Manfred Borovcnik | Foto: KK

Kinder kommen von Störchen: Statistik richtig verstehen

Auswertungen von Datenbeständen regieren zunehmend die Welt: Amazon errechnet, was wir kaufen wollen, Google interpretiert anhand von Suchanfragen, wer wir sind, die Gesundheitsvorsorge fußt auf Statistik. Manfred Borovcnik ortet Kompetenzerweiterungsbedarf für das Verstehen von Statistik.

Kinder kommen von Störchen, eindeutig! Dies erklärt sich dadurch, dass die Geburtenzahlen sinken, wenn es weniger Störche gibt. Der außerordentliche Professor am Institut für Statistik Manfred Borovcnik bringt dieses „alte“ Beispiel, um zu illustrieren, wie Daten interpretiert werden. Im Fall der Störche gibt es eine Drittvariable in Form der Industrialisierung: Sie ist für mehr Bebauung von Landflächen verantwortlich, weswegen Storchpopulationen zurückgedrängt werden. Und im Zuge der Industrialisierung wurden mehr Frauen erwerbstätig, was geringere Geburtenzahlen zur Folge hatte. Richtig gelesen kommen die Kinder also nicht von den Störchen, sondern die Industrialisierung ist Teil eines Phänomens, das in Zusammenhang mit Storchpopulationen und Geburten steht. Für Borovcnik wird so deutlich, dass eine Statistik immer nur ein Hilfsmittel sein kann, das aber für die richtige Interpretation stets kompetente LeserInnen braucht.

Die Bedeutung der Statistical Literacy sei heute aber größer denn je, würden statistische Methoden auch zunehmend im machine learning und deep learning erfolgreich eingesetzt. Die daraus resultierenden Technologien werden unsere Zukunft in den Wissenschaften und im Alltag einschneidend verändern. Dabei gehe es, so Borovcnik, gar nicht immer nur darum, dass der Einzelne versteht, wie Online-Handelsriesen zum Kaufen verführen, sondern es gebe auch Beispiele für die Bedeutung von Statistik und Wahrscheinlichkeiten im nicht-digitalen Leben. Er führt zwei davon an, die die Themen Zukunft und Risiko beinhalten und häufig nicht-rationales Verhalten zur Folge haben: Glücksspiel und Versicherungen.

„Versicherungen sind der Abtausch eines Risikos in der Zukunft gegen Geld, das ich gleich bezahle.“ Der Versicherungsnehmer ist in einer unsicheren Situation und möchte Sicherheit kaufen, während die Versicherung sich in einer sicheren Situation befindet. „Ich kann mich dabei gar nicht gegen das Risiko selbst, z. B. zu verunfallen, absichern, sondern nur gegen materielle Folgen. Der Trick der Versicherung ist es aber, mir auch das andere vorzutäuschen.“ Etwas Positives versucht im Vergleich dazu das Glücksspiel vorzugaukeln: Hier ist die Spielerin in einer sicheren Situation und die Spielbank setzt sich einem vermeintlichen Risiko aus. Letztlich muss sie aber immer gewinnen.

Für den Menschen fühlen sich die Wahrscheinlichkeiten sowohl bei den Versicherungen als auch beim Glücksspiel anders an, als sie tatsächlich empirisch oder mathematisch gegeben sind. Borovcnik erklärt weiter: „Wir haben es immer mit einer Auseinandersetzung zwischen Psyche und Formalem zu tun. Das Psychische ist archaisch, das Formale ist virtuell aufgesetzt. Daher ist es schwierig, Statistical Literacy aufzubauen. Mir wäre es aber ein Anliegen, das Formale – wissens- und kompetenzbasiert – zu stärken.“

Borovcnik hat zum Grundlagenstreit in der Stochastik promoviert. In seiner Habilitation untersuchte er das Verhältnis von Intuitionen und Mathematik. Jüngere Forschungsprojekte sind: Literalität in Wahrscheinlichkeit und Risiko, Risiko in Gesundheitsfragen, Technologie-gestütztes Lernen inklusive Aufbau einer Bibliothek mit Applets zu Schlüsselbegriffen der Statistik.

Buchtipp:
Batanero, C. & Borovcnik, M. (2016). Statistics and Probability in High School. Heidelberg: Springer.

für ad astra: Romy Müller

Zufallsschwankungen mit 50 Daten