Agnes Lampersberger – Geborgenheit.
Agnes Lampersberger
Geborgenheit
War es ein Samstag oder doch ein Sonntag? Ein langer Tag, spät im Jahr 1969 wird müde.
Vor dem großen einstöckigen Wohnhaus, dem sogenannten „Neuhaus“, das auch heute immer noch so heißt, obwohl es längst in die Jahre gekommen ist, wird es ruhig. Das „Neuhaus“ ist schon ganz auf Winter eingestellt. Die grünen klappbaren Fensterläden, die das Haus im Sommer schmücken, wurden ausgehängt und mühsam auf den Dachboden geräumt. Dort überwintern sie. Sie warten, bis sie im nächsten Frühjahr mit den ersten warmen Sonnenstrahlen wieder auf Sommerfrische dürfen. Damit es in der Wohnung nicht zu kalt wird, wurden ergänzend zu den Innenfenstern wieder die weißgerahmten Außenfenster eingehängt. Es sind Sprossenfenster. Die einfachen kleinen Glasscheiben sind mit braunem Kitt im Fensterrahmen verankert. Einbrecher haben es im „Neuhaus“ schwer. Im Mauerwerk des Erdgeschosses sichern jeweils drei waag- und drei senkrechte schwarze Gitterstäbe jedes einzelne Fenster.
Draußen ist es dunkel.
Drinnen, in der großen „Kuchl“, drängeln sich sechs Kinder um ihre Mutter. Das kleine Mädchen mit den blonden, schulterlangen Haaren, war heute Abend wohl am schnellsten. Sie hat es auf Mutters Schoß geschafft. Alle Plätze an Mutters Seite sind vergeben. Rechts, links, vorne, hinten. Die vier Mädchen und zwei Buben sind ihr ganz nah. Die Wärme und Geborgenheit, die ihnen die Mutter verheißt, möchten sie spüren. Immer und immer wieder.
Ein Adventskranz mit zwei roten und zwei weißen Christbaumkerzen steht auf dem Küchentisch. Mir kommt es vor, als könnte ich das grüne Tannenreisig noch heute riechen. Frisch schauen die Zweige aus, obwohl schon drei Kerzen am Adventskranz brennen. Die Flamme am vierten Kerzchen ist noch ganz klein, sie hat sich noch nicht entschieden. Aber eines ist klar, das Christkind wird bald zu den Kindern kommen. Sicher hat Mutter auch diesen Adventskranz selbst gebunden. Vater brachte ihr dafür immer Zweige von seiner Arbeit als Holzknecht mit nach Hause.
Die Mutter singt. Sehr gerne und sehr schön. Sie ist noch so jung, gerade mal 33 Jahre. Und sie strahlt aus vollstem Herzen. Keine Mühe ist ihr anzusehen. Sicher ist sie, so wie jeden Tag, sehr früh aufgestanden. Was hat sie wohl an diesem Tag zusätzlich zu den Fixpunkten, dem Zubereiten von Frühstück, Mittagessen und Nachtmahl noch alles an Arbeit erledigt?
Sie trägt einen blauen Pullover, darüber eine rosa-blau gemusterte Kleiderschürze. Mutter gibt es nur an Festtagen ohne ihre Schürze. Daran hatte sich im Laufe der Zeit nichts geändert. Ihre Schürzenmodelle aber veränderten sich. Aus den unbequemen Kleiderschürzen wurden welche mit langen Bändern, die sie bequem um ihre Röcke wickeln kann. Natürlich braucht jede Schürze eine große Tasche, damit sie ihr Stofftaschentuch, falls nötig, auch den Hausschlüssel einstecken kann. All diese Öko-Wörter wie Upcycling oder Recycling nahm Mutter nie in den Mund, aber Nachhaltigkeit hat sie schon ewig praktiziert. „Auftråg‘n und Nåchtråg’n“ war und ist ihr Motto. Schürzen werden nicht gekauft, nein, aus gebrauchten Stoffen, die für einen Putzfetzen noch zu schade sind, werden sie schnell genäht
Ihre langen braunen Haare sind zu einem „Knödel“ zusammengebunden. So trägt sie ihre Frisur immer. Auch heute, Jahrzehnte später, ist es noch so. Allerdings beschwerlicher. Ihre Haare sind dünn geworden. Nur mit Tricks und etlichen „Spangalan“ kann sie ihre Haare zu ihrem typischen Knoten binden, damit er auch hält. Stolz auf ihre Frisur ist Mutter immer noch. Besuche beim Friseur, eventuell ein Kurzhaarschnitt mit Dauerwelle kamen ihr nie in den Sinn. Nur ein einziges Mal, im April 1960, kurz vor ihrer Hochzeit, machte sie eine Ausnahme und leistete sich den Luxus eines Friseurbesuches.
Mutter liebt ihre Ohrringe. Mir gefallen sie nicht, denn sie sind aus den Eckzähnen von Hirschen gemacht. Die ersten beiden „Hirschgrandeln“ bekam sie als junges Mädchen von einer benachbarten Bauernfamilie geschenkt. Zu der Zeit kannte sie schon unseren Vater. Ein Juwelier und Uhrmacher in der Stadt fertigte für die Grandeln je eine Fassung aus Gold an. Das war wahrer Luxus. Mutter kann sich nicht mehr erinnern, wie viel Vater dafür bezahlte. Im Laufe ihres langen Lebens verlor Mutter zwei Mal ihre Hirschgrandeln. Die Fassung aus Gold blieb aber nie lange alleine. Einmal gab ihr ein Jäger aus St. Oswald neue Hirschzähne. Das zweite Mal schenkte ihr die „Schlossfrau“, so wurde die Gattin des Gutsherren, der fast allen Familien unseres kleinen Ortes Arbeit gab, immer ehrfürchtig genannt, wieder neue Hirschgrandeln.
