Videostills aus der Publikation „Handyfilme als Jugendkultur“

Jugendliches Handyfilmen

Das Thema Jugend und Handyfilm ist überschattet von Cybermobbing und negativ konnotiert. Die beiden Sozialanthropologen Ute Holfelder und Christian Ritter erforschten das Phänomen und konzipierten eine Ausstellung, die im Mai 2017 an der Alpen-Adria-Universität zu sehen sein wird. Dabei zeigt sich, dass Handyfilme viel weniger mit „Sex & Crime“ zu tun haben, als es Massenmedien vermitteln.

Als Ute Holfelder und Christian Ritter 2012 in Zürich mit den Forschungen begonnen haben, war das Filmen mit dem Handy noch ein reines Jugendkulturphänomen. Mittlerweile ist es das nicht mehr. Viele erwachsene und alte Menschen benutzen ihre Smartphones auch zum Filmen. Durch die rasante Entwicklung der Smartphonetechnik hat das Filmen und Fotografieren insgesamt einen höheren Stellenwert erhalten, so dass man von einer breiten Demokratisierung sprechen kann. Audiovisuelle Repräsentationen sind zu einem Bestandteil des Alltagslebens geworden, und eine strikte Trennung zwischen Profis und Amateuren ist kaum noch möglich. Spontane Augenzeugenfilme bei Katastrophen und Terrorüberfällen finden als „echte Dokumente“ Eingang in die Berichterstattung und auch in die Forensik. Die laienhafte Ästhetik suggeriert Authentizität. Und diese „Echtheit“ spielt im privaten Bereich ebenfalls eine große Rolle. Das gilt insbesondere auch für Jugendliche. ad astra befragte Ute Holfelder zu Praxis und Bedeutung des Handyfilmens.

Handyfilmen wirkt wie eine neue Kulturtechnik. Ist sie das tatsächlich?
Kultur ist generell kein fester Zustand, sondern immer in Bewegung. Auch beim Handyfilm wird nur eine alte Praxis in veränderter Form weitergeführt. Bis zur Jahrtausendwende bekamen nur gut situierte Kinder im besten Falle zur Firmung einen Fotoapparat. Das ursprünglich nur auf die Bürgerschicht, und hier vor allem deren männliche Vertreter, beschränkte Filmen hat sich in Dekadenschritten und immer schneller demokratisiert, und Kinder und Jugendliche haben heute ihr eigenes Aufnahmegerät. Damit ist ihnen eine Selbstermächtigung gelungen. Nun ist die Ausdifferenzierung von Foto versus Film in vollem Gange.

Wann entscheidet man sich für eine Filmaufnahme?
Es geht um Ton und Bewegung. Alles, was sich in der Bewegung einfangen lässt, kann als eine kurze Geschichte erzählt werden. Wenn der Ton, etwa für ein Statement, gebraucht wird, wird meistens gleich gefilmt. Die Jugendlichen sind da sehr schnell, sie haben die Technik inkorporiert.

Wie ist das Verhältnis von Foto zu Film?
Noch wird häufiger fotografiert und seltener gefilmt. Ein Film benötigt eine längere Vorbereitung. Die Nachbearbeitungsprogramme am Smartphone werden für Filme viel seltener genutzt als die für die Fotobearbeitung. Fotos gelten als ästhetisch gedrehte Film. Dafür werden die Filme für besonders authentisch gehalten.

Was passiert mit den Filmen nach der Aufnahme?

Das zeitnahe Versenden, zumeist ohne Korrektur, ist wichtig. Häufig wird der Film gemeinsam mit Freunden auf dem Display angesehen und erstaunlicherweise nicht aus dem Archiv gelöscht. Obschon sie die Filme nur noch selten anschauen und für etwas nichts Besonderes empfinden, löschen sie sie nicht. Die Funktion des Besitzens ist extrem wichtig, ebenso die ständige Verfügbarkeit. Das Archiv lässt sich immer in der Hosentasche tragen.

Welche sozialen Funktionen erfüllen Handyfilme?
Das allgegenwärtige Handy ist ein wichtiges Kommunikationsmittel unter den Jugendlichen und ihren Peergroups, und mit den Bildmedien erweitern sich die Kommunikationsmöglichkeiten. Das Zeigen und Teilen von Situationen, die sie mit anderen zusammen erlebt haben, stellt soziale Beziehungen her und festigt sie. Mit den „richtigen Aufnahmen“ beim Fußballspiel, etwa der Fankurve, der Symbole, der Torszene weist man sich als Kenner der Szene aus. In der Gruppe wird dann darüber gesprochen. Beim Sport gibt es noch weitere Phänomene, wie das gegenseitige Filmen und anschließende Analysieren beim Snowboarden. Was im Profisport gang und gäbe ist, dringt nun in den Amateurfilm.

