Lilah Janjuz – Die Busfahrt.

Lilah Janjuz

Die Busfahrt

 

Mühselig hievte sie den viel zu großen Koffer über die Bordsteinkante auf den Gehsteig. Sie hatte wohl viel zu viel eingepackt, nun aber war es nicht mehr zu ändern. Das Dorf, in dem sie wohnte, hatte keine Bushaltestelle, obwohl die Dorfbewohner sich schon seit Jahren darum bemühten. Und so musste man fünf Kilometer bis ins nächste größere Dorf laufen. Als sie das Dorf durchquerte, spürte sie die Blicke der Dorfbewohner im Nacken. Ihr Fortgehen würde wohl mehrere Tage für regen Gesprächsstoff sorgen. Zunächst würden sie Spekulationen anstellen, nach denen sie zukünftig als Magd auf einem großen Bauernhof, in einem der umliegenden Dörfer arbeiten würde. Die Frau des Bürgermeisters würde allen erzählen, dass sie einen heimlichen Liebhaber im Ausland habe, wahrscheinlich einer der Erntehelfer, die dieses Jahr am Hof der Hansens waren. Wenn niemandem mehr eine neue Geschichte einfallen würde, würden sie zum Hof ihrer Eltern gehen, und diese würden nach langem Hin und Her widerwillig die Wahrheit ans Licht bringen.

Der Bus war bis auf zwei ältere Damen, die strickend und plaudernd im hinteren Teil des Buses saßen, leer. Sie setzte sich in der Mitte des Buses ans Fenster und beobachtete, wie sich die gewohnte Umgebung entfernte. Die Dörfer, an denen sie vorbeifuhren, die dem, in dem sie aufgewachsen war, so ähnlich sahen und doch alle ihren eigenen Scharm hatten. Hin und wieder stiegen Leute zu. Auch diese veränderten sich mit der immer größer werdenden Entfernung ihrer Heimat, wie die Tracht einer Gruppe Frauen, die der ihren zwar ähnlich sahen, aber von der Anordnung der Farben abwich. Mit der Zeit hatte sich der Bus fast vollständig gefüllt und es setzte sich eine Frau auf den Platz neben ihr. Sie trug ein Kleid aus einem so geschmeidig fließenden Stoff, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Unauffällig strich sie mit einem Finger über den samtig weichen Stoff. Ihr kam der Gedanke, dass sie selbst vielleicht eines Tages ein solches Kleid tragen würde, gekauft von ihrem selbst verdienten Geld.

An einer Haltestelle inmitten von goldglänzenden Getreidefeldern stieg eine ältere Frau mit einem großen Hut zu. Sie setzte sich in die Stuhlreihe schräg vor ihr und nahm sogleich ein, in blaue Leinen gebundenes, dünnes Buch hervor und vertiefte sich in seinen Inhalt. Lesen war immer eine Beschäftigung gewesen, die ihr Vater nicht gerne gesehen hatte. Eines der vielen Dinge, die er an ihr kritisierte. Es war nie leicht für sie gewesen, sich Bücher zu beschaffen. Die wenigen, die sich auf dem Hof ihrer Eltern befanden, hatte sie bald gelesen und die Schulbibliothek hatte auch nicht viel zu bieten. Sie hatte es immer geliebt, sich in andere Welten entführen zu lassen, die Geschichten anderer zu erleben. Das Lesen hatte es ihr wahrscheinlich auch ermöglicht, so zu denken, wie sie es jetzt tat und ihr auch dabei geholfen, diese Entscheidung zu treffen. Ab jetzt würde es nicht mehr nur das viele Lesen sein, das ihr Vater an ihr missbilligte. Er duldete, wie alle Männer im Dorf, keine Frauen, die selbstständig denken und handeln wollten. Sie konnte und wollte sich kein Leben an der Seite eines solchen Mannes vorstellen. Sie wollte frei sein, auf eigenen Beinen stehen und sich der Welt öffnen, sie verstehen und ihre Aufgabe in ihr finden.

Der Bus fuhr eine kurvenreiche Bergstraße hinab und dort wo die Bäume nicht zu dicht aneinander standen, konnte man im Tal die Silhouette der Stadt erkennen.

 

Stefan Haas – Heile Welt.

