Literatur und Krankheit | Foto: Ralph/Fotolia.com

„Wenn man literarisch schreibt, muss man sich immer aufs Spiel setzen.“

Artur R. Boelderl fragt nach dem Wesen der Literatur. Mit ad astra hat er über körperliche und seelische Grenzerfahrungen bei Lesenden und Schreibenden gesprochen.

Ist Schreiben gesund?
Ja, Schreiben kann eine psychohygienische Funktion haben. Man muss aber differenzieren. Bei den Stoikern wie Marc Aurel ist die Übung des Schreibens eine Form der Selbstbeobachtung und Selbsterziehung ohne Publikumsausrichtung. Dabei handelt es sich um einen inneren Monolog, gleichsam mit dem Papier, auf dem man schreibt, das hat ordnende und reinigende Funktion. Ob allerdings literarisches Schreiben immer gesund ist, möchte ich bezweifeln, kann es doch auch in den Exzess ausarten. Nietzsche beispielsweise hat oft Tag und Nacht schreibend verbracht, bis an die Grenzen der Erschöpfung. Ein anderes Beispiel ist Kafka. Er hat den Schreibexzess als negative Form der Selbsterziehung begriffen, nach dem Motto: Wenn ich mich nicht völlig verausgabe und im Schreiben an die Grenzen meiner selbst gehe, kann das Geschaffene keinen poetischen Wert haben. Literarisches Schreiben wird oft zum selbstverzehrenden Schreiben.

Und wie heilsam kann das so Geschaffene für den Einzelnen und für die Gesellschaft sein?
Literatur ist wie andere Künste eine maßgebliche und unersetzliche Form der Selbstverständigung des Menschen. In Literatur, im Film und in der Musik bekommt der Mensch seine eigene Existenz vermittelt, über sie schreibt er sich in eine Kultur ein. Diesen Vorgang halte ich für unerlässlich. Literatur ist also „gesund“, in Anführungszeichen – und mit Nebenwirkungen. Deshalb interessiere ich mich auch für Psycho-Soma-Poetologie. Lesen kann sogar zu körperlicher Erschöpfung führen. Jeder von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, ein Buch gar nicht mehr weglegen zu können. Literatur kann auch Lese-Exzesse erfordern.

Inwiefern nimmt das Kranke Raum in der Literatur ein?
Als Literaturtheoretiker frage ich mich: Was ist Literatur und womit beschäftigt sie sich? Ich stehe hier unter dem Einfluss von Georges Bataille, einem französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der ein Buch mit dem Titel „Die Literatur und das Böse“ geschrieben hat, im französischen Original „La littérature et le mal“. Und „le mal“ ist auch das Kranke. Bataille geht es nicht nur um das moralisch Böse, sondern auch um das, was überhaupt zuwider ist, auch im physischen Sinne sowie an der Schnittstelle zwischen Seele und Körper. Sobald die Literatur in der Moderne aufhört, Regelpoetik zu sein, ufert sie in alle Richtungen aus und wuchert wie ein Krebsgeschwür. Sie liefert eine Beschreibung des Lebens in seiner ganzen Breite und Fülle. Und dazu gehören auch Krankheiten.

Worin liegen die Vorteile des Kranken gegenüber dem Gesunden?
Die Antwort ist einfach: Das Kranke ist spannender. Literatur dient immer auch der Unterhaltung, die nicht nur heiter, sondern auch voller Spannung, Schrecken und Schauder sein kann. Abweichungen und Pathologien sind literarisch interessanter als die Norm und das Normale. Das ist nicht zuletzt in literaturdidaktischer Perspektive bedeutsam: Im Literaturunterricht können wir den Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass es in der Literatur etwas zu verstehen gibt, etwas, was sich nicht von selbst versteht. Problemlösungskompetenz ist eine Sache; der Literatur hingegen geht es um Problemfindungskompetenz. Schülerinnen und Schüler können so dafür gewonnen werden, mit Begeisterung auf die Frage zuzugehen, was einen Text umtreibt.

Inwiefern sind diese Befunde epochenübergreifend?
Wenn man sich für das Wesen von Literatur interessiert, wird man bald feststellen, dass sie ihre Gestalt im Laufe der Geschichte verändert. Wie wir sie heute als hohe Kunst kennen, in diesem emphatischen Literaturverständnis, taucht sie erst spät auf. Und damit auch die Figur des Künstlers, mit der das Interesse für Biographie und Autobiographie einhergeht. Wenn sie beginnt, sich selbst zu beschreiben, mit allen Irrungen und Wirrungen, stößt die charakteristische moderne Künstlerfigur auch auf die Widersprüche zwischen Gesundsein und Kranksein.

Der kranke Künstler, der aus seinem Leid erst Genialität schafft, gilt als Gemeinplatz. Hat dieser Stereotyp Berechtigung?
Nicht im Sinne einer Repräsentation von Krankheitsbildern, doch dieses Moment der Selbst- und Fremdbeobachtung spielt eine ganz wesentliche Rolle. Der kranke Künstler oder die kranke Künstlerin hat im Unterschied zu nicht künstlerisch in der Welt seienden Menschen eine höhere Sensibilität, die, wenn sie zur Hypersensibilität wird, allein schon ein Krankheitsbild darstellt. Der Psychotiker zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht zwischen den Dingen, die ihn angehen und betreffen, und den anderen differenziert. Ihn geht alles an. Er wird von allem betroffen. Er steht völlig im Mittelpunkt seiner Welt. Wenn man Handke liest, gewinnt man einen Eindruck davon. Ohne Handke oder vergleichbare Künstler umstandslos als Psychotiker oder Egomanen bezeichnen zu wollen, ist es doch diese Form der Ich-Zentriertheit, die eine Voraussetzung für literarisches Schreiben darstellt.

Der Künstler muss sich also wichtig nehmen, oder?
Für eine Veröffentlichung braucht es vielleicht sogar Hochmut. Bataille wirft die Frage auf: Was für ein unglaublicher Affront ist es eigentlich, etwas niederzuschreiben in der Hoffnung, dass jemand anderer dafür Interesse entwickelt und es liest? Die Autorin oder der Autor muss sich dann aber zurücknehmen und vom Text lösen. Umberto Eco fordert sogar, der Autor müsse das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat, damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört. Es gibt schließlich nichts zu erklären über das hinaus, was der Text ohnehin selbst sagt.

Achtsamkeit und Sich-Spüren sind im Trend. Sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller heute achtsamer mit sich als früher?
Wenn man literarisch schreibt, muss man sich immer aufs Spiel setzen. Man muss sich ins Spiel bringen und auch von sich selbst distanzieren. Dabei kann man sich objektiv betrachten, man kann aber auch experimentieren und den Selbstverlust im Schreiben suchen. Insofern gehört es zum Literaturschaffen dazu, in einen sensiblen Austausch mit sich zu treten.

für ad astra: Romy Müller

Zur Person

Artur R. Boelderl ist Universitätsdozent am Institut für Philosophie und seit 2016 Senior Scientist für Literaturdidaktik an der Abteilung für Deutschdidaktik des Instituts für Germanistik . Von 2014−2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im FWF-geförderten Forschungsprojekt „Topographien des Körpers“ an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. 2017 leitete er die 57. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde unter dem Titel „Vom Krankmelden und Gesundschreiben. Literatur und/als Psycho-Soma-Poetologie?“. 2018 findet unter seiner Ägide die Tagung „Kakanien oder ka Kakanien. Österreichs Geschichte 1918−2018 im Spiegel der Literaturen“ von 15.−17. November in St. Pölten statt.

Artur R. Boelderl | Foto: aau/riccio