Erosion am Tagliamento
Die Kunstarbeitszone des UNIKUM ist bekanntermaßen der Alpen-Adria-Raum. In diesem Jahr wird es im Rahmen ihres Zweijahresprogramms „Auflösung und Zusammenhalt“ ein Projekt gemeinsam mit Herwig Turk und Studierenden der Universität für angewandte Kunst Wien zum und am Tagliamento realisieren.
Herwig Turk arbeitet schon seit langer Zeit an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein häufiges Motiv ist die Landschaft. Für sie ist er Experte und begegnet ihr mit inter- und transdisziplinären Methoden. Er hinterfragt die oberflächliche Naturerscheinung mit kritischem Blick, fokussiert auf gerne Übersehenes und dokumentiert dieses bevorzugt in bewegten und unbewegten Bildern.
Der Tagliamento ist widerspenstig, nicht zu fassen und nicht zu zähmen. Im Laufe der Jahreszeiten verändert er immer wieder sein Flussbett. Mit einer Länge von rund 170 km ist er der mächtigste und wichtigste unter den Wildflüssen der Alpen. Er entspringt am Mauriapass in der Nähe von Belluno, fließt durch Karnien und das Kanaltal und mündet zwischen Bibione und Lignano in die Adria. Über weite Strecken ist der Flusslauf weitgehend unreguliert und bildet ein eigenes, reiches Ökosystem. Sturzbäche, so genannte Torrentes, suchen sich in der Tiefebene im unteren Teil neue Wege und bilden einen „verflochtenen Fluss“.
Im Mittelteil kann der Tilment, wie er auf Slowenisch heißt, innerhalb von 24 Stunden in der Breite auf einen Kilometer anwachsen. Die Strömung reißt Bäume und Totholz mit und schiebt Geröll und Steinmassen vor sich her. Geplante Rückhaltebecken und andere regulierende Eingriffe scheitern immer wieder an den Protesten von Anrainerschaft und Naturschutz. Das freut GeländewagenfahrerInnen, die sich auf den Kiesbänken austoben, aber auch KanufahrerInnen und WissenschaftlerInnen aus derganzen Welt, die hier ein biologisches Freiluftlabor vorfinden. Oder trügt das Bild, das wir vom Tagliamento haben?
Im Projekt von Herwig Turk und mehreren Studierenden geht es um eine Recherche der geopolitischen, geologischen, ökologischen und ökonomischen Dynamiken im Tal und an den Rändern des Tagliamento: „Diese Dynamiken legen sich wie Folien über ein beindruckendes Landschaftsbild, das oft als intakte Naturlandschaft kommuniziert wird und das eine interessante Diskussion über den Naturbegriff zulässt. Es bleibt die Frage, wo entsteht das Bild der Landschaft? Wird es vielleicht nur in der BetrachterIn oder NutzerIn konstruiert?“, lautet eine der Ausgangsthesen von Turk.
Anhand der Wasserbewirtschaftungssysteme, der militärischen Anlagen und der logistischen Infrastruktur soll eine Topografie entworfen werden, die eine spezifische Nutzung der Landschaft sichtbar macht. Diese Nutzung basiert auf geologischen Bedingungen, die gleichzeitig als Reichtum und als Bedrohung gelesen werden können. Die Ortschaften sind nicht zufällig an den Bruchlinien der Kontinentalplatten entstanden, dort, wo Bodenschätze vorhanden sind und Handelsströme sich entlang dem Flussbett schlängeln. In zyklischen Abfolgen wird das Aufgebaute durch Hochwasser, Erdbeben und Erosion in Frage gestellt und teilweise dem Boden gleichgemacht.
Turk fragt nach der zukünftigen Nutzung des Gebiets, das bis heute nur zu einem kleinen Teil unter Naturschutz steht: „Was sind die eigentlichen Ressourcen, auf denen die angesiedelten Kommunen aufbauen? Was soll wie konserviert oder restauriert werden? Wo macht ein Neuanfang Sinn? Ist der industrielle und wirtschaftliche Abstieg die Bedingung des letzten weitgehend unregulierten Stroms Europas und die weitgehende Absiedlung der EinwohnerInnen das perfekte Szenario der Konservierung?“
Für ad astra: Barbara Maier