bergbauernhof. In Tanzenberg kamen mechanische Erntehelfer, Kartoffelroder und Traktoren zum Einsatz. Daheim wurden die Kartoffeln in gebückter Haltung mühsam mit einer Haue aus der Erde gebuddelt, hier besorgte es der Kartoffelroder. Das Aufklauben der Erdäpfel erledigten die vielen Kinderhände der Zöglinge. Wir unterstützten die Meierei ebenso bei der Obsternte. Nach getaner Arbeit gab es für uns im Speisesaal eine Jause. Wir bekamen einen heißen Tee, dazu eine Knackwurst mit Brot und Senf. Die häufigste Beilage bei den Hauptspeisen war Kartoffelpüree, danach Reis und Salzkartoffeln. Eine Lieblingsspeise von mir war eine Scheibe Schweinsbraten, dazu Kartoffelpüree mit Soße und ein Teller grüner Salat. Davor bekamen wir eine Suppe, mit Buchstaben oder Frittaten als Einlage, als Nachspeise Apfelkompott. Abends wurde zu einer Schale Milch eine Süßspeise, wie Schmarrn, Palatschinken oder Milchreis serviert. Der Sonntag bescherte uns zum Frühstück Kakao, dazu ein Weißbrot mit Rosinen. Abends gab es heißen Tee und Wurstbrote mit Essiggurken. Der Tischsenior, ein Oberstufenschüler, überwachte die Einhaltung der Tischsitten und sorgte dafür, dass jeder Zögling am Tisch eine gleich große Portion erhielt.

Für die Pause im Unterricht konnten wir morgens ein Stück Schwarzbrot mitnehmen. Am Nachmittag fanden wir bei unseren Jausenfächern gefüllte Brotkörbe vor. Jeder hatte in Studiersaalnähe ein Jausenfach. Für die „Butter auf das Brot“ sorgten die Eltern, die mir regelmäßig ein Postpaket mit einem Stück Speck, Hauswürsteln, einen Becher Marmelade und ein Glas Honig schickten. Dabei war auch eine Schachtel Rupp-Käse, die mit dem blauen Enzian darauf:  Das beste Eck vom Käse. Das Viertel Kilo Butter wurde mit den Wochen ranzig, dies störte nicht im Geringsten. Nach dem Öffnen des Jausenpaketes las ich zuerst den Brief von der Mutter, der zumeist oben auf lag. Danach begann ich nach etwas Süßem zu suchen.

Im Speisesaal spürte ich die Macht des Regens Lex, die er über uns Zöglinge ausübte und zugleich unsere Ohnmacht. Ein bis zweimal in der Woche versah er Dienst im Speisesaal. Bei ihm erhoben sich alle Zöglinge schon mit dem ersten Klingelton von den Bänken, schwiegen und waren bereit für das Tischgebet. Brauchte es einen zweiten oder dritten Klingelton bis Silentium herrschte, mussten wir mit der Streichung einer Vergünstigung rechnen. Dies konnte eine Kinovorführung im Festsaal oder ein Ausflug am Wochenende sein. Die Schuld dafür lag bei uns, die Schuldigen waren unter uns.

*

Einmal wöchentlich hatten wir die Möglichkeit, aus der Internatsbibliothek Bücher mit sittlichem Wert auszuborgen. Die Bücherei befand sich im Ostturm des Internatsgebäudes und war über die Wendeltreppe erreichbar. Beliebt waren in der Unterstufe die Erzählungen von Karl May. Mich haben am meisten Bücher interessiert, in denen die Missionare ihre gefährlichen Einsätze in Afrika, Indien und China schilderten. Ich habe mit ihnen mitgefiebert, wenn sie im Dschungel von den Ureinwohnern mit Giftpfeilen angegriffen wurden. Es gab viele Gefahren, denen sie ausweichen mussten – Giftschlangen, Leoparden und Krokodile. Bei einem Fußmarsch durch den verwachsenen Dschungel konnten sie in eine mit Laub getarnte Grube stürzen und gepfählt werden. Ebenso in eine Wildfalle geraten und kopfüber von einem Ast hängen. Meine Fantasie wurde immer angeregt. Eine „Leseratte“ aus unserer Klasse verschlang einen Karl May Band nach dem anderen und konnte die Abenteuer spannend nacherzählen.

Vor dem Einschlafen knieten wir uns am Bettende nieder, warteten auf den Präfekten und sein Kreuzzeichen auf unsere Stirn. Hatte ich keinen guten Tag oder war ich beleidigt, stellte ich mich schlafend. Danach löschte der Präfekt Moritz das Licht im Schlafsaal, schloss die Tür hinter sich und seine Schritte wurden am Gang immer leiser. Wir waren hellwach und warteten ungeduldig auf die Nacherzählung von der „Leseratte“, zumeist aus den Karl May Büchern. Andermal hat er von den verwegenen Taten der „Seebacher Stierzler“ erzählt. Diese trieben in seinem Wohnort nahe bei Villach ihr Unwesen. Schenkte uns ein Verwandter ein Buch, mussten wir dieses dem Präfekten vorlegen. Dieser hat darüber entschieden, ob die Lektüre jugendfrei war. Meine Schwester schenkte mir das Buch „Lachender Süden“ von Birgit Lindgreen. Darin gab es eine Kussszene, diese wurde vom Präfekten beim Durchblättern übersehen.

Die Diözese Gurk besitzt auf der Flattnitz eine Jugendherberge. Dorthin fuhren wir in der dritten Klasse zu einer Schiwoche. Begleitet wurden wir vom Klassenvorstand Professor Schinner und Professor Seebacher. Professor Schinner unterrichtete uns in Leibesübungen und Deutsch. Bei ihm durfte ich den Mitschülern meine geglückten Aufsätze vorlesen. Ich konnte nicht Schifahren und hatte keine Schiausrüstung. Die Schulleitung stellte mir Schi und Schischuhe leihweise zur Verfügung. Der Schi war von der neuesten Machart und mit einer Sicherheitsbindung ausgestattet. Manche Kameraden blickten neidisch auf meine Brettln, teilweise hatten sie ältere Modelle. Es war ihnen unverständlich, warum ich als Anfänger so tolle Brettln bekomme. Zu Weihnachten hatte ich vom Christkind einen Anorak und Keilhosen bekommen. Meine Schwester schenkte mir eine selbstgestrickte Schi-Haube. Mit dieser Ausstattung konnte auch ich am Schikurs teilnehmen. Die ersten Tage verbrachte ich am sogenannten Idiotenhügel und versuchte sicher auf den Schiern zu stehen. Ich übte das Pflugfahren, erlernte mit Mühe den Stemmbogen, Eines nach dem Anderen. Am vorletzten Tag fuhr ich mit dem Schlepplift, in der Begleitung vom Professor, die Piste hoch.  Oben angekommen lag vor mir eine grauslich steile Abfahrt. Mit Überwindung startete ich von der Bergkante, besiegte meine Unsicherheit und fuhr im Stemmschwung den Hang hinunter. Am letzten Tag gab es einen Riesentorlauf mit Zeitmessung. Ich schaffte es, den Riesentorlauf fehlerfrei zu absolvieren. Von der Fahrzeit her war ich der Letzte. Nach dem Abendessen folgte die Siegerehrung. Als Preise gab es Schokoladetafeln in verschiedenen Größen. Schokolade gehörte unter uns Zöglingen zu den Raritäten und wurde zumeist während der Studierstunde, Riegel für Riegel, vernascht. Versteckt unter ein paar Heften, sodass es dem Präfekten verborgen blieb. Die ersten fünf Preise waren vergeben und noch immer lag eine Tafel Schokolade am Tisch von den Professoren. Da wurde ich vom Professor Schinner aufgerufen und erhielt die eine Tafel Schokolade, weil ich den Riesentorlauf fehlerfrei gefahren war. Vor lauter Freude konnte ich danach lange nicht einschlafen.