Das Buch, aus dem Mutter uns vorsingt, vielleicht auch eine Geschichte vorliest, gibt es schon lange nicht mehr. Gerade fällt mir ein, eigentlich hatten wir nur ganz wenige Bücher zu Hause. Bücher waren, wie so vieles andere auch, Luxus. Ab und zu machte Vater eine Ausnahme und kaufte sich welche Bücher. So den, wie er sich sicher dachte, praktischen Ratgeber „Der österreichische Hausjurist“ von Dr. Robert Rimpel. Auf 752 Seiten wird in der Ausgabe vom Jahre 1959 erklärt, dass „Unwissenheit nicht vor Strafe schützt“. Weiters wird in diesem dicken Wälzer mit dem grellgelben Einband erläutert, dass „der Umgang mit den Ämtern, dem Gericht und der Polizei, dem Finanzamt und allen übrigen Behörden gar nicht so schwer ist.“ Wenn ich dies lese, muss ich leicht schmunzeln. Mutter hat dieses Buch sicher nie zur Hand genommen, wohl aber immer alle Behördenwege, besonders beim späteren Hausbau, erledigt. Ich kann mir vorstellen, dass Mutter mit Vater fest geschimpft hatte, als sie sah, dass dieses Buch damals 180 Österreichische Schillinge kostete. Ja, Mutter konnte zu Vater streng sein, wenn er ihrer Meinung nach wieder Geld für unnütze Dinge ausgab.
Was gab es sonst noch an Lesestoff in unserem Elternhaus? Natürlich kaufte Vater Atlanten, andere diverse Ratgeber für das Leben, von der Deutschen Buchgemeinschaft Wien das DBG-Lexikon mit 35.000 Stichworten, 64 farbigen Bildtafeln und 32 Schwarzweißtafeln. Auch einige Romane, geschrieben in Kurrentschrift gibt es noch aus dieser Zeit. Jedes Buch wurde von Vater mit weißem Packpapier eingebunden. So liegen sie heute noch in einem „Wohnzimmerkastl“.
Früher gab es beim Kauf von Kinderschuhen der Marke Salamander kleine Heftchen von Lurchi, dem schlauen Salamander, als Werbegeschenk dazu. Aus diesen Werbeheftchen – heute würde man wohl Give Aways dazu sagen – wurden später Sammelbände. Eine ältere Nachbarin schenkte sie uns. Das waren, soweit ich mich erinnern kann, anfangs so ziemlich die einzigen Kinderbücher, die wir hatten. Was liebten wir unsere reich illustrierten „Lurchi-Bücher“! Mutter las uns diese durchgehend gereimten Geschichten von Lurchi und seinen Freunden Hopps dem Frosch, Pieps der Maus, dem tollpatschigen Unkerich und Zwerg Piping gefühlte tausend Male vor. Jedes einzelne Abenteuer, geschrieben in Schreibschrift, kannten wir in- und auswendig. Was konnte ich mich wundern, wie jemand so schön und so gleichmäßig ein Buch schreiben kann. Erst viel später kam ich hinter das Geheimnis, dass wohl eine Schreibmaschine im Einsatz war. Groß war meine Freude, als ich viele Jahre später unsere „Lurchi-Bücher“ wieder auf einem Flohmarkt entdeckte…
Ich merke, ich schweife ab, deshalb schnell zurück zu meiner Fotografie.
Die Wände in der „Kuchl“ hat Vater mit einer gemusterten Gummirolle grün verziert. Die Gummirolle war max. 20 cm breit. Wie oft musste er wohl mit ruhiger Hand die Gummirolle auf- und abwärts bewegen, bis die Wände schön gemustert waren. Ich stehe auf der „Kuchlbank“. Mit großen Augen, roten Wangen und offenem Mund schaue ich zum Vater. Er hält diesen stimmungsvollen Adventabend, ein kleines Stück heile Welt, für alle Ewigkeit mit seinem Fotoapparat fest. Damals war er noch ein besonders liebevoller und fürsorglicher Vater. Der ganze Herrgottswinkel schaffte es nicht mehr aufs Bild. Gerade für die blau-weiß gemusterte Zierdecke war noch Platz. Vater lebt schon zwölf Jahre nicht mehr.
Auch meine älteste Schwester, die voller Freude mitsingt, und die meinen kleinsten Bruder lockt und ihre Hand besorgt um seinen Bauch legt, lebt nicht mehr. Es war wieder ein Abend im Advent, ein paar Tage vor ihrem 50. Geburtstag. Ohne Warnung, ohne Vorankündigung hatte ihr Herz nach einem Hinterwandinfarkt keine Kraft mehr zu pumpen. Ausgepumpt. Bewegungslos. Kälte.
Wie gerne möchte man oft in die Zukunft schauen, aber es ist schon eine segensreiche Fügung, dass wir nicht wissen, was das Schicksal noch so alles für uns bereithält.