Digital unterstützte Psychotherapie als Zukunftsvision?

Sylke Andreas macht das Tor zur digitalen Unterstützung der Psychotherapieforschung auf. In einem von der Oesterreichischen Nationalbank geförderten Forschungsprojekt werden Studien zur Wirkung von Psychotherapien zwischen den Sitzungen durchgeführt. Am Ende soll eine digitale Applikation stehen, die den Therapieerfolg zwischen den Sitzungen steuert.

Psychotherapien sind anerkannt und eine weit verbreitete Therapieform. Wenig untersucht ist, wie ihr komplexes Wirken funktioniert, vor allem zwischen den Sitzungen. Frau Andreas, wie und wann wirken psychotherapeutische Maßnahmen?

Lange Zeit und schon seit Sigmund Freud lag der Hauptfokus der Forschung auf dem, was in den Sitzungen passiert. Erst seit wenigen Jahrzehnten interessiert sich die Psychotherapieforschung auch für die Wirkung zwischen den Sitzungen. Erstmals wurde 1993 beschrieben, was in diesen Zwischensitzungsprozessen wichtig ist und wie Patientinnen und Patienten das, was in der Sitzung geschieht, außerhalb der Sitzung weiter verarbeiten. Immerhin verbringen sie rund 99 Prozent der Zeit außerhalb der Therapiesitzung, wenn man die durchschnittliche Frequenz von einer Stunde pro Woche zugrunde legt.

Was passiert nun zwischen den therapeutischen Sitzungen?

In den Intersession-Prozessen stellen sich vornehmlich Erinnerungen an den Therapeuten ein. Es können positive oder negative Gefühle sein, aber auch optische oder akustische Erinnerungen. Manche Patienten berichten von einer akustischen Repräsentanz ihrer Therapeutin, etwa wenn sie sich außerhalb der Sitzung in einer schwierigen Situation befinden und deren Empfehlung als Stimme repräsentiert hören: „Mache das so!“ Das ist nicht beunruhigend, das sind eben die Prozesse, die auftreten. Manche fühlen die Nähe ihres Therapeuten, der sie in schwierigen Situationen unterstützt. Es können aber auch Träume sein, in denen Patienten und Therapeutinnen fiktiv über ein Thema sprechen; dies fließt in die nächste Sitzung ein, und damit geht der Prozess weiter.

Kommen diese Prozesse bei allen Patientinnen und Patienten vor?

Knapp 90 Prozent der Behandelten sagen, dass sie Intersession-Prozesse haben: Das ist eine gute Nachricht. Ich beschäftige mich damit, wie die Prozesse in der Sitzung angestoßen und wie sie etabliert werden, dass man sie außerhalb der Sitzung überhaupt beobachten und wahrnehmen kann.

Welche Rolle spielt die Behandlungsfrequenz?

Die „Dosis“ ist ein spannendes Forschungsfeld, von dem wir noch wenig wissen. Es ist häufig vorgegeben. Freud hat am Beginn nur hochdosierte Ultrakurztherapie angeboten, oft nur über mehrere Monate Gesamtdauer, in denen er sehr intensiv, bis zu mehreren Stunden am Tag, mit den Patienten zugebracht hat. In der heutigen klassischen Psychoanalyse sind es oft zwei bis drei Stunden die Woche über einen längeren Zeitraum von bis zu drei Jahren. Das macht natürlich einen Unterschied, der im Behandlungserfolg zu sehen ist.

Welche Unterschiede macht es, in der Gruppe oder einzeln therapiert zu werden?

Wir stellen bei unseren stationären Untersuchungen Unterschiede zwischen Einzel- und Gruppentherapie fest. Die regelmäßige Einzeltherapie wird meist positiver empfunden, der Patient  oder die Patientin kann sich mehr öffnen. In der Gruppentherapie müssen sich die Patientinnen mit den Mitpatientinