Mladen Savić: Ankunft

I bin a Weana Bazi, sprich, ich bin Wiener, mit allen mir missfallenden Eigenschaften und Stereotypen: im Tonfall teils weinerlich und auch ein bisschen unangenehm, kurz, einer vom „Wasserkopf“, wie man leicht verächtlich in den Bundesländern sagt, mitunter in Kärnten, seit Monarchiezeiten, schon ein Weilchen. Das sprachliche Bild vom geistig Behinderten ist keinesfalls Zufall, wenn man, anstatt dem Volk nur aufs Maul zu schauen, nuancierter hinhorcht und auf dessen Wortwahl hört: Die freilich fremde, ferne Hauptstadt nennt man immer noch einen Wasserkopf, während man in Wirklichkeit, bewusst oder unbewusst, die Kopflosigkeit des Machtzentrums meint, die zentralistische Blindheit für heimische Sorgen, die unausweichliche Fremdheit jeder Verwaltung, gepackt in einen brauchbaren Begriff. Dies ist die unausgesprochene Quintessenz jener Sprechweise und sei darum den lieben Leuten in der Provinz verziehen, denn die Wendung hat bestimmt ihre Gründe – sonst gäbe es sie vermutlich nicht. Sogar die Wiener selbst verwenden den Begriff „Bazi“ zur Selbsterklärung, und selbige bedeutet, bei allem Bedauern, nichts Anderes als Wichtigtuer, Angeber, Großmaul. So ist es auch.

Wie gesagt, ich komme aus der einstigen Kaiserstadt, einem politischen Operettenort stetig abnehmenden Glanzes, aus dem nunmehr nur mehr blass roten Wien, übrigens meinem persönlichen Moloch, den ich wegen seiner polizeilichen Alltagsmentalität, seines gängigen Grants und seiner ebenso ungemütlichen wie stolz gepflegten Übellaunigkeit nicht durchwegs schätzen kann – aus einer geschichtlich reichen und seelisch doch verarmten Stadt demnach, deren erstes und letztes Opfer, lapidar gesprochen, die Lust und Lebensfreude sind. I sog a so, wie es in Kärnten heißt, das behaupte ich einmal, frei weg von der Leber. Die Bundesgeisterhauptstadt Wien … Ihre angebliche Gemütlichkeit, zweifellos ein Ruf, viel rosiger als die Realität, hat bereits Hermann Bahr in Abrede gestellt durch die treffende Bemerkung: „Man lebt in halber Poesie, gefährlich für die ganze.“ Nun bin ich ja in Klagenfurt angekommen, in Celovec, wie der ursprünglich slawische Name lautet, umringt von markanten Bergen mit Schneespitzen und allerlei pittoresken Seen. Und es gibt Unmengen an Wald, allem voran Fichtenforste, wie ich mir habe sagen lassen. Dass der Stadtname, eigentlich eine deutsche Lehnübersetzung, sich aus dem slowenischen „Cviljovec“ ableite, was Ort der Klagen heißt, hat entweder mit Jahrhunderten feudaler Germanisierung zu tun, wie auch anzunehmen ist, oder mit einem sprachlichen Streich der Geschichte, der von da nach dort seine eigenen etymologischen Wanderungen unternimmt.

Die Passanten jedenfalls lächeln hier öfter, ungezwungener und insgesamt mehr. Zumindest blicken sie nicht großstädtisch-atomisiert drein, als wäre ein jeder Vorbeispazierende ihr Feind schlechthin. Das gefällt mir, versteht sich. Vielleicht verbirgt meine Einschätzung sich in der Natur der Dinge, aber so genau will ich das Ganze gar nicht beurteilen. Der Süden liegt in jeder Hinsicht näher als in Wien, nicht nur botanisch, sondern auch lebensweltlich, wenngleich dort daheim „hinterm Ring“ der Balkan oder überhaupt, in Metternichs klassistischem Obrigkeitsjargon, gleich Asien beginnen würde. Irgendwie, und es hat gewiss auch mit dem Ortswechsel zu tun, atme ich freier seit meiner Ankunft – trotz Ausnahmezustand und Staatsquarantäne. Als Schriftsteller, in meinem Fall ein Euphemismus für Stubenhocker, bin ich das Sitzen im trauten Heim größtenteils gewohnt, wobei ich für gewöhnlich nicht die Virusepidemien aussitze, sondern lähmende Phasen einer lavierten Depression. Aber das macht nichts, um ehrlich zu sein, schließlich ist der depressive Grundtenor bewiesenermaßen der Preis für ein realistischeres Weltbild – und ein recht kleiner Preis obendrein, viel kleiner als bei dem vom Göttertrunk naschenden Narren, den so mancher Poet zeitweise um seine Inspiration beneiden könnte.