Was ändert das beim jungen Menschen?
Einerseits ist es eine Ermächtigung. Das was früher der Trainer mit der Videokamera gemacht hat, kann er nun selbst tun. Das führt auf der anderen Seite dazu, dass die Jungen immer mehr Selbstkontrolle üben und an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Das bedeutet nicht nur Freiheit, sondern auch einen Zwang, besser zu werden oder gut auszusehen.

Wie steht es mit der eigenen, oft kritisierten Selbstdarstellungslust?
Wir sind da skeptisch. Ein Grund ist sicher, sich zeigen zu wollen, um sich einer bestimmten jugendkulturellen Szene zuzuordnen. Wir sprechen lieber von Verortung und weniger von narzisstischer Selbstdarstellung. In diese Schiene geht es zu gerne.

Nach Cybermobbingfällen lässt sich die Frage nach der Gefahr des Mediums für Jugendliche nicht vermeiden.
Natürlich gibt es auch in diesem Bereich Gewalt und Pornografie, wie es diese eben in der Welt gibt. Weil die Smartphones mit all ihren Möglichkeiten immer zur Hand sind, werden sie auch dafür eingesetzt. Allerdings sind solche Fälle, wie groß angelegte Mediennutzungsstudien in der Schweiz und in Deutschland zeigen, marginal. Auch in unseren Interviews distanzierten sich Jugendliche vom Generalverdacht, unter den sie gestellt werden. Das Handyfilmen aus der Schmuddelecke herauszubringen, war uns ganz wichtig. Mit der Ausstellung lassen sich auch Vorbehalte gegenüber filmenden Jugendlichen abbauen. Es gibt so viele verschiedene Facetten, in denen das Filmen eine große Rolle spielt. Und das Material, das gezeigt wird, ist einfach schön.

Für das Forschungsprojekt haben Sie unter anderem 60 Lehrlinge befragt und deren Filme für die Ausstellung bekommen. Wie sieht es mit dem Filmen bei der Arbeit aus?
An den meisten Arbeitsstellen herrscht Handyverbot. In den Berufssparten Koch und Friseur ist das Handyverbot aufgeweicht. Es kommt von der ausbildenden Person oft die explizite Aufforderung, das Frisieren oder die Zubereitung einer Speise festzuhalten. Das erfüllt die Lehrlinge mit einem gewissen Stolz. So wird jedoch eine Praxis, die aus der Freizeit bekannt ist, in die Arbeit mithineingenommen, und es stellt sich die Frage, ob man das, was man in der Freizeit tut, nun auch in der Arbeit tun muss.

Und was filmen die Jugendlichen in ihrer Freizeit?
Eigentlich filmen sie überall und jederzeit: zuhause, auf Reisen, beim Ausgehen und in den Pausen neben Schule oder Arbeit. Beliebt sind Aktionen wie Singen und Tanzen. Popsongs, die gerade durch YouTube wandern, werden gerne nachgeahmt oder persifliert. Das Filmen kann auch ein Ventil und ein Zeitvertreib sein, etwa wenn die Zeit im Job allzu langsam vergeht. In unbeobachteten Momenten wird dann zum Beispiel die Putzfrau im Backoffice nachgeahmt, junge Männer verkleiden sich mit einem Kopftuch und erzählen sich vor der Kamera obszöne Witze. So entstehen regelrechte kleine Geschichten.

Worum es geht in solchen Erzählungen?
Das können ganz banale kleine Szenen sein, die aber durch das Aufnehmen zu einer Geschichte geformt und materialisiert werden. Wie jener Film, auf dem zwei junge Männer sich während der Fahrt auf einem Scooter haben filmen lassen. Der nur neun Sekunden dauernde Film ist in einem Schwenk gedreht, mit dem die Fahrt in die Kurve gezeigt und mit dem Motorengeräusch untermalt wird. In dem Moment, in dem der Scooter auf der Höhe des Kameramanns angekommen ist, schauen die beiden Jungen lachend in die Kamera. Bei genauer Betrachtung sehen wir als ZuschauerInnen, dass sie sich einen Spaß gemacht haben und für die Filmaufnahme einen Hund in ihre Mitte gesetzt haben. Solche Mini-Erzählungen lassen sich in vielen Handyfilmen finden.

für ad astra: Barbara Maier

Zur Person

Ute Holfelder ist seit September 2016 Senior Scientist am Institut für Kulturanalyse der AAU.

Das vom Schweizer Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt „Handyfilme“ führten Ute Holfelder und Christian Ritter 2012 bis 2014 an der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste unter der Leitung von Thomas Hengartner und Klaus Schönberger durch. Danach entstand im Rahmen eines von der Stiftung Mercator Schweiz unterstützten Wissenschaftskommunikationsprojekts die Ausstellung „Handyfilme. Jugendkultur in Bild und Ton“, die vom 9. bis 24. Mai 2017 an der Alpen-Adria-Universität gezeigt wird.

Holfelder Ute | Foto: aau/Barbara Maier