*

Auf einem Erdhügel hat sich eine Schulklasse zu einem Erinnerungsfoto zusammengehockt. Der Kleidung, dem Seesack und dem Umfeld nach zu schließen ist es während der Rast bei einem Wandertag. Zwischen den teilweise hochgeschossenen Jugendlichen ist die Lehrperson auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Im Vordergrund steht eine halbvolle Coca-Cola-Flasche, seitlich sieht man Tische und Stühle eines Gastgartens. Einige Jugendliche haben einen Eisbecher in der Hand und schauen selbstbewusst in die Fotolinse: Was kostet die Welt? Der Kumpel, der bei einem anderen Foto mit mir auf den Stufen einer Eingangstreppe steht, hockt in der Mitte und zeigt sein spitzbübisches Lächeln. Der Mann mit dem offenen, gestreiften Hemd ist Professor Schinner. Auf der rechten Bildhälfte lugt mein Kopf in der letzten Reihe, als zweiter von rechts, zwischen zwei Schulkameraden hervor. Ich trage eine Brille. Die Entdeckung meiner Sehschwäche hatte mit dem Schönschreiben im Zeichenunterricht zu tun. In der Zeichenstunde mussten wir die Gotische Schrift üben. Professor Hetzendorfer malte mit der Kreide gekonnt die gotischen Buchstaben, Buchstabe für Buchstabe, auf die Tafel. Der Zeichensaal war etwa doppelt so groß als ein normales Klassenzimmer. Jeweils ein Schüler saß an einem Tisch. Vor mir lag ein weißes Blatt Papier, in der rechten Hand hielt ich einen Federstil mit Breitfeder, am Tisch stand ein Glas blaue Tinte. Ich bemühte mich redlich die Buchstaben nachzumalen. Mit prüfendem Blick ging der Professor von einem Schüler zum anderen. Bei meinen Schreibübungen geriet er außer sich: „Bist du nicht in der Lage, richtig von der Tafel abzuschreiben? Deine Buchstaben sind weder gotisch noch romanisch, sie sind einfach nur für den Müll.“ Ziemlich unsanft forderte er mich auf, nach vorne, an die Tafel zu gehen. Meine gotischen Buchstaben am Zeichenblatt waren entweder zu breit oder zu schmal. Der aufgesuchte Augenarzt stellte bei mir Kurzsichtigkeit fest und verordnete mir eine Brille. Für das fehlerfreie Abschreiben der Gotischen Schrift kam die Brille zu spät. Zeichnerisches Talent war ich keines. Der Professor Hetzendorfer sagte zu mir: „Du bist farbenblind. Es gibt keine grünen Bäume und keinen weißen Schnee, du musst sehen lernen. Aus dir wird kein Picasso.“ – „Supersberger, dos wird nix“, hat er des Öfteren zu mir gesagt, bevor die Zeichnung von ihm zerrissen wurde und in den Papierkorb wanderte. In der vierten Klasse unterrichtete uns Professor Hetzendorfer auch in Stenografie und seiner Meinung nach würde aus mir kein Parlamentsstenograf werden.

In der vierten Schulstufe, nach dem Halbjahreszeugnis, debattierten wir im Studiersaal unter uns darüber, ob es sinnvoll sei, weiter im Internat zu bleiben.  Wer will bleiben, wer will austreten? Wer fühlte sich von Gott zum Priestertum berufen? Inzwischen wussten wir was Unkeuschheit, begangen in Gedanken, Worten und Taten, sein kann. Während der Osterferien habe ich dem Vater bei der Stallarbeit von meiner Absicht, aus dem Internat auszutreten, erzählt. Daraufhin hat er mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, den Bergbauernhof zu übernehmen. Mein Wunsch war es, in einer Bücherei oder Buchhandlung zu arbeiten und später Journalist zu werden.

 

 

Biografie

Franz Supersberger wurde 1951 in Politzen, Gemeinde Ferndorf, auf einem Bergbauernhof geboren. Er war von 1961 bis 1965 Zögling im Bischöflichen Knabenseminar Tanzenberg und besuchte das angeschlossene Gymnasium. Nach dem Austritt aus dem Internat machte er eine Ausbildung zum Buchhändler. Von 1972 bis 2011 war er selbstständiger Buch- und Papierhändler in Arnoldstein, mit eigenem Geschäft. Franz Supersberger führte mit über vierzig Gemeindebürgern Interviews, die im Nachrichtenblatt Arnoldstein „Arnoldsteiner Porträts“ veröffentlicht werden. Franz Supersberger lebt als Buchhändler in Muse in Villach.

Die erste literarische Veröffentlichung von Franz Supersberger war eine Kurzgeschichte in der „Kärntner Volkszeitung“. Mit Veröffentlichungen in den „Manuskripten“ und „Sterz“ wurde er einem größeren literarischen Publikum bekannt. Mehrmals die Woche verfasst er eine Literaturminiatur und teilt dies per Weblog „Schlagloch“ einer wachsenden Lesergemeinde mit. Vom Deutschen Literaturarchiv Marbach wird das Weblog auf der Plattform Literatur-im-Netz langzeitarchiviert. Einige „Schlaglöcher“ hat er materialisiert und zu Büchern gemacht: Bruchstellen (2015); Wahrnehmungen beim Überqueren der Straße (2018). Weitere Informationen zur Person und seinen Büchern auf der Homepage www.schlagloch.at