 

Langer Rede kurzer Sinn, ich fühle mich in meiner neuen Bleibe beileibe wohl. Sogar die Sonnenstrahlen wirken auf mich sonniger und das morgendliche Vogelgezwitscher im verwunschenen Garten hinter dem Gebäude klangvoller, deutlicher und sowieso überwältigend. Manchmal kommt mir vor, als hätte ich es über die Jahre, Rückschläge und Gebrechen verlernt, mich nervlich zu sammeln und ab und zu einzuhalten, um den Singvögeln zu lauschen und mich an ihrer Tonpracht zu ergötzen, unversiegbar wie sie ist. Da denke ich mir dann, das vollends urbane Milieu stelle in seiner Zubetonierung eine in hartes Grau gegossene Irrung dar, einen Holzweg ohne Holz, ein dumpfes Dasein ohne Baum und Strauch, ohne Blätterrascheln, Ästeknarren, Tierlaut oder natürlichen Klang: eine Art geometrischer, grau melierter Wüste, welche sich als zivilisatorische Ordnung gebärdet. Getrübter Sinne, man bedenke doch bloß, bleibt einem Stadtkind wenig übrig, als diese mit starken Reizen nachzuwürzen, meinetwegen, mit künstlichen aus der Unterhaltungsindustrie. Dahingehend funktioniert die digitale Revolution ja. Indes, ich habe vorerst genügend Zeit, um mir die Pflänzchen und Gebüsche nebenan einmal einzeln anzusehen. Wenn man sich Beobachtungen widmet, finde ich, entdeckt man immer etwas, und es ist meistens eine lohnende Erfahrung. Mein täglicher Blick aus dem Fenster ist wuchernde, halbwilde Natur – der reinste Luxus gewissermaßen.

Ein irischer Jugendfreund und krasser Kulturfeind hat mir beizeiten einmal gesagt, warum er die Commonwealth-Kultur unterm Strich nicht mag, nämlich, weil er allein schon aus ästhetischen Erwägungen heraus den englischen Brauch hasse, eine bunte Blumenwiese prompt niederzumähen, um hernach eine einzige Blumensorte einfarbig im Quadrat einzupflanzen. Obwohl ich das Kultivieren der Erde gänzlich anders deute als er, denn Blumenbeete sind weder vorab hässlich noch eine sonderlich britannische Spezialität, hat mich seine national paranoische, aber pointierte Aussage seither nicht mehr völlig losgelassen. Ihr kritischer Kerngedanke hat sich in mir eingenistet. Worte gleichen unsichtbaren Widerhaken, die sich wie Flunkenanker gedanklich in die Seele graben. Auch den Wald, in welchen ich – was weiß ich, warum! – nahezu nie gehe, liebe ich. Ein Stück Natur im unmittelbaren Lebensraum und um ihn herum bedeutet auf Dauer so einiges für die geistige Gesundheit, das innere Wohlbefinden, den gesamten menschlichen Wahrnehmungsapparat. Darum besitzen Villenviertel in der Regel viel Grün, viele Gärten und freie Räume, im Gegensatz zu den modernen Betonzinshäusern, den Arbeiterlegebatterien ohne blumige Flächen, saftige Wiesen und schattenspendende Baumkronen. Margareten, das Grätzl, wo ich aufgewachsen bin, und der einzige Wiener Innenbezirk, der nicht an den Ersten grenzt, wo das betuchte Moralgesindel weilt, kann als billige Betonwüste ein Liedchen davon singen. Weg aus Wien, wie froh ich darüber bin!

