Geschwisterbeziehungen im Blick der Wissenschaft
Keine andere Beziehung währt so lange: Geschwister begleiten uns von der frühesten Kindheit bis ins hohe Alter und tragen maßgeblich zu unserer Persönlichkeitsentwicklung bei. Stephan Sting sprach mit ad astra über die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen.
Herr Sting, wie ist das Forschungsfeld heute aufgestellt?
Angesichts der zentralen Rolle von Geschwistern ist es verblüffend, dass es wenig pädagogische Forschung dazu gibt. Die meisten Erkenntnisse lieferte bislang die Psychologie, wo seit etwa 25 Jahren intensiver zu diesem Thema geforscht wird. Aus der psychologischen Geschwisterforschung wissen wir beispielsweise, dass 3- bis 5-jährige Kinder bereits doppelt so viel mit Geschwistern kommunizieren wie mit ihrer Mutter. Andere Ansätze, etwa in der Soziologie oder der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, haben bisher wenig zu diesem spannenden, aber schwer greifbaren Thema hervorgebracht.
Welche Merkmale zeichnen die Beziehungen zwischen Geschwistern aus?
Mit Freunden und Freundinnen geht man freiwillige Beziehungen ein, die sich auflösen können. Geschwisterbeziehungen sucht man sich nicht aus, und man kann sie auch nicht aufkündigen. Es mag sein, dass die Beziehung konfliktgeladen ist, dass man über Jahre oder gar Jahrzehnte keinen Kontakt zueinander hält, doch dann kommt es zu Ereignissen, wie etwa der Tod eines Elternteils, wo man wieder in Kontakt tritt. Diese U-Kurve wird durch Studien bestätigt, die den Stellenwert von Geschwistern im Lebensverlauf betrachtet haben: In der Kindheit sind sich Geschwister sehr nahe, mit der Pubertät beginnt eine gewisse Loslösung, die sich in den Jahren des Berufseinstiegs und der Familiengründung fortsetzt. Mit weiter zunehmendem Alter interessiert man sich wieder mehr für seine Geschwister, die Beziehung intensiviert sich.
Wie wird der Geschwisterbegriff gedeutet?
Das Aufwachsen mit Geschwistern ist zwar eine universelle menschliche Erfahrung, aber die Frage danach, was Geschwister ausmacht, ergibt kein eindeutiges Bild. Es gibt kulturell unterschiedliche Varianten, wie Geschwisterlichkeit ausgeformt und gelebt wird. In unserer westlich geprägten Gesellschaft gibt es keine formellen Regeln und Verpflichtungen, sondern ungeschriebene Erwartungen an Loyalität und an wechselseitiger Unterstützung. In anderen Kulturen wird geschwisterliche Verantwortung klar geregelt. So ist in manchen arabischen Kulturen der Stellenwert des großen Bruders mit umfassenden Erwartungen und Verpflichtungen verbunden. Betrachten wir Patchwork-Familien, so belegen Studien, dass Kinder trotz etwaiger Startschwierigkeiten durch das gemeinsame Aufwachsen durchaus zu Geschwistern werden, die sich nicht von leiblichen Geschwistern unterscheiden. In anderen Worten, es ist nicht die Blutsverwandtschaft, die Geschwisterlichkeit ausmacht.
Und was ist Ihr Zugang zur Geschwisterforschung?
Wir untersuchen die Beziehungen zwischen Geschwistern, die aufgrund von familiären Schwierigkeiten nicht in der Herkunftsfamilie aufwachsen und zum Teil getrennt leben. Dennoch sind sie als Geschwister präsent. Wo Kontakt möglich und erwünscht ist, können sogar bislang unbekannte ältere (Halb-)Geschwister zu wichtigen Identifikationsfiguren werden, die dem jüngeren Kind Halt bieten und als Vorbild dienen. Auch an diesem Beispiel sieht man: Geschwisterbeziehungen sind variabel und folgen keiner einheitlichen Dynamik.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus Ihrer Forschung für die Praxis ableiten?
Mittlerweile wird zunehmend deutlich, dass Geschwister einander als wichtige Ressource dienen, und das gilt insbesondere in problematischen Familienkonstellationen unter schwierigen Bedingungen des Aufwachsens. Geschwister unterstützen sich gegenseitig, wenn etwa Eltern als stabile Bindungspersonen ausfallen, wenn Vernachlässigung stattfindet oder auch in Trennungssituationen. Aus den Kinderrechten, wo das Recht auf Familie festgeschrieben ist, lassen sich das Recht auf Geschwister und die Forderung nach Kontakt zu Geschwistern ableiten. Wenn Geschwister in die Elternrolle geschlüpft sind und über Jahre Verantwortung für jüngere Geschwister übernommen haben, sind sie bei getrennter Unterbringung plötzlich nicht mehr in der Lage dazu, und darunter leiden sie oft sehr. Innerhalb der Fachszene wird mittlerweile für eine gemeinsame Unterbringung von Geschwistern plädiert, wo immer möglich. In der Praxis ist es noch nicht überall umgesetzt, weil manchmal pragmatische Gründe dagegen stehen.
Welche Auswirkung haben Geschwisterbeziehungen für die persönliche Entwicklung?
Geschwister betreiben im Rahmen ihrer Entwicklung und Identitätsformation Nischenbildung. Entlang eines breiten Spektrums zwischen enger und geringer Identifikation experimentieren sie mit verschiedenen Kombinationen von Ähnlichkeit und Differenzierung. Im Wettkampf um familiäre Ressourcen besetzen sie Bereiche, die ihre Geschwister nicht besetzt haben, und grenzen sich gezielt von ihren Geschwistern ab, oder aber sie imitieren, was sie bei Geschwistern beobachten.
Wie steht es nun wirklich mit den Ressourcen?
Das Resource Dilution Model, wonach Erstgeborene einen größeren Anteil der verfügbaren Ressourcen genießen und damit entwicklungsmäßig im Vorteil sind, wird mittlerweile kritisch hinterfragt. Die Wechselwirkungen zwischen Geschwistern werden im Modell nicht berücksichtigt. Jüngere Kinder können von ihren älteren Geschwistern profitieren: Die Älteren bringen ihnen Dinge bei, helfen bei schulischen Fragen oder reichen Lernmaterial weiter. Daraus entsteht eine positive Wechseldynamik: Die Jüngeren lernen von ihren Geschwistern und haben damit eine wertvolle zusätzliche Lernquelle, während die Älteren vom so genannten teaching effect profitieren. Sie vergegenwärtigen sich das Gelernte noch einmal und können so ihre Kenntnisse auf der kognitiven und Wissensebene vertiefen.
Was lernen wir noch von unseren Geschwistern?
Diese emotional ambivalenten Beziehungen bieten Nähe, Empathie und Zuneigung, sind aber zugleich auch konflikthaft, manchmal bis zu offener Ablehnung oder Hass, und sie sind von Konkurrenz und Rivalität geprägt. Genau darin liegt allerdings ein weiteres großes Potenzial: Da sie einerseits konfliktreich sind, andererseits nicht aufkündbar, fördern sie das Aushandeln, das Schließen von Kompromissen, und die Empathiefähigkeit. Beziehungen unter Geschwistern dienen als optimales Trainingsfeld für den Erwerb sozialer Kompetenzen, für das Üben von Nachgeben und Sich-Durchsetzen und für die Fähigkeit, später mit anderen Beziehungen einzugehen.
für ad astra: Karen Meehan
Zur Person
Seit 2005 ist Stephan Sting als Universitätsprofessor für Sozial- und Integrationspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung tätig. Sein Forschungsinteresse gilt den Bereichen sozialpädagogische Bildungsforschung, Sozialpädagogik im Kindes- und Jugendalter, soziale Arbeit und Gesundheit sowie Suchtprävention.