Stolpersteine am Alten Platz in Klagenfurt | Foto: aau/Tischler-Banfield

Gegen das Vergessen

2017 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 72. Mal. Wir stehen damit in einer Zeit, in der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Nationalsozialismus langsam verschwinden. Ein interdisziplinäres Projekt von JungwissenschaftlerInnen widmet sich insbesondere der Generation jener junger Menschen, die als letzte mit diesen unmittelbaren ZeugInnen in Austausch treten kann. Im Mittelpunkt des Projekts steht die Frage, wie Erinnerungen an den Nationalsozialismus an Jugendliche weitergegeben werden und wie junge Menschen den öffentlichen und privaten Erinnerungsdiskurs mitgestalten.

Kann man Ereignisse erinnern, die man selbst nicht erlebt hat? Diese Frage spielt im Projekt zum Thema Nationalsozialismus und Erinnerungsgemeinschaften eine zentrale Rolle, sind doch die meisten Befragten lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. „Wir stehen an einem interessanten Punkt. Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt über 70 Jahre hinter uns, aber es gibt noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die über den Nationalsozialismus und den Holocaust berichten können. Uns hat interessiert, wie die Gesellschaft damit umgeht, dass die TrägerInnen des
kommunikativen Gedächtnisses bald nicht mehr verfügbar sind. Wie werden Erinnerungen dann an nachfolgende Generationen weitergegeben?“, schildert Daniel Wutti, Mitglied des Projektteams, den Ausgangspunkt des Forschungsprojekts.

Die ForscherInnen haben zunächst die verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften in Kärnten charakterisiert, um zu verstehen, welche Rolle Jugendliche im gemeinsamen Diskurs dieser Erinnerungsgemeinschaften spielen. „Etwas zu verschweigen und nicht zu thematisieren ist auf Dauer anstrengend. Wenn nun die EnkelInnengeneration nachfragt, kann das für die ganze Familie heilsam wirken“, erläutert Daniel Wutti (Institut für Psychologie). Die Analysen haben gezeigt, dass Jugendliche ganz  unterschiedlich mit dem Thema umgehen, je nachdem wie der Nationalsozialismus in ihren Familien und ihrem Umfeld thematisiert wurde und wird. In Familien, wo die Erzählungen stark aus Opfersicht wiedergegeben werden, ist die Betroffenheit auch in der jüngsten Generation nach wie vor sehr groß. In Familien hingegen, in denen über diese Zeit geschwiegen wurde bzw. wird, sind die Jugendlichen vom Nationalsozialismus emotional distanziert und spüren keine Anknüpfungspunkte zu diesem Thema – „obwohl es diese wahrscheinlich bei jeder Familie gibt“, so Wutti.

Neben SchülerInnen wurden auch Lehrpersonen sowohl in qualitativen Interviews als auch in quantitativen Umfragen befragt. Zusätzlich hat das ForscherInnenteam Gruppeninterviews und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt sowie Zeitungen der letzten drei Jahrzehnte diskursanalytisch untersucht. In dem von OeNB, Nationalfonds und der Privatstiftung Kärntner Sparkasse geförderten Projekt forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fünf Disziplinen: Medien- und Kommunikationswissenschaft, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Geschichte, Psychologie und Friedenspädagogik.

173 Lehrerinnen und Lehrer sowie 98 Schuldirektorinnen und -direktoren beteiligten sich an der Befragung. 28 % gaben an, in den letzten fünf Jahren Projekte zum Thema Nationalsozialismus, Holocaust oder Erinnerungskultur durchgeführt zu haben. Der Großteil (79,9 %) der LehrerInnen gab an, dass ihr Wissen über den NS primär aus privater Aneignung stamme, nur wenige (15,1 %) führen ihr Wissen auf ihre Ausbildung zurück. Gut die Hälfte der LehrerInnen führt an, dass der Lehrplan genug Zeit für das Thema im Unterricht lässt. Neben den Themen Antisemitismus, Holocaust, Konzentrationslager, NS-Ideologie und Propaganda wird das Thema „Widerstand“ (71,1 %) am häufigsten behandelt, interessanterweise aber nur in wenigen Fällen anhand der Kärntner PartisanInnen. Als der ZeitzeugInnen-Unterricht in den 1980er Jahren begann, waren es eher die unmittelbaren Täter und Opfer, die herangezogen wurden. Die heutigen ZeitzeugInnen waren zur Zeit des Nationalsozialismus Kinder, was eine Emotionalisierung des Themas zur Folge hat.

Der Entfall der ZeitzeugInnen in den kommenden Jahren wird in den Umfragen von einem Großteil der LehrerInnen mit Besorgnis gesehen. Samo Wakounig, Projektkoordinator vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, sieht das weniger problematisch: „Es hat sich gezeigt, dass guter Holocaust-Unterricht, der demokratisierend wirkt und zum kritischen Denken anregt, auch ohne ZeitzeugInnen funktionieren kann. Dem natürlichen Entfall der ZeitzeugInnen kann u. a. mit der Aufarbeitung der persönlichen Familiengeschichte oder auch der regionalen
Geschichte, mit Berichten von ZeitzeugInnen der nachfolgenden Generationen, mit Projektarbeiten oder mit Videos und Multimedia-Inhalten begegnet werden.“ Projekte zum Thema Nationalsozialismus, bei denen im eigenen Umfeld, in der eigenen Region geforscht wird, wirken also ähnlich wie der Besuch von ZeitzeugInnen im Unterricht. Sie helfen, Betroffenheit zu
erzeugen und regen zum Nachdenken an.

Neben der Thematisierung des Nationalsozialismus in Schulen tragen auch andere Aktivitäten zum Erinnerungsdiskurs bei. In den letzten Jahren hat sich in der Gedächtniskultur in Kärnten und Österreich viel getan. Initiativen wie „Erinnern Gailtal“ oder erinnern.at, eine Plattform des Bundesministeriums für Bildung, erzählen Neues. „Es hat wahrscheinlich auch einfach seine Zeit gebraucht. In unseren Befragungen haben Lehrerinnen und Lehrer bestätigt, dass sie erst in den letzten Jahren ohne Konsequenzen über die NS-Zeit sprechen können“, so Wutti. Samo Wakounig fügt hinzu: „Im Projekt wurde deutlich, dass die Erinnerung, die im kulturellen Gedächtnis bleiben wird, mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere sein wird als jene, die 70 Jahre präsent war. Dank der Erinnerungsinitiativen und der Distanziertheit und zugleich zunehmenden Emotionalisierung von einigen wenigen wird es zu neuen Narrativen kommen, die niedergeschrieben werden.“

für ad astra: Katharina Tischler-Banfield

Zum Projekt

„Erinnerungsgemeinschaften in Kärnten. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis der Jugendlichen“

Aktuelles Projektteam: Daniel Wutti (Psychologie, links im Bild), Samo Wakounig (rechts im Bild) & Nadja Danglmaier (Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung), Andreas Hudelist (Medien- und Kommunikationswissenschaft) sowie Kristina Abing und Marius Adolph als studentische MitarbeiterInnen.

Fördergeber: Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB), Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, Privatstiftung Kärntner Sparkasse

Daniel Wutti (links) und Samo Wakounig | Foto: aau/Tischler-Banfield