Was menschliches Leben auszeichnet

Die Philosophin Ursula Renz fragt danach, wie und in welchem Ausmaß die Tatsache, dass wir der menschlichen Lebensform angehören, unsere Art zu leben beeinflusst. Eine Antwort darauf möchte sie mit den Texten von Baruch de Spinoza finden.

Was macht den Menschen zum Menschen? Oder: Wie ist der Begriff der menschlichen Lebensform (bisher) definiert? 
Erlauben Sie mir erst mal, darauf hinzuweisen, dass hier zwei verschiedene Fragen im Spiel sind, die klar zu trennen sind. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der menschlichen Lebensform gibt keine Antwort auf die Wesens- oder Definitionsfrage, also darauf, was den Menschen – etwa im Unterschied zu nicht-menschlichen Tieren – ausmacht. Diese Wesens- oder Definitionsfrage wird in der Philosophie oft dadurch beantwortet, dass etwa gesagt wird, nur Menschen, nicht aber andere Tiere würden über eine gewisse Form der syntaktisch strukturierten Sprache verfügen etc. Solchen Definitionen wird dann manchmal entgegengehalten, dass etwa menschliche Säuglinge genauso wenig wie nicht-menschliche Tiere über eine syntaktisch strukturierte Sprache verfügen.

In Abgrenzung dazu: Welche Bedeutung hat also der Begriff der „menschlichen Lebensform“?
Wenn nun Philosophen auf den Begriff der menschlichen Lebensform rekurrieren, dann sind sie von vorneherein auf einen alternativen Ansatz aus. Ihre Frage ist nicht: Was muss ein Subjekt können, um als Mensch zu gelten?, sondern vielmehr: Welche Optionen kann ein menschliches Subjekt innerhalb der menschlichen Lebensform realisieren? Dazu gehört nicht nur, dass es denken, rechnen und reden kann, sondern auch, dass Menschen heiraten und eine Familie gründen, Auto- oder Snowboard fahren lernen, an Wettkämpfen teilnehmen, Flugzeuge, Computerviren oder auch Waffensysteme erfinden, Banküberfälle aushecken, Gedichte schreiben oder nach Weisheit streben etc. Das alles sind Optionen, die im Verlauf unserer Kulturgeschichte Teil der menschlichen Lebensform geworden sind. Trotzdem würde niemand sagen, nur wer einen Triathlon absolvieren könne, sei ein Mensch. Die Frage nach der menschlichen Lebensform zielt also nicht auf das eine Merkmal, das Menschen zum Menschen macht, sondern sucht Handlungsoptionen, die uns möglich sind, aus der spezifisch menschlichen Organisationsform des Lebens heraus verständlich zu machen.

In Ihrer Forschung ziehen Sie Texte des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza heran, um dieser Frage nachzugehen. Welchen Ansatz hat er gewählt und was macht diesen Ansatz besonders interessant für Ihre Arbeit?
Lassen Sie mich erst kurz etwas zu den klassischen Alternativen sagen, die mit den Namen Aristoteles und Hegel umrissen werden können. Aristoteles denkt Lebensformen naturalistisch, das heißt sie sind grundsätzlich mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Spezies bestimmt; Hegel dagegen denkt sie kulturalistisch, insofern Lebensformen mit der Realisierung von Begriffen in der Geschichte verbunden sind. Spinozas Auffassung darüber, was Lebensformen allgemein und die menschliche Lebensform im Besonderen kennzeichnet, weicht von beiden ab. Der Gedanke der Spezies-Zugehörigkeit hat für Spinoza nicht mehr das Gewicht wie noch für Aristoteles; anders als Hegel geht Spinoza aber davon aus, dass wir stark durch natürliche Vorgaben determiniert sind; doch diese sind nicht so sehr biologischer als vielmehr existenzieller Natur. Nicht zuletzt ist bedeutsam, dass Spinoza, wie sich an seiner Bibelhermeneutik ablesen lässt, ein sehr historisches Verständnis davon hat, wie sich das Leben von Menschen innerhalb kultureller Kontexte entwickelt.

Hat sich die Spinoza-Forschung schon bisher mit diesen Aspekten beschäftigt?
Die Spinoza-Forschung hat viele Detailfragen erörtert, die mit dem Thema zusammenhängen, aber die zugrundeliegende Frage, wie die menschliche Lebensform nach Spinoza gedacht werden soll, ist so bislang nicht thematisiert worden. Neu an unserem Projekt ist, dass wir diese Frage explizit aufwerfen und ins Zentrum der Diskussion von Spinozas Philosophie stellen.

Sie gelten – unter anderem – als international renommierte Spinoza- Forscherin, möchten aber nicht (nur) zu Spinoza forschen, sondern vielmehr seine Philosophie als Modell bzw. Werkzeug für bestimmte Fragestellungen nutzen. Wie ist das zu verstehen?
Die Philosophie verdankt viele Innovationen der Re-Interpretation von klassischen oder auch weniger klassischen, aber systematisch starken Ansätzen; diese stehen dann gewissermaßen Modell bei der Artikulation von Fragen, wie auch deren Beantwortung. So ist beispielsweise die Frage, was eigentlich der Begriff der menschlichen Lebensform zum Verständnis menschlichen Lebens beiträgt, überhaupt erst aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den theoretischen und begrifflichen Voraussetzungen der aristotelischen Ethik heraus aufgeworfen worden. Warum das so ist – warum Innovation in der Philosophie oft den (Um-)Weg über die Philosophiegeschichte nimmt – , lässt sich gar nicht so leicht sagen, und die Philosophen sind sich darüber nicht einig. Ich vermute, dass das wesentlich damit zu tun hat, wie wir uns durch das Hineindenken in fremde Denkgebäude Denk-Räume erschließen, die uns sonst gar nicht zur Verfügung stünden. Wenn dem so ist, dann muss allerdings die Auseinandersetzung mit Philosophiegeschichte eine gewisse Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit aufweisen. Das ist leider nicht immer gegeben.

