Alte Treppe | Foto: agcreativelab/Fotolia

„Davon haben wir nichts gewusst.“

Strukturen der Gewalt in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und im Landesjugendheim Rosental beschäftigen bis heute.

Bestimmte Strukturen ermöglichten über Jahrzehnte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und im Landesjugendheim Rosental (Görtschach). In einem Forschungsprojekt untersuchen Ulrike Loch (Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung) und ihr Team diese Strukturen. 90 Prozent der dort von sexualisierter Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen waren Buben, dies unterscheidet die Vorkommnisse in Kärnten von anderen, wo vorwiegend Mädchen betroffen sind.

In Gang gesetzt wurde das Projekt durch die Kinder- und Jugendanwältin des Landes Kärnten. Ihr war aufgefallen, wie viele Kinder und Jugendliche sowohl im Landesjugendheim wie auch in der Heilpädagogischen Abteilung untergebracht waren und von (sexualisierter) Gewalt durch den damaligen Primar und auch anderen MitarbeiterInnen in beiden Einrichtungen berichteten. Dies deutete auf Gewaltstrukturen hin, deren Untersuchung in das Forschungsprojekt mündete. Die Forscherinnen interviewen Fachkräfte aus dem Gesundheitsbereich und der Jugendwohlfahrt, die damals in einer der Einrichtungen oder in anderen Institutionen der Jugendwohlfahrt tätig waren oder die die Opfer z. B. therapeutisch unterstützen.

Primar Franz Wurst als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt der Untersuchungen war Primar Franz Wurst, der sowohl in der Heilpädagogischen Abteilung wie auch im Landesjugendheim tätig war und wegen sexualisierter Gewalt gegen Kinder, vor allem Buben, im Jahr 2002 rechtskräftig verurteilt wurde. Wurst arbeitete schon seit Anfang der 1950er Jahre für den fürsorgeärztlichen Dienst und war über seine Gutachtertätigkeit mitverantwortlich dafür, ob Kinder und Jugendliche durch Jugendfürsorge bzw. Jugendwohlfahrt fremduntergebracht wurden.

Aus dieser Tätigkeit ging seine Anstellung am LKH, verbunden mit der Leitung der Heilpädagogischen Abteilung (1969−1985), hervor. Parallel dazu und über seine Pensionierung hinaus betrieb Franz Wurst bis 2000 eine Privatordination. Ferner lehrte er an den Universitäten Graz, Klagenfurt und Wien sowie in der Ausbildung von LehrerInnen, KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen.

Institutionelle Strukturen, die Gewalt zuließen und förderten
Das Landesjugendheim Rosental wurde in den Nachkriegsjahren als Heim für Buben aufgebaut. Franz Wurst war schon beim Umbau des Gebäudes konsultierend tätig. Später war er für die ärztliche Betreuung des Heims zuständig. In diesem Heim wurden Kinder und Jugendliche untergebracht, deren Heimschicksal oft aus Kleinigkeiten heraus besiegelt wurde. Zum Beispiel führte uneheliche Geburt zur gesetzlichen Vormundschaft durch das Jugendamt. Von jahrelangen Gewaltexzessen betroffen waren vor allem Kinder und Jugendliche, die in der Gesellschaft besonders ungeschützt waren. Strukturell begünstigt wurde die Gewaltausübung, da das LKH und das Landesjugendheim in gleicher Trägerschaft waren. Mit dieser mehrfachen Trägerschaft lagen beim Land Kärnten gleichzeitig die Personalverantwortung, der Gesundheits- und Kinderschutzauftrag und die Kontrollverantwortung für beide Einrichtungen und die Jugendämter. Franz Wurst schaffte es über Jahrzehnte, sich innerhalb dieser Strukturen an zentralen Stellen zu positionieren und ein Netz von täterloyalen Schutzmechanismen aufzubauen, das auch durch eine fatale Vermischung von Aufgaben und Funktionen ermöglicht wurde.

Gezielter Aufbau gewaltvoller Strukturen
Bei Gewalt in Institutionen spricht man oft von Gelegenheitsstrukturen, die Gewalt ermöglichen. Diese Untersuchung zeigt jedoch, dass im Falle der Institutionen Heilpädagogische Abteilung und Landesjugendheim neben Gelegenheitsstrukturen auch vom gezielten Aufbau und Erhalt eines Systems zu sprechen ist. Ein System also, das Gewalt intendierte. Hierzu gehörte, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche sich in einem ausweglosen Zirkel zwischen der Heilpädagogischen Abteilung und dem Landesjugendheim befanden: Wenn die Kinder und Jugendlichen Symptome wie Aggression in Folge der auf der Heilpädagogik erlittenen sexualisierten Gewalt zeigten, wurden sie auf Basis der Gutachten der Heilpädagogik zumeist mit dem Hinweis auf Verwahrlosung durch das Jugendamt und die Fachabteilung des Landes in das Jugendheim Rosental eingewiesen. Auf widerständiges Verhalten im Jugendheim folgte wiederum die Überweisung in die Heilpädagogische Abteilung.

Loyalitäten
Wurst, der österreichweit als „Kapazität“ galt, war über Jahrzehnte hinweg sakrosankt. In Fachkreisen wurde zwar über seine Methoden gewitzelt, nachhaltig hinterfragt wurden sie nicht. Gab es dennoch Fachpersonal, das Fragen stellte, so wurde es durch Drohung, Ausgrenzung oder väterliche Amikalität ruhiggestellt. Obrigkeitshörigkeit und auch ein gewisser Stolz, zum Dunstkreis des in Interviews auch als „Gott“ bezeichneten Wurst zu gehören, brachte viele Menschen dazu, „wegzuschauen“. Schweigen belohnte Wurst mit Loyalität, die er aber denjenigen entzog, die Fragen stellten. Noch zu seinem 80. Geburtstag (2000), als in Fachkreisen bereits Vorstoße zur Beauftragung der Ethikkommission stattfanden, wurde Franz Wurst in einer Laudatio seitens des LKHs an der AAU als „Anwalt des Kindes“ gefeiert. Seine Vernetzung ermöglichte es ihm, über Jahrzehnte Anschuldigungen niederzuschlagen und Verdachtsmomente zu zerstreuen.

Lerneffekte aus dem institutionellen Versagen
In der Ära Wurst wurden Strukturen und Zuständigkeiten immer wieder autoritär durchkreuzt und damit funktionsunfähig gemacht. Gerade deshalb sei es wichtig, so die Forscherinnen, heute Strukturen weiter auszubauen, die die Konzentration einer Vielzahl von Funktionen und von Wissen auf eine Person innerhalb einer Institution bzw. eines Handlungsfeldes verhindern. Die Untersuchung zeigt ferner, wie wichtig es ist, Kooperationen in der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie durch klare Zuständigkeiten und Funktionen, verantwortungsvolle Aufgabenwahrnehmung sowie interdisziplinäre Fallarbeit auf Augenhöhe unter Einbeziehung der Perspektiven der Kinder und Jugendlichen zu gestalten.

Verantwortung
Das Forschungsteam ist immer wieder entsetzt von dem Ausmaß an struktureller, personeller und epistemischer Gewalt, das sich in den Forschungsdaten zeigt. Zugleich stellte sich zunehmend die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft bei der Aufrechterhaltung der Gewaltspirale. Seit August 2017 hat die AAU die Forschung um die Frage erweitert, welche Verantwortung der Universität Klagenfurt innerhalb dieses Gewaltsystems zukam. Hierzu werden in den kommenden Monaten Interviews mit (ehemaligen) MitarbeiterInnen der AAU geführt.

für ad astra: Annegret Landes