Die weise Menschheit

Judith Glück interessiert sich für sinnerfülltes Leben (meaningful lives) im 21. Jahrhundert. Ihre Arbeiten zur Weisheit einzelner führen sie auch zu Überlegungen zu „weisen Menschheiten“. Ihre Hoffnung: Die Menschheit wird ihre Probleme bewältigen.

Bis vor kurzem schien sich die Welt im letzten Jahrhundert hervorragend zu entwickeln: Folgen wir Steven Pinker, wurde die Menschheit gesünder, gebildeter, glücklicher, friedvoller und reicher. Für die Menschen wurde überall das Leben deutlich besser. In den letzten Jahren aber schien sich das Blatt zu wenden und andere Aspekte gewannen an Brisanz: Der Klimawandel sowie die weltweite Ungleichverteilung von Einkommen und Ressourcen stellen uns vor neue Herausforderungen.

In Sorge versetzt mich, wie wir mit diesen Problemen verfahren. Die globalen Kommunikationsmedien, die uns zuerst eine demokratische Welt der Informationsverteilung prophezeiten, kehren mittlerweile nicht die weisesten Züge in uns hervor. Ich habe meine Meinung, du hast deine Meinung. Ich kann die Meinung vertreten, den menschengemachten Klimawandel gäbe es nicht, du kannst eine andere Meinung postulieren. Wir treten in einen Wettstreit um Online-Applaus, den viel zu oft jene gewinnen, deren Meinung nicht auf Fakten beruht. Die faktenbefreite Alternativerzählung geht dabei häufig nicht mit lauteren Mitteln vor − und erscheint attraktiver, weil sie simplere Lösungen für allzu komplexe Probleme anbietet. Im Gegenstreit von Pro und Anti scheinen heute immer größere Gräben zwischen uns zu liegen.

Gleichzeitig hoffe ich aber auf die Gegenbewegung. Junge Menschen, die sich die Wissenschaft auf die Fahnen heften und lautstark gegen die schlichte Lesart der Menschheitsprobleme opponieren, ernten heute auch viel Applaus. An unseren Studierenden, die natürlich vielleicht eine spezielle Gruppe sind, erkenne ich auch, dass sich viele junge Menschen heute ungeheuer engagieren. In einem Alter, wo ich mir hauptsächlich darüber Gedanken gemacht habe, wo ich im nächsten Sommer Surfunterricht geben möchte, sind diese Jungen politisch aktiv, nachdenklich und couragiert. Das sollte uns Hoffnung dafür geben, dass der aktuelle Zustand nur ein Durchgangsstadium in Richtung einer noch besseren Welt ist.

Wir können viel aus der Forschung zu weisen Menschen lernen. Heute wissen wir, dass wir Weisheit eher jenen Personen zuschreiben, die zuhören können, andere Perspektiven in den Blick nehmen, versuchen zu integrieren und so – auch in Zusammenarbeit mit und Achtung gegenüber anderen – zu einer Sichtweise gelangen, die der komplexen Realität entspricht. Wir beschäftigen uns derzeit viel mit „weisheitsfördernden Systemen“: inwieweit ermöglichen oder behindern beispielsweise bestimmte Organisationsstrukturen weises Handeln? Am Beispiel Donald Trumps als Präsident der USA sieht man, dass die US-amerikanische Verfassung Sicherheitsvorkehrungen („checks and balances“) vorsieht, die es erschweren bis verunmöglichen, dass die impulsiven Entscheidungen eines Einzelnen zu dramatischen Folgen führen. Dies sehe ich als Beispiel dafür, wie Weisheit in Systemen implementiert werden kann. Es gibt bereits Studien, die uns zeigen, dass bessere Entscheidungen getroffen werden können, wenn eine Gruppe gemeinsam daran arbeitet. Dafür müssen aber bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Die Mitglieder der Gruppe müssen unterschiedliches Wissen mitbringen, und es braucht eine Kultur des Respekts und der Wertschätzung, die forciert, dass diese Unterschiedlichkeit genutzt und dadurch weiser entschieden wird, als es jede einzelne Person des Teams könnte.

„Hierzulande, in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft, wächst das Interesse an der Frage, wie man leben soll. Wir streben heute nach meaningful lives.“ (Judith Glück)

Viele Menschen interessieren sich für meine wissenschaftliche Arbeit zu Weisheit. Dies zeigt mir: Hierzulande, in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft, wächst das Interesse an der Frage, wie man leben soll. Wir streben heute nach meaningful lives (so haben wir auch einen gemeinsamen Forschungsschwerpunkt am Institut für Psychologie benannt). In dieser Frage bin ich naturoptimistisch: Immer mehr Menschen wird klar, dass wir das Streben nach sinnerfülltem Leben nicht durch die Auswüchse des Reinkapitalismus und die Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen bedienen können. Die Menschheit hat schon viel geschafft. Sie wird auch die jetzt anstehenden Herausforderungen bewältigen.

für ad astra: Romy Müller