Interview mit Estrid Sørensen: Dekolonialistische Datenforschung um Beziehungen sichtbar zu machen

In Ihrer Keynote „Von distanzierten Daten zu engagierten Daten“ am Donnerstag, 18.05. 2023, 19 Uhr (Stiftungssaal AAU) während der Konferenz „Alltag und Kultur/en der Digitalität“, stellt Estrid Sørensen (Bochum) den Ansatz einer engagierten und dekolonialistischen Datenforschung vor.

Veranstalter der Konferenz sind das Institut für Kulturanalyse (AAU), das Digital Research Center (D!ARC/AAU) und das kulturwissenschaftliche Netzwerk Alltag und Technik. Das Interview führten Studierende des Studiengangs Angewandte Kulturwissenschaft und Transkulturelle Studien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt / Celovec

 

Wie sind Sie zu diesem Forschungsthema gekommen?

Estrid Sørensen: Ich habe viele Jahre Wissenschaftsforschung unterrichtet und gemerkt, dass es schwierig für Studierende ist, sich mit Wissen auseinanderzusetzen. Wissen scheint etwas sehr Abstraktes zu sein. Es ist schwierig zu verstehen, dass Wissen materiell und sozial ist. Mit Daten ist das anders. Daten sind immer irgendwo – in einem Datensatz, auf einer Webseite, in einem Interviewtranskript. Es ist leichter, sich vorzustellen, dass irgendjemand sie dorthin gebracht hat, also dass es Arbeit fordert, Daten zu produzieren – und dass es Konventionen, Einschätzungen und Interpretationen braucht, um Daten zu organisieren und in Bezug zu anderen zu setzen. Das war dann erst, wie Daten – besonders digitale Daten – für mich spannend wurden: Sie machen Wissen sichtbar und analysierbar. Dazu kam aber, dass es viele Diskussionen darüber gibt, dass Daten extraktiv erhoben werden. Dies ist vor allem in großen Technologiekonzernen der Fall. Hier werden unsere persönlichen Unterhaltungen erhoben und verwertet, ähnlich wie Rohstoffe extraktiv aus der Erde genommen und aus ihnen Profit generiert wird. Das generiert eine distanzierte und verantwortungsfreie Beziehung zwischen Datenquelle und Datenverwertung. Diese Sorgen fordern Datenforscher:innen dazu auf, Methoden zu finden, die nicht extraktiv sind. Hier kann die dekolonialistische Forschung einen wichtigen Beitrag leisten.

 

Was zeichnet für Sie eine dekolonialistische Datenforschung aus?

ES: Sie mobilisiert Daten, um neu zu denken, sie macht Beziehungen sichtbar, die durch Daten generiert werden und sie achtet auf die materiellen und planetaren Infrastrukturen, durch die Daten verwertet werden.

 

Gibt es spezifische Schwierigkeiten in der Datenforschung, mit denen Sie während Ihrer Forschung konfrontiert wurden?

ES: Die Intransparenz mancher Analysetools.

 

Wie können die Methoden der Datenwissenschaft so mit den Methoden der Humanwissenschaften in Verbindung gebracht werden, dass die ethnographische Sensibilität davon profitieren kann?

ES: Die Arbeit mit datenanalytischen Tools und Datenvisualisierungen ist sehr praktisch, weil man mit einem konkreten – wenn auch oft sehr komplexen – Tool arbeitet. Das lädt zum „Tinkering“ ein, zum Ausprobieren und Experimentieren. Das ist eine gute Ergänzung zu der Art des Denkens, die durch das Schreiben entsteht.

 

Gibt es neue Entwicklungen oder weitere Konzepte in der Data Science, die Sie mit besonderem Interesse verfolgen, vielleicht etwas, womit Sie sich in zukünftigen Forschungsprojekten gerne noch auseinandersetzen möchten?

ES: Weniger in der Data Science als in den Critical Data Studies oder den Science & Technology Studies. Ich beschäftige mich zunehmend mit Dateninfrastrukturen. Diese sind nicht nur technisch notwendig für die Datenspeicherung und die Datenanalyse, sondern verbrauchen auch Strom für Datenzentren und planetare Stoffe für Serverteile. Wir versuchen aktuell in Bochum zu erforschen, wie nachhaltige Dateninfrastrukturen und Datenpraktiken aussehen könnten.

 

Was möchten Sie den Teilnehmer:innen der Konferenz mitgeben?

ES: Ich möchte vermitteln, dass Forschung mit und durch digitale Daten als ein Instrument für die Reflektion unserer Wissenschaftspraktiken mobilisiert werden können.

 

Zur Person: Estrid Sørensen ist seit 2016 Professorin für Kulturpsychologie und Anthropologie des Wissens an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum und leitet seit 2019 das von ihr gegründete RUSTlab – Ruhr-University Science & Technology Studies Lab.