Sicherlich wäre es leichter, statt einer Beschreibung in kunstvollen Worten einfach eine Fotografie hinzustellen, ins Netz oder auf eine Buchseite, um einen wirklichkeitsgetreuen Eindruck davon zu vermitteln, was mich an diesem neuen Örtchen umgibt. Ich selbst, aufgewachsen mit Fernseher und Mauern vor der Nase, Städter durch und durch, habe zeitlebens beim Lesen von Romanen immer nur darauf gewartet, dass die allzu literarischen Landschaftsbeschreibungen, bitte, endlich aufhören, spätestens auf der nächsten Seite … Ob es an meiner mangelnden Vorstellungskraft oder meiner Ungeduld gelegen ist, weiß ich nicht. Hingegen, auch eine lautere, bildkräftige Umschreibung in naturalistischer Perfektion würde ihrerseits nur ein Stimmungsbild liefern, getunkt in des Schriftstellers subjektive Feder. So auch hier und jetzt: Die Lage meiner von „For Forest“ zur Verfügung gestellten Wohnung ist in jeder Hinsicht zentral, sodass ich zu Fuß in Minutennähe entfernt von der Innenstadt und dem Bahnhof residiere – und allen anderen Kammern, Ämtern und Kasernen, die sich ebenfalls in Reichweite befinden. Residenz trifft es begrifflich am besten. Die Wohnung ist geräumig, mit riesigen Flügelfenstern und Parkettböden ausgestattet, die Räume sind asymmetrisch, praktisch angelegt und insgesamt sehr hell. Anders als in meiner Wiener Wohnzelle, kann ich mehr als die mir bekannten zwei, drei Schritte in einer Richtung gehen, ohne sofort anzustoßen, und der Selbstbedienungsladen liegt zum Glück in Sichtweite.

Die Zufahrt vors Haus ist nicht hürdenlos gewesen. Am Viktringer Ring muss man mit dem Automobil ein Stückchen weiter fahren, ehe man einbiegen kann, und muss dann, was die Hürde wiederum läppisch erscheinen lässt, ungefähr hundert Meter zurück rollen. Das grüne, eiserne Tor öffnet per Fernbedienung und Automatik, und zwar langsam wie in einem Spielfilm, als würde die bedeutsame nächste Szene damit angekündigt werden. Der Fahrweg nimmt gleich daneben, vor einem slowenisch-katholischen Nonnenwohnheim ein Ende; von dort geht es nicht mehr weiter. Rechts des besagten filmischen Tors erhebt sich die For-Forest-Villa, in sich ruhend wie ein Sommerwohnsitz verarmten Landadels, ein erst auf den zweiten Blick prachtvolles Landhaus samt sympathischem Wildgarten, groß genug zum Ballspielen, und einem sich selbst überlassenen Miniaturacker. Das Hauptgebäude, unter Umständen französischer Klassizismus, zweifellos aber provenzalisch in der Bauart, ragt selbstbewusst, aber unaufdringlich vor der Zufahrt in die Höhe und wird von einem nach allen vier Seiten hin abfallenden Dach friedlich zusammengehalten. Ein paar Schritte weiter noch entlang eines asphaltierten Wegs sind es bis zum einstigen Dienstbotenhäuschen, wie ich annehme, einem kleineren Gebäude gleicher, untertriebener Schlichtheit, das über drei Wohneinheiten verfügt, eine unten und zwei oben, über geräumige Zimmer, wie gesagt, und gönnerhaft große Fenster.

Schnell habe ich es mir einigermaßen kommod eingerichtet: ein süßes Detail hier, ein anderes Detail da, meine Lieblingsschirmlampe aufgestellt, Kuscheldecke aufs Bett, ein paar Jugendstil-Bilder auf die Wände, Küchenzeile eingerichtet, Geschirr eingeräumt, Regale aufgebaut, sogar den passenden Platz für meine Palme gefunden. Nach nur wenigen Tagen genüsslichen Kochens, entspannten Lesens und Flanierens, fröhlicher Begegnungen und erfrischender, intellektueller Bekanntschaften jedoch – der völlige Stillstand nahezu allen gesellschaftlichen Lebens. Scheiß Corona! Die Universitäten, die Schulen, die Kaffeehäuser, Restaurants und sonstigen Geschäfte schließen mehr oder minder über Nacht. Die staatlich verordnete soziale Isolation, situativer Wunschtraum aller seelischen Blockwarte, die mittlerweile im Namen einer übergeordneten Vernunft nach noch mehr Strenge rufen, bricht herein mit der Wucht einer Naturgewalt. Plötzlich fühle ich mich gestrandet, aber auch zum ersten Mal seit Jahren wirklich ausgeschlafen.