Sie möchten eine Antwort auf die Frage finden, wie und in welchem Ausmaß die Tatsache, dass wir der menschlichen Lebensform angehören, unsere Art zu leben beeinflusst. Gibt es schon Annahmen für diese Antwort?
Nun, in gewisser Weise enthält bereits mein Buch über Spinoza erste – durchaus wesentliche – Antworten auf gewisse Teilaspekte der Frage, insbesondere was die Bestimmung unseres Geistes und unserer Emotionen betrifft. In meinem Buch habe ich unter anderem gezeigt, dass Spinoza das so genannte Trägermodell des Geistes zurückweist. Das heißt, er lehnt es ab, den Geist als eine abstrakte Substanz zu begreifen, die gleichsam „hinter“ unseren Gedanken steht und von diesen kategorial verschieden ist. Stattdessen ist der Geist für ihn eine Größe, die im Kern durch die Gedanken bestimmt ist, die wir von uns und unserer Umwelt haben. Das erlaubt es ihm, historischen Einflüssen auf unser Denken mehr Gewicht zuzumessen, als das bei seinen Zeitgenossen der Fall war. Oder um ein anderes Beispiel heranzuziehen: Spinoza unterscheidet in seiner Emotionstheorie zwischen so genannten Primär- und Sekundäraffekten. Während die ersteren, welche die Basis für unsere Emotionalität bilden, für Spinoza naturgegeben sind, hängen die so genannten Sekundäraffekte wesentlich von kulturellen Faktoren ab. An einer Stelle sagt er sogar, dass es so viele Sekundäraffekte gebe, wie es Bezeichnungen für Emotionen gebe. Das zeigt, dass unser Fühlen zwar in den grundlegenden Dimensionen und in durchaus notwendiger Weise durch die Vorgaben der Natur geprägt ist, während der Reichtum und die Variationsbreite unseres Erlebens nur verständlich wird, wenn wir sehen, wie kulturelle Faktoren mitbestimmen, was wir im Einzelnen erleben.

Wie würden Sie einem Laien Ihre Forschungsarbeit in Hinblick auf Ihre Methoden erklären? – Konkret: Was „tun“ Sie, um zu diesen Antworten zu kommen?
Abgesehen vom exzessiven und intensiven Lesen und der damit einhergehenden bereits erwähnten gründlichen Auseinandersetzung mit philosophischen Texten ist in der Philosophie vor allem die Reflexion auf die Selbstverständlichkeiten des Denkens wichtig. Ich sage mit Blick auf meine Lehrtätigkeit manchmal, dass das Ziel der Philosophie darin bestehe, langsamer zu denken. Konkret tun wir dies etwa, indem wir gewisse Annahmen, die wir fraglos für richtig halten, auf ihre begrifflichen und thetischen Voraussetzungen hin klären, indem wir etwa die meist unbewusst gezogenen Schlussfolgerungen aufheben und sie entweder bewusst nochmals nachvollziehen oder korrigieren. Dadurch werden etwa sprachliche Wendungen, die wir ganz selbstverständlich einsetzen, plötzlich sprechend, während andere Redeweisen als Unfug oder vorurteilsbehaftet durchschaut werden können.

Mit diesem Projekt betreiben Sie Grundlagenforschung. Wie würden Sie erklären, warum es gesellschaftlich relevant ist, Antworten auf diese Fragestellungen zu finden?
Wenn es in der Philosophie darum geht, das Denken zu verlangsamen und dadurch Korrekturen an unserem alltäglichen Verständnis der Dinge vorzunehmen, dann ist es nicht schwer zu verstehen, wie Philosophie beides sein kann, ja oft sein muss: Grundlagenforschung und sozial relevant.

für ad astra: Romy Müller

Renz Ursula | Foto: aau/Müller

Zur Person

Ursula Renz ist seit 2009 Universitätsprofessorin für Philosophie an der Alpen-Adria-Universität. Während ihrer wissenschaftlichen Laufbahn, die von der Universität Zürich ausging, absolvierte sie Forschungs- und Lehraufenthalte an zahlreichen renommierten Hochschulen, unter anderem als Visiting Fellow an der Yale University und an der Harvard University in den USA sowie an der École Normale Supérieure in Lyon. Renz′ umfassende Expertise zu Spinoza findet sich unter anderem in ihrer Monographie „Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Subjektivität und Realismus in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes“ (Klostermann, 2010) wieder. Aktuell startet ihr vom FWF gefördertes Projekt zum Thema „Spinoza on the Concept of the Human Life Form: Towards a Non-Essentialist and Ontologically Liberal Account“.

Zu Baruch de Spinoza

Spinoza, geboren 1632 in Amsterdam, gestorben 1677 in Den Haag, war ein Philosoph jüdischer Abstammung. Schon früh kam es zum Konflikt mit den Autoritäten der jüdischen Gemeinde, was 1656 zum „Cherem“ führte, Spinozas Bann und Ausschluss aus der Gemeinde. Bekannt wurde Spinoza mit seiner Bibel- und Religionskritik, die ihn auch zu einem der Vordenker der Aufklärung macht. In seinem Hauptwerk, die „Ethik nach geometrischer Methode dargestellt“, verhandelt er, ausgehend von einer kurzen Präsentation der Grundzüge seiner Metaphysik, Fragen der Konstitution des menschlichen Geistes und seiner Affekte, der Sozialphilosophie und Ethik, und gipfelt in einer Freiheitslehre, die die Möglichkeit einer Selbstbefreiung des Menschen durch Erkenntnis erörtert.