Julia Ganterer | Foto: aau/Müller

Außen sichtbar ausdrücken, was innerlich passiert

Tätowierungen, Piercings und Implantate, aber auch Bodybuilding und Schönheitsoperationen gehören zu den herkömmlichsten Formen der Körpermodifikation. Julia Ganterer, Dissertantin am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, untersucht für ihre Arbeit, warum junge Heranwachsende zwischen 18 und 23 Jahren ihren Körper gestalten. Unter ihren Interviewpartnerinnen und -partnern waren auch viele Studierende.

Frisch zurückgekehrt von einem inspirierenden Auslandsaufenthalt in Australien kommt Julia Ganterer voller Begeisterung und forscherischem Tatendrang zum Interview. Sie ist, wie es nicht zuletzt ihr Tattoo auf der Innenseite des Oberarms erzählt, eine „Freidenkerin“: „Im Geist ist man frei. Zwar nur dort, aber immerhin.“ Mit dieser Off enheit ist sie auf ihre Interviewpartnerinnen und -partner zugegangen und hat die jungen Heranwachsenden gefragt: Was steckt hinter euren Körpermodifikationen? Was hat das, was auf eurer Körperoberfläche sichtbar wird, mit leiblichen Erfahrungen und dem, was man gemeinhin „Identität“ nennt, zu tun? Julia Ganterer geht davon aus: „Man verändert seinen Körper, und weiß meist nicht so genau, warum man das tut.“ Daher versuchte sie mit Unterstützung hermeneutischer und phänomenologischer Methoden, die „latenten Sinnstrukturen“ herauszufiltern, also „den stummen Erfahrungen eine Stimme zu geben“.

Der älteste und bekannteste Tattoo-Träger ist der mehr als 5.000 Jahre alte Ötzi. Wie Forscherinnen und Forscher 2015 bekanntgaben, trug er über 60 eher einfache Tätowierungen, die mit Kohlepulver gefärbt wurden. Man vermutet heute, dass die Stiche als eine Art Akupunktur eingesetzt wurden. Die Geschichte des Menschen ist von Körpermodifikationen wie dieser geprägt, die meist aufgrund von kulturellen Aspekten und Ritualen angewandt wurden. „Heute spielen diese Traditionen zumindest in unseren Kulturen kaum eine Rolle mehr“, so Ganterer. Die Tätowierungen wurden über die Seeleute nach Europa gebracht. Daher, so die Vermutung, sei es auch in vielen gesellschaftlichen Schichten noch immer so, dass die dauerhaften Körper-Bilder einen schlechten Ruf haben. Insgesamt sei, so Ganterer, die Stimmung aber schon wesentlich aufgeschlossener geworden. „Heute ist aber auch nicht so einfach feststellbar, ob Tattoos noch ein Tabu sind. Die Antworten variieren, je nachdem, wen man befragt.“

Vielerorts sind sie jedenfalls in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Verwendete Motive und tätowierte Körperstellen sind häufig Modetrends unterworfen; mit der Individualität sei es, so die Nachwuchsforscherin, oft nicht so weit her. Die empirischen Untersuchungen Ganterers haben gezeigt, dass es häufig auch gar nicht darum geht, was schließlich auf der Haut zu sehen ist: „Das Resultat steht oft gar nicht im Vordergrund, sondern es geht um den Prozess. Was bringt die Veränderung mit sich? Wie kann ich mich dabei spüren? Und was kann ich durch diesen Prozess ausdrücken?“ Diejenigen, die meist unumkehrbare Modifikationen an sich vornehmen, blicken dabei häufig mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft: „Es geht um den jetzigen Augenblick und die Erfahrungen, die man bis dahin gemacht hat.“

Doch warum ist es oft das junge Erwachsenenalter, in dem Frauen und Männer die Nadel an sich heranlassen oder andere Veränderungen vornehmen? Julia Ganterer glaubt gar nicht so sehr, dass das Alter entscheidend ist, sondern die Tatsache, dass das Heranwachsen häufig von vielen Wendepunkten begleitet ist: „Menschen machen einschneidende Erfahrungen. Diese Umbrüche brechen häufig auch die Grenzen zwischen Innen und Außen auf. Was wir dann sehen, ist Überwältigendes, das sprachlich nicht verarbeitet werden kann und in Form von körperlichen Modifikationen ausgedrückt, also auch nach außen gedrückt, wird.“ Ganterer geht davon aus, dass das Phänomen nicht altersspezifisch ist, sondern in jeder Lebensphase, die viel Neues bereithält, als Ausdrucksmittel genutzt wird. Der Effekt sei ähnlich, wenn jemand nach einer Trennung zum Friseur geht und so Einschneidendes mithilfe eines Schnitts sichtbar macht. Für Ganterer ist „jede Erfahrung leiblich“. Ein ebenso leiblicher Ausdruck von inneren Konflikten, aber auch freudvollen Momenten sei für sie nur schlüssig.

Die Gespräche mit ihren Interviewpartnerinnen und -partnern haben in vielen Fällen Verborgenes zutage gefördert und sowohl die ForscherIn als auch die jungen Heranwachsenden in einen Reflexionsprozess gebracht. Ein Beispiel ist ein junger Mann, der seinen Oberkörper in eine tätowierte Lebens- und eine Todeshälfte geteilt hat, mit einem Herzen dazwischen. Er war sich nicht bewusst, warum er sich für diese Motive entschieden hat; erst die intensive Auseinandersetzung zeigte auf, dass sein bisheriger Lebensweg von dem Verlust vieler Menschen geprägt ist.

Julia Ganterer hat sich für ihre Studie auch gefragt, ob es eine kritische Grenze für diese Körperpraktiken gibt. In dieser Frage, so ihr Fazit, will sie nicht werten, sie will „sich draußen halten“. Einzig: „Jeder Eingriff muss freiwillig und selbstbestimmt geschehen.“ Dahinter sollen weder religiöse noch kulturelle Zwänge stehen, wie das bei genitaler Verstümmelung der Fall ist. „Das sind meine Grenzen.“ Ganterer will ihre Dissertation im Winter abschließen; und danach offen alles annehmen, was kommt. Sie hat keine Ziele, sondern Wünsche, einer davon wäre, als Wissenschaftlerin nach Australien zurückzukehren.

für ad astra: Romy Müller


Desirée Hribernik studiert Medien- und Kommunikationswissenschaft an der AAU. Das große Tattoo auf der Brust ist nur eines von vielen, die ihren Körper schmücken.

Desirée Hribernik | Foto: aau/Müller