Das Einzige, das mir in einer solchen Lage bleibt, abgesehen von „Stay-the-fuck-home“-Botschaften aus dem Internet, telefonischen Lamentos aus dem engeren Freundeskreis und der als solidarisch empfundenen Blitzfaschisierung der Gesellschaft aus den Nachrichten, ist die von alledem weitgehend unberührte Naturschönheit, die es für mich noch zu entdecken gilt. Unter Umständen ist Unberührtheit, wenn ich es mir genauer überlege, der falsche Ausdruck, denn die Natur erholt sich mit jedem Tag, da die Wirtschaft sie nicht vergewaltigt, mehr und mehr. Der Markt betrachtet allen Ernstes nämlich die Erde, aus der wir Wasser holen, Öl pumpen, Erze graben und Nahrung ziehen, als Endlosressource, doch wir alle wissen, es stimmt nicht.

Als ich unlängst mit dem Fahrrad bis zum Vrbsko Jezero, dem Wörthersee, gefahren bin, habe ich links des Badestrands und seiner längst geräumten Kais eine meditative Nische entdeckt: eine verborgene Kleinbucht mit rustikalem Holzbänkchen, ins Wasser hängenden Bäumen und Zweigen, Wurzelwerk auf Schritt und Tritt und lauter Schilf entlang des Ufers. Da fängt, wie ich auf einer Tafel gelesen habe, das Europa-Schutzgebiet Lendspitz-Maiernigg an, Zufluchtsort für eine Unzahl heimischer Arten, von Pfeifengraswiesen über bauchige Windelschnecken bis zu Tüpfelsumpfhühnern. Dort in der verschlagenen Bucht habe ich mich hingesetzt und seit Langem wieder einmal gezeichnet, was sich so selbstlos üppig, wie nur die Natur sein kann, meinem Auge dargeboten hat.

 

Kommentar von Gernot Waldner

1) Der Text beginnt damit, dass sich der Erzähler / Sprecher als Wiener deklariert. Den restlichen Text verbringt er damit, die negativen Behauptungen über Wien (und damit auch über ihn als Wiener) nicht zu erfüllen: der Text ist schön geschrieben und liest sich gut, obwohl man zu Beginn vor seinem Verfasser gewarnt wurde. Zwei gegensätzliche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus:

– Niemand weiß, wie Wien eigentlich ist und Wiener gibt es vielleicht gar nicht, aber die Aufrechterhaltung des Glaubens daran, hat etwas fröhlich-tröstliches für die Provinz, wie ein graues Schauermärchen, das einem nie träumen wird müssen;

– Kärnten hat den Verfasser dermaßen verändert, dass er plötzlich solche Texte schreibt. Welche Texte er davor schrieb – in Wien! – sollte unbedingt durch den Erwerb seiner Bücher überprüft werden, um die Größe dieses Projekts in Ansätzen zu begreifen.

 

2) Der Text besticht durchgehend dadurch, dass er charmant ist, man über alle Phänomene irgendwie mehr erfährt, als über sie gesagt werden kann. Hannah Arendt definiert „Charme“ so, dass er in einer kapitalistischen Welt das ist, was über das vertraglich Vereinbarte hinausgeht. Charme ist, in unser Vokabular gefasst, eine Form von Trinkgeld, mit der man nicht gerechnet hat. Inhaltlich spiegelt sich dieser Charme im Text auf zwei Ebenen:

– die Ankunft des Autors ist die neue Zugabe für die Villa For Forest, sozusagen ein charmanter Vorgang, mit dem so nicht zu rechnen war;

– Mehrere Stellen machen deutlich, dass Literatur / Essayistik oft darin besteht, nur eine Zugabe zu sein, da ihr grundlegende Verträge fehlen, die sie zu mehr als einem Überschuss machen könnten; Ob das nur zum Nachteil der Literatur ist, weiß ich nicht, aber die besagte Ambivalenz scheint wichtig zu sein.

 

3) Das Verhältnis zur Natur deckt bisher, abgesehen von marxistischen Einwürfen, die Romantik und die Naturforschung des 19. Jahrhunderts: man liebt den Wald, man war fast noch nie dort. Man kann Pflanzen und Vögel beim Namen nennen. Wie literarische Romantik und klassifizierende Naturforschung enden, ist historisch bekannt, ob sich das Verhältnis zur Natur in den folgenden Texten des author@musil noch mehr der Gegenwart nähert, werden wir lesen.

 

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 1: