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Neues Buch über Ökolandwirtschaft und demokratische Bürokratie in China

Christof Lammers Ethnographie zeigt anschaulich die Komplexität politischer Prozesse in einem Ökodorf in Sichuan auf. Übliche Schubladisierungen des chinesischen Staates greifen hier nicht. Eine spannende Lektüre für alle, die sich dafür interessieren, wie Bilder autoritärer, sozialistischer und kultureller Andersartigkeit die Sozialpolitik und den Übergang zur ökologischen Landwirtschaft prägen.

Lammer, Christof. 2024. Performing State Boundaries: Food Networks, Democratic Bureaucracy and China. New York: Berghahn Books.

Im Rahmen seiner Forschung lebte der Sozialanthropologe Christof Lammer länger als ein Jahr in einem Dorf, das Teil eines alternativen Lebensmittelnetzwerkes war. Das Dorf hatte sich zum Ziel gesetzt, mit einer Genossenschaft den Umstieg auf ökologische Landwirtschaft zu schaffen. Initiiert wurde dieser Übergang Anfang der 2010er Jahre von Dong Jie. Er wurde von Akteuren mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen zugleich als Teil einer wiederbelebten traditionellen ländlichen Gemeinschaft geschätzt, als Teil der globalen Zivilgesellschaft respektiert und als gutes Parteimitglied und guter staatlicher Agronom gelobt. Diese Vielschichtigkeit ermöglichte es ihm, die Unterstützung von aktivistischen Wissenschafter:innen, organisierten städtischen Konsument:innen und der lokalen Regierung zu gewinnen. Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelt Christof Lammer im Buch einen innovativen Ansatz für die Anthropologie des Staates, der die performative Grenzarbeit zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Familie in ihrer Multiplizität und Materialität zu verstehen versucht.

Zur Zeit seines Aufenthalts im Ökodorf wurden eines Tages alle bestehenden Mindestsicherungen in der Gemeinde gestrichen und mussten neu beantragt werden. Gerechtfertigt wurde diese „Standardisierung“ nicht nur mit „zu viel“ Verwandtschaft – „Korruption“ – sondern auch mit „zu wenig“ Verwandtschaft und dem vermeintlichen Verlust traditionell chinesischer Werte – „mangelnde Haushaltsverantwortung“. Während diese Standardisierung einen Einschnitt in das Leben der bisherigen Empfänger:innen darstellte, bot dies für Christof Lammer die außergewöhnliche Gelegenheit bei der demokratischen Verwaltung der Mindestsicherungsanträge dabei zu sein. So konnte er beobachten, wie Grenzziehungen zwischen Staat und Verwandtschaft dieselben Praktiken als Individualismus, familiäre Sorge oder Korruption erscheinen lassen konnten und so über die Verteilung oder Streichung von Sozialleistungen entschieden.

„Das Buch ist nicht nur für China-Wissenschafter:innen interessant, sondern ganz allgemein für Sozialwissenschafter:innen, insbesondere für Sozialanthropolog:innen, denen es die Einbeziehung des Politischen in die Verwandtschaftsforschung nahelegt. Es ist gut strukturiert und eignet sich für Kurse über den lokalen Staat in der Volksrepublik China und die Anthropologie des Staates.“
Stephan Feuchtwang, London School of Economics and Political Science

„Lammers Buch ist ein hervorragendes Beispiel für eine ethnographisch fundierte theoretische Arbeit. Es bietet einen umfassenden Überblick über die Anthropologie des Staates … und treibt hochaktuelle theoretische Fragen voran. Eine weitere Stärke dieses Buches ist, dass es ein Gegengewicht zur orientalistischen Veranderung Chinas darstellt.“
Klāvs Sedlenieks, Stradiņš-Universität Rīga

Infos zu Buchpräsentationen (auch online!) sind hier zu finden.

Dank der großzügigen Unterstützung der Universität Klagenfurt und des Instituts für Gesellschaft, Wissen und Politik ist das gesamte Buch hier frei zugänglich (open access):
https://www.berghahnbooks.com/title/LammerPerforming

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Christof Lammer ist Sozialanthropologe am Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik der AAU. Derzeit ist er Fellow am Käte Hamburger Kolleg inherit – heritage in transformation an der Humboldt Universität zu Berlin. Er ist Mitherausgeber der Sonderhefte „Measuring Kinship: Gradual Belonging and Thresholds of Exclusion“ (2021, Social Analysis) und „Infrastructures of Value: New and Historical Materialities in Agriculture“ (2024, Ethnos). Er ist auch Mitorganisator des Wissenschaftlichen Netzwerkes „Anthropologie und China(s)“ (DFG, 2021–2025).

 

 

Neuerscheinung in Sonderheft zu Arbeit und Wohlfahrt im Globalen Süden

In seinem Beitrag in der Zeitschrift Global Social Policy untersucht Christof Lammer Sozialpolitik als Wissensprozess und zeigt, wie sich die Mindestsicherung (dibao) der Volksrepublik China und ihr Verhältnis zur Lohnarbeit nicht nur durch menschliche Akteure verändert, sondern durch die soziotechnische Materialität bürokratischer Methoden.

Das Verhältnis zwischen Sozialpolitik und Lohnarbeit steht im Mittelpunkt der sozialen Frage. Dieses Verhältnis wird häufig entweder quantitativ als Ursache-Wirkungs-Korrelation zwischen Variablen oder qualitativ und historisch als ein konzeptioneller Zusammenhang in den Köpfen politischer Entscheidungsträger*innen untersucht. Stattdessen beforscht Christof Lammer diesen Zusammenhang in seiner soziotechnischen Materialität im Politikprozess. Er folgt einerseits der politischen Anthropologie, die fragt, wie Bürokrat*innen Politik machen, und andererseits der Wissenschafts- und Technikforschung, die untersucht, wie soziale und technische Aspekte in Wissensprozessen miteinander verbunden sind.

In den Chinawissenschaften wurde die Einführung der Mindestsicherung (1998 in den Städten, 2007 in den Dörfern) gewöhnlich als eine Reaktion auf Veränderungen der Arbeitswelt verstanden, wobei insbesondere auf Massenentlassungen im Zuge der Restrukturierung von Staatsunternehmen, Bauernproletarisierung durch Landnahme sowie damit verbundene Unruhen verwiesen wurde. Später sei diese marktwirtschaftliche Form der Mindestsicherung jedoch darauf reduziert worden, nur extreme Armut zu bekämpfen – wie frühere Sozialhilfe unter Mao. Ethnografische Einblicke in die dibao-Politik in einem Dorf in Sichuan zeigen jedoch, wie die vorgesehenen Verbindungen zwischen Mindestsicherung und Lohnarbeit im Politikprozess durch verschiedene bürokratische Methoden sowie Erwartungen über die bürokratische Fähigkeit zu wissen ausgelöscht und verändert wurden. Zeitweise wurde dibao sogar in alternative politische Projekte, die ländliche Entwicklung durch Dekommodifizierung anstrebten, integriert.

Wird Sozialpolitik also als Wissensprozess untersucht, so zeigt sich, wie ihre soziotechnischen Verbindungen zur Arbeit sie als Antwort auf die soziale Frage neu konfigurieren.

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Lammer, Christof. 2024. „Social Policy as Knowledge Process: How Its Sociotechnical Links to Labour Reconfigure the Social Question.“ Global Social Policy 24(2): 166–184, https://doi.org/10.1177/14680181231210158.

Erschienen im Sonderheft: “Reconfiguring Labour and Welfare in the Global South: How the Social Question is Framed as Market Participation”, herausgegeben von Minh Nguyen, Helle Rydstrom und Jingyu Mao.

Christof Lammer ist Sozialanthropologe und Postdoc-Assistent am Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik der AAU. Derzeit ist er Fellow am Käte Hamburger Kolleg inherit – heritage in transformation an der Humboldt Universität zu Berlin.

 

Neuerscheinung: Erik Aarden in: Science, Technology & Human Values

In der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Science, Technology & Human Values ist ein Artikel von Erik Aarden als Teil der thematischen Sammlung „Extractions: Data Infrastructures and the Public Good“ veröffentlicht worden. Der Beitrag „Samples Are Precious“: Value Formations in the Potentiality and Practices of Biobanking in Singapore zeichnet die Wertbildung von medizinischen Proben und Daten  über die Lebensspanne von Biobanking-Sammlungen nach, um die soziale und zeitliche Komplexität der Wertbildung im Biobanking in Singapur aufzuzeigen. So wird auf die kontextuelle Besonderheit des Verständnisses von Biobanking als öffentliches Gut hingewiesen.

Erik Aarden ist Ass.-Prof. und stv. Institutsvorstand am Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik

inherit-Fellowship an der HU Berlin für Christof Lammer

Christof Lammer erforscht von April 2024 bis März 2025 an der Humboldt-Universität zu Berlin, wie Verwandtschaftsmessungen Große Pandas zu einem schützenswerten Naturerbe machen.

Der Sozialanthropologe Christof Lammer, Postdoc-Assistent am Institut für Gesellschaft, Wissen & Politik der Universität Klagenfurt, wurde vom neu gegründeten Käte Hamburger Kolleg inherit – Heritage in Transformation zu einem einjährigen Fellowship an die HU Berlin eingeladen. Dort bearbeitet er das Projekt „Panda Heritage: Kinship Measurements and Life’s Value in Species Conservation“. Damit vertieft er sein Interesse an den politischen und ökonomischen Konsequenzen von Verwandtschaftsmessungen und an der materiellen Herstellung von Wert durch Informationsinfrastrukturen.

Was macht Natur wertvoll und als „Erbe“ schützenswert? Im Fall von Artenschutzbemühungen vermutet Christof Lammer, dass Verwandtschaftsmessungen eine zentrale Rolle spielen, wenn Menschen darüber entscheiden, welche Arten und Individuen geschützt werden sollen – und welche nicht.

Seine bisherige Forschung konnte bereits zeigen, dass Menschen Verwandtschaft auf verschiedene Art und Weise messen, um über menschliche Zugehörigkeit (z.B. Staatsbürgerschaft), Rechte (z.B. Erbschaften, Sozial- und Versicherungsleistungen) und Pflichten (z.B. Alimente und Sorge) zu entscheiden. Verwandtschaft wird dabei mit sich überlappenden und konkurrierenden Indikatoren gemessen, etwa als genealogische Distanz, gelebte Nähe, phänotypische Ähnlichkeit oder genetische Unähnlichkeit.

Der Große Panda ist eine besonders interessante Spezies um zu untersuchen, wie Menschen im Naturschutz ebenfalls Messungen von Verwandtschaft verwenden, um die Herkunft von Arten und die Zugehörigkeit von Individuen zu bestimmen und damit letztendlich über den Wert von Leben zu entscheiden. Denn Pandas sind Symbol globaler Naturschutzbemühungen und werden als Weltnaturerbe geschützt. Gleichzeitig werden sie von der Volksrepublik China als nationaler Schatz beansprucht und für die sogenannte Panda-Diplomatie genutzt.

Im Rahmen von Panda Heritage wird Christof Lammer historische und zeitgenössische Quellen der Panda-Forschung analysieren und beteiligte Naturwissenschaftler:innen befragen. Ziel ist es herauszufinden, welche konkurrierenden Verwandtschaftsmessungen eingesetzt werden, um Pandas von anderen Arten abzugrenzen und ihre evolutionäre Herkunft zu bestimmen, um Entscheidungen über die Fortpflanzung von Pandas in menschlicher Obhut zu treffen, und um Schutzgebiete zu modellieren und Sorgepraktiken zu entwickeln, die eine „Auswilderung“ ermöglichen sollen.

Dadurch verspricht das Projekt Einblicke, wie unscheinbare Verwandtschaftsmessungen nicht nur den Schutz von bestimmten Arten und Individuen als Naturerbe rechtfertigen, sondern auch konkrete Schutzmaßnahmen beeinflussen, die wiederum in das Leben von anderen Arten und Menschen eingreifen.

Panda Heritage auf der Webseite von inherit: https://inherit.hu-berlin.de/projects/panda-heritage-kinship-measurements-and-lifes-value-in-species-conservation