Die Folgen sexueller Gewalt

In Kriegen und bewaffneten Konflikten wird sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen häufig als Machtinstrument eingesetzt. Wenn Frauen in Folge von sexueller Gewalt Kinder zur Welt bringen, verschlimmern sich in vielen Fällen die psychosozialen Auswirkungen – nicht nur auf die Mütter, sondern auch auf die Kinder. Antonio Piolanti von der Abteilung für Gesundheitspsychologie hat sich auf diese Thematik eingelassen und zwei Studien dazu veröffentlicht.

Warum beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschungsarbeit mit sexueller Gewalt und ihren Opfern?

Mit den Studien wollten wir, also meine Co-Autorin Myriam Denov und ich, Aufmerksamkeit für diese Thematiken erzeugen, da sie bis dato wenig erforscht werden. Wir haben uns Frauen und Kindern gewidmet, die – direkt oder indirekt – Opfer sexueller Gewalt, unter anderem während der Zeit des Völkermords in Ruanda, geworden sind, und von der internationalen Öffentlichkeit kaum beachtet werden. Mehr Aufmerksamkeit hat häufig auch mehr Geld und Hilfsangebote der internationalen Gemeinschaft zur Folge.

Welche Aspekte beleuchteten die beiden Studien?

Die erste Studie beschäftigte sich mit der Situation von Müttern, die während des Genozids in Ruanda vergewaltigt worden waren und infolge Kinder geboren hatten. Wir führten Interviews mit 44 Frauen, um ihre psychische Verfassung, Stigmatisierungserfahrungen und Bewältigungsstrategien mehr als 20 Jahre nach den Gewalttaten zu untersuchen.

Waren die Frauen sofort bereit, über die Geschehnisse zu sprechen?

Wir hatten Unterstützung von einer NGO, die schon längere Zeit mit betroffenen Müttern arbeitete und sie unterstützte. Aber die meisten wollten ihre Geschichte erzählen. Zusätzlich zu den Interviews wurde auch ein Workshop veranstaltet, bei dem die Teilnehmerinnen gebeten wurden, ihre Geschichte und ihren Lebensweg anhand der Metapher eines Flusses zu zeichnen, um das Auf und Ab ihres Lebens zu verdeutlichen. Das hat das Sprechen über ihre Erfahrungen erleichtert.

Wie ging es den Frauen zum Zeitpunkt der Befragungen?

Viele schämten sich für ihre Geschichte und litten sehr darunter. Erfahrungen sexueller Gewalt sind höchst traumatisierend. Wenn daraus auch noch ein Kind entsteht, hat das schwerwiegende psychische Folgen für die Mütter. Wie die Studie belegte, verstärkte sich der psychische Leidensdruck vor allem durch Stigmatisierung und Ausgrenzung durch Familienmitglieder und die Gemeinschaft, was wiederum die Genesung erschwerte und ein Leben in Armut zur Folge hatte. Die Kinder wurden von ihrem Umfeld oft als little killers bezeichnet. Sie symbolisierten die Gräueltaten des Völkermords und wurden häufig, gemeinsam mit ihren Müttern, isoliert.

Wie gingen die Frauen mit der Ausgrenzung und Diskriminierung um?

Einige sind umgezogen, um dem Umfeld zu entfliehen. Ein wichtiger Punkt waren auch Unterstützungsangebote durch externe Organisationen, wodurch sie auf Mütter mit ähnlichen Erfahrungen trafen. Der größte Rückhalt, wie viele berichteten, waren aber Familienmitglieder, die sie nicht verstoßen hatten und ihnen in der ganzen Zeit zur Seite standen.

In einer zweiten Studie standen die durch sexuelle Gewalt geborenen Kinder und ihre „Väter“ im Fokus.

Ja, hier ging es um Kinder von vergewaltigten Frauen in Ruanda und die Rolle des Vaters in ihrem Leben. Wir haben Interviews mit den Kindern, die zum Zeitpunkt der Studie 20 oder 21 Jahre alt waren, durchgeführt. Sie wussten selbstverständlich schon davor über die Umstände ihrer Zeugung Bescheid.

Wie erfuhren die Kinder von der Identität ihrer Väter?

Viele leben in kleinen Dörfern, in denen geredet wird, und haben so erfahren, wer ihr biologischer Vater ist. Wenn Kinder ohne Vater aufwachsen und bei anderen Gleichaltrigen sehen, dass es einen Vater gibt, kommen automatisch Fragen auf. Einige Kinder erfuhren auch von Familienmitgliedern oder von Gleichaltrigen über ihren Vater.

Welchen Einfluss hat das Wissen über ihre Väter auf ihr Leben?

Die meisten befragten Kinder wollten nichts über die Identität ihres Vaters wis  sen, betonten aber, dass die Abwesenheit des Vaters sie belastete. Ein paar wenige kannten ihre Väter. Manche sprachen davon, dass sie ihren Vater hassten, da er die Ursache allen Übels und der Grund ihres Leids und ihrer Situation war. Ein wesentlicher Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass es sich in Ruanda um eine patriarchale Kultur handelt, in der dem Vater ein besonderer Stellenwert zukommt und die Kinder häufig mit der Abstammung und Familie des Vaters identifiziert werden. Diese väterliche Seite nicht zu kennen oder, wie manche berichteten, von ihr abgelehnt zu werden, hat einen starken Einfluss auf die eigene Identitätsbildung.

Kinder werden so zu den indirekten Opfern sexueller Gewalt.

Es macht auf jeden Fall deutlich, welche Auswirkungen die Vergewaltigungen haben, meist auf die ganze Gemeinschaft, in der die Kinder und Mütter leben. Das Dorf oder die Gemeinde sieht die Kinder als Symbol eines Konflikts. Sie werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Außerdem erzählten sie von Mobbing und Ausgrenzung durch Gleichaltrige oder Familienmitglieder.

Wie charakterisierten sie die Beziehung zur Mutter?

Diese war oft ambivalent. Erzählten Mütter ehrlich über die Geschehnisse, konnten die Kinder in vielen Fällen Verständnis und Empathie für das Leid der Mutter aufbringen. Für einige waren wiederum der offene Umgang und die Wahrheit traumatisierend.

Spielten alternative Vaterfiguren eine Rolle im Leben der Kinder?

Einige Kinder berichteten, dass ihre Mütter neue Partner hatten, sie sahen diese meist nicht als Vaterfiguren an. Die meisten erzählten, dass sie vom Stiefvater schikaniert und schlecht behandelt wurden, in manchen Fällen war sogar von physischer und sexueller Gewalt die Rede.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Studien?

Es wurde deutlich, wie wichtig die Reintegration der Mütter in ihre Gemeinschaften und Familien ist. Die Stigmatisierung und Isolation infolge sexueller Gewalt zu verringern, kann die psychische Situation der Frauen verbessern. Wenn man die Realitäten der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen besser versteht, können diese Erkenntnisse wiederum bei Interventionen in anderen Kontexten, wie beim Umgang mit Flüchtlingen, eingesetzt werden.

Wie gehen Sie als Wissenschaftler mit solchen belastenden Forschungsthemen um?

Man sieht viel Ungerechtigkeit und fühlt sich oft machtlos. Menschen leiden zu sehen und nicht viel dagegen tun zu können, erzeugt eine gewisse Ohnmacht. Ich glaube, dass dieses Gefühl im Fach der Psychologie sehr häufig ist, aber man lernt, damit umzugehen.

Für ad astra: Katharina Tischler-Banfield

Zur Person


Antonio Piolanti ist seit Jänner 2021 Postdoc-Assistent am Institut für Psychologie, Abteilung für Gesundheitspsychologie. Sein PhD-Studium absolvierte er an der Universitá di Bologna. Während seiner Doktorarbeit war er als Gastprofessor an der McGill University in Montreal, Kanada, tätig. Seine nächste
Publikation ist eine Metaanalyse zur Prävention sexueller Gewalt in der Jugend.

Völkermord in Ruanda


Im Jahr 1994 starben innerhalb weniger Wochen in Ruanda rund 800.000 Menschen, überwiegend Anhänger*innen der Tutsi-Minderheit, durch Angriffe von radikalen Mitgliedern der Volksgruppe der Hutu. Schätzungsweise 250.000 bis 350.000 Frauen und Mädchen wurden in dieser Zeit vergewaltigt, zwischen 10.000 und 25.000 Kinder sollen aus diesen Vergewaltigungen geboren worden sein.