Stefan Haas

Heile Welt

 

 

Einst war die heile Welt:

In Uniform man Einheit sah.

Viel Neues und viel Altes,

vereint im kleinen Staate war.

Ein neuer Kampf alsbald entbrannte,

doch nicht von außen kam das Lodern;

der Brandherd lag im Menschen selbst;

die Hand schwarz gefärbt durch Asche.

Der Uniform neue Form verliehen:

stramme Einheit, die ich nie tragen will.

Vom alten Neuen ganz benommen,

man die nächste Neuheit übersah.

Des „Volkes Willen“ nach, es hieß:

Ein Volk, ein Reich und ein Verrückter.

Braune Uniformen es nun waren,

denen ich mich widersetzen will.

Als des „Volkes“ Feind deklariert,

wirst du nicht mehr als ein Tier

und sollst arbeiten dich zu Tode.

Zuletzt die Brücke mir Rettung war

und als das System zerbrach,

da lebte ich noch immer.

Jetzt ist die heile Welt:

Die Uniform, man braucht sie nicht.

Auf Neues folgt Neueres

und der Staat erstrahlt im Glanze.

Livia Hofstätter – Der Klang der Gitarre und ich.

Livia Hofstätter

Der Klang der Gitarre und ich

 

Ich hörte leise hinter der verschlossenen Türe des Nähzimmers meiner Mutter, wie die Nähmaschine ratterte. Zu meiner Freude nähte sie an meinem Kostüm für einen Geburtstag. Ich saß gerade auf dem Teppichboden im Flur und schaute verträumt dem Staub zu, wie er in der Sonne im Raum glitzerte. Mein Vater arbeitete zu diesem Zeitpunkt gerade vorne in unserem Laden. Nach kurzer Zeit hörte das gleichmäßige, ruhige Rattern der Maschine auf. Ich realisierte es erst nach einiger Zeit, als die Tür des Zimmers, in dem meine Mutter gerade noch genäht hatte, aufsprang. Sie sah mich mit einem verwunderten und leicht kritischen Blick an und sagte: „Sag mal, hast du schon wieder am Boden gesessen? Du weißt doch, dass das dein Kleid zerknittert.“ Ich hatte mich zwar schon vor einigen Minuten auf die kleine Bank vor dem Zimmer gesetzt, weil ich wusste, wie ungern Mutter es sah, wenn ich auf dem Boden saß, denn ihrer Meinung nach gehört sich das nicht. Aber woher wusste sie denn, dass ich auf dem Boden gesessen hatte? Einige Minuten zerbrach ich mir darüber den Kopf, doch mir wollte beim besten Willen nichts einfallen, woran sie es erkannt haben könnte. Nachdem sie ihre kurze Pause in unserem Garten beendete, kam sie zurück ins Haus, um ihre Näharbeit fortzuführen. Ich wusste, dass meine Mutter mir eine Hose und ein Oberteil nähte, doch was für ein Kostüm es am Ende werden sollte, wusste, glaube ich, keiner so genau. So konnte ich mir wenigstens ausdenken, was für ein Kostüm es werden sollte. Doch mir kam eine Idee in den Sinn, wie ich es verschönern könnte, wenn es mir nicht gefallen würde. Also ging ich in unseren großen, verwilderten Garten. Es wehte ein leichter und warmer Wind. Er fegte durch die rauschenden Blätter unseres großen Nussbaumes. Die Blüten der zahlreichen Margeriten, die bei uns im Garten wuchsen, bogen sich leicht im Frühjahrswind. Ich ging an unserem Apfelbaum vorbei, hinter unser Haus. An den Rosenbüschen entlang zu unserem riesigen Kirschbaum. So stand ich also mit suchendem Blick vor der großen Baumkrone, um mir zwei Blüten zu suchen, die ich mir zur Verschönerung meines Kostüms ins Haar stecken könnte. Nachdem ich zwei meiner Meinung nachpassende Blüten gefunden hatte, machte ich mich auf den Weg zurück ins Haus, um zu sehen, wie weit meine Mutter mit meinem Kostüm war. Ich legte die Blüten behutsam auf einen kleinen Schrank im Flur, damit sie nicht kaputt gehen würden. Die Türe des Nähzimmers meiner Mutter war geöffnet und genau in dieser Minute trat meine Mutter mit zwei Kleidungsstücken auf dem Arm aus dem Zimmer. Mein Kostüm war fertig. Ich war schon so gespannt darauf, wie es aussehen würde und ging schnell in mein Zimmer, um es anzuprobieren. Es war ein nichtssagendes Kostüm und ich konnte nicht erkennen, was es sein sollte. Ich war gerade dabei, mir die Kirschblüten in meine Frisur zu stecken, als meine Mutter ins Zimmer kam, um mir eine Überraschung zu geben. Es war eine kleine Gitarre mit Saiten aus Plastik. Ich nahm sie und hoffte, dass sie so schön klingen würde, wie ich die Töne einer Gitarre im Kopf hatte. Doch als ich an einer Saite zupfte, erklang zu meiner Enttäuschung nur ein dumpfer nichtssagender Ton. Da ich immer noch nicht wusste, was das für kein Kostüm sein sollte (auch wenn meine Mutter meinte, ich wäre ein Musiker), überlegte ich mir bereits krampfhaft, was ich sein könnte. Ich kam am Ende zu dem Schluss, dass ich selbst der wunderschöne Klang einer Gitarre sei. Die Blumen im Haar sollten dies unterstützen und so gehörte nun schlussendlich auch die Gitarre zu meinem Kostüm, denn ohne sie hätte ich als Klang ja nicht existieren können.

Christopher Günther – Eine schreckliche, jedoch auch äußerst wichtige Erfahrung.

Christopher Günther

Eine Schreckliche, jedoch äußerst wichtige Erfahrung

 

Liebe Schwester,

heute ist ein besonders schrecklicher, aber auch ein durchaus positiver Tag gewesen. Ich bin sehr aufgeregt gewesen, da ich heute meinen ersten Arbeitstag bei der Post hatte. Bevor ich mich jedoch auf den Weg zur Arbeit gemacht habe, habe ich zuerst noch ein passendes Kleid finden müssen. Nach langem Überlegen habe ich mich dann für das „Blumenkleid“ entschieden. Ja genau, dein „Blumenkleid“. Ich habe es mir einfach ausborgen müssen. Ich war so stolz auf meinen ersten richtigen Job, da habe ich einfach dieses Kleid anziehen müssen. Danach habe ich noch schnell meine Frisur gemacht und mir meine bequemsten und gleichzeitig schönsten Schuhe angezogen. Als ich nun endlich auf dem Weg zur Post gewesen bin, ist das Unfassbare passiert. Vor meinen Augen sind zwei Männer erschossen worden. Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, was ich tun soll. Soll ich wegschauen? Soll ich einfach weitergehen, oder soll ich den Offizier vielleicht sogar fragen, warum er dies tut? Ich habe mich jedoch leider dafür entschieden weiterzugehen und den Offizier nicht anzusprechen. Was ich bis jetzt bereue. Man solle im Leben alles hinterfragen, auch wenn es aussichtslos erscheint. Ich weiß, dass ich nur eine nicht weiterhelfende Antwort bekommen hätte, wenn ich den Offizier gefragt hätte. Doch trotzdem hätte ich es vielleicht geschafft, ein Umdenken im Mann zu erzeugen. Nun aber habe ich mich weiter auf den Weg zur Post gemacht. Bei der Post angekommen, habe ich gleich mein erstes Foto mit meinem neuen Dienstwagen machen müssen. Natürlich bin ich sehr stolz auf das Foto und es macht mich selbstverständlich auch sehr glücklich. Doch das, was heute auf dem Weg zur Arbeit passiert ist, habe ich nicht einfach so vergessen können. Deshalb der etwas gestellte und getrübte Blick. Dafür will ich mich jetzt entschuldigen. Trotz allem hoffe ich, dass das Foto bei dir schon angekommen ist und du es für lange Zeit in Erinnerung behalten wirst. Außerdem hoffe ich, dass es dir gut geht und wir uns bald wiedersehen können. Jetzt muss ich leider schon wieder aufhören mit diesem Schreiben, da ich noch was im Haushalt zu tun habe. In diesem Sinne: Gute Nacht und einen guten Start in die neue Woche!

Deine Stefanie