Verwandtschaft messen

Verwandtschaft sei nichts Gegebenes, Biologisches oder Natürliches. Verwandtschaft wird erst durch Messungen in Existenz gebracht, so Christof Lammer. Diese strukturieren ökonomische und politische Ungleichheiten weltweit.

Gibt es kulturelle Unterschiede, was als Verwandtschaft gilt und was nicht?
Es gibt tatsächlich viele verschiedene Ideen dazu. Diese wurden auch oft verwendet, um kulturelle Andersartigkeit festzuschreiben. Das übersieht jedoch grundlegende, gemeinsame, produktive Prozesse der Messung. Ich habe zuletzt gemeinsam mit Tatjana Thelen ein Sonderheft zu Measuring Kinship in der Zeitschrift Social Analysis herausgegeben, in dem ethnographische Beiträge aus Nordamerika, Europa, Afrika, aber auch Asien versammelt sind. In jedem der Fälle zeigt sich eine große Vielfalt an Indikatoren, die entwickelt worden sind, um Verwandtschaft zu messen.

Mit den DNA-Tests ist man ja mittlerweile auf einem sicheren Pfad, oder?
So eindeutig ist das nicht. Wir haben hier zwar eine Technologie, die präzise numerische Ergebnisse verspricht, doch auch solche Messungen sind umstritten. Welche DNA-Abschnitte werden verglichen? Welche Datenbanken werden als Bezugssysteme herangezogen, und wie werden die Wahrscheinlichkeiten, beispielsweise von Vaterschaft, berechnet? Dazu kommt die Grundsatzfrage: Ist Verwandtschaft überhaupt etwas Biologisches? Solche neuen Messungen machen Verwandtschaft nur noch vielschichtiger, weil zusätzliche Indikatoren und neue Daten hinzugefügt werden.

Was sind alternative Indikatoren?
Nehmen wir die Geschichte von Charlie Chaplin und Joan Barry. Joan Barry hatte eine uneheliche Tochter. Sie wollte, dass Charlie Chaplin als Vater anerkannt wird, er wehrte sich dagegen. Es kam in den 1940er Jahren zu einem Gerichtsprozess. Die Verteidigung legte damals neuartige Blutgruppentests vor, die Chaplin als potenziellen Vater ausschlossen. Letztlich waren es aber Aussagen über die enge Beziehung zwischen Chaplin und Barry, die die Geschworenen davon überzeugten, dass ihm die Vaterschaft zugesprochen wurde.

Es ist also irgendeine Form von Nähe, die entscheidend war, oder?
Ja, es gibt Vorstellungen, dass sich Verwandtschaft – neben körperlicher Ähnlichkeit oder Verhaltensähnlichkeit – durch Nähe ausdrückt. Ich nenne ein anderes Beispiel, das in unserem Sonderheft beschrieben wird: In Italien gibt es nach Verkehrsunfällen nicht nur Kompensationsleistungen für körperliches Leid, sondern auch für relationales Leid. Wie stark haben verwandtschaftliche Beziehungen durch einen Unfall gelitten? Bei den Verfahren sehen wir, dass neben genealogischer Nähe auch gelebte Nähe – gemessen an der Häufigkeit von Kontakten oder der Länge von Telefonaten – herangezogen wird.

Welche Konsequenzen hat Verwandtschaft?
Wir verhandeln darüber Fragen von Zugehörigkeit und Zugang zu Ressourcen, wie z. B. Erbschaften. In extremen Fällen führen Verwandtschaftsmessungen – wie etwa im Nationalsozialismus die Identifizierung von „Halb-“ oder „Vierteljuden“ mittels Genealogien – zur Auslöschung von Menschenleben. In anderen Fällen gehen mit Verwandtschaft gewisse Rechte einher, die die Staatszugehörigkeit betreffen. Wir sehen auch, wie der Rechtsstaat unterschiedlich vorgeht: Während es bei Patchworkfamilien schon sehr flexible Konzepte gibt, ist es bei Fragen des Bleiberechts der Gentest, der über ein Recht auf Familienzusammenführung entscheidet.

Irgendwie muss für den Staat Verwandtschaft aber messbar sein, oder?
Eigentlich muss ich Ihre Frage von vorhin umdrehen: Verwandtschaft ist die Konsequenz und entsteht erst durch die Messung. Es wird versucht, Legitimität für bestimmte Entscheidungen herzustellen. Häufig wird auf diesem Weg versucht, ganz andere Probleme zu lösen. In Brasilien wurden beispielsweise alleinerziehenden Müttern und deren „vaterlosen“ Kindern kostenlose DNA-Tests zur Verfügung gestellt, um Väter zu identifizieren und diese in eine Versorgungsverantwortung zu bringen. Damit wollte man das Problem von Armut bei alleinerziehenden Müttern  lösen. Das hat nicht funktioniert.

Was lernen wir daraus?
Mit den Messungen werden Lebenschancen und Zugang zu Ressourcen strukturiert. Wir übersehen aber häufig, dass diese Zuweisung gar nicht existieren würde, gäbe es die Messungen nicht. Das ist meines Erachtens auch eine Kerneinsicht der Science and Technology Studies: Fakten und Tatsachen werden dadurch gemacht, dass der Prozess ihrer Herstellung unsichtbar gemacht wird. Wir nehmen Dinge als gegeben und lassen den Herstellungsprozess viel zu oft außer Acht.

für ad astra: Romy Müller

Zur Person



Christof Lammer ist Postdoc-Assistent am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung. Er studierte Kulturund Sozialanthropologie sowie Sinologie an der Universität Wien, der Universität Tianjin und der Volksuniversität in Beijing. Er war Universitätsassistent an der Universität Wien, Fellow der  Forschungsgruppe „Verwandtschaft und Politik“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld sowie Gastforscher am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle.