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„Laientheologie“ zwischen Dichtung und Religion?

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Veranstaltungskategorie Tagung

„Sektionschef Tuzzi“, so lesen wir in Musils Notizen zum Aufbau seines großen Romans, als dieser noch den Arbeitstitel Der Erlöser trug (1921/22), „liest nur Homer und die Bibel“ (KA/Lesetexte/MoE). Im Rahmen der Fortsetzung des 1930 und 1932 in zwei Teilbänden erschienenen Buches Der Mann ohne Eigenschaften gibt die „Zwillingsschwester“ Agathe ihrem Bruder Ulrich dann im Grundentwurf des Kapitels Wandel unter Menschen (1933/34) lächelnd den Rat „Lies die Bibel!“ (KA/Lesetexte/Band 3/MoE), nachdem sie ihn bei einem Falschzitat aus derselben erwischt hat.
Und im Nachlass-Kapitel Atemzüge eines Sommertags, an dem der Autor noch am 15. April 1942, dem Tag seines Todes, gearbeitet hat, denkt Agathe „daran, daß beide diese Namen [sc. das Tausend-jährige Reich und das Reich der Liebe] schon seit den Zeiten der Bibel überliefert werden und das Reich Gottes auf Erden bedeuten, dessen nahe bevorstehender Anbruch in völlig wirklicher Bedeutung gemeint ist“ (GA 4, S. 428), und auch Ulrich benützt „zuweilen diese Worte ebenso unbefangen wie seine Schwester“, „ohne deshalb an die Schrift zu glauben“ (ebd.)
Niemand Geringerer als der späte Northrop Frye hat zunehmend prononciert die für die Literaturwissenschaft (wenigstens die angelsächsische – von Harold Bloom und Margaret Atwood bis Frederic Jameson) immens wirkmächtige These vorgebracht, der zufolge „[j]ede menschliche Gesellschaft eine durch die Literatur vermittelte, verschiedenartige Mythologie (besitzt), die sie geerbt hat“ (Frye 2013a [1990], S. 8) und dass insbesondere die Bibel in ihrer Doppelstruktur einen „großen Code“ darstelle, ohne dessen Kenntnis in inhaltlich-thematischer ebenso wie formal-ästhetischer Hinsicht ein Großteil der westlichen Literatur schlicht unverständlich bleibe (vgl. Frye 2007 [1981] bzw. 2013b [1991]). Ist eine solche Betrachtungsweise auch für das Werk Musils aufschlussreich? Was hat es mit den angeführten, über nahezu die gesamte Entstehungszeit des Romans (und nicht nur für diesen Teil seines OEuvres) bemerkenswert konstanten Bezugnahmen auf die Bibel bei Musil auf sich – die für die erste Bearbeitergeneration desselben noch ganz präsent waren (vgl. Deibler 2003, S. 15), während sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Musilforschung doch deutlich in den Hintergrund der Aufmerksamkeit getreten sind –, was zumal mit Musils späten Notizen zur Laientheologie (vgl. GA 12, S. 539–545; s. auch Boelderl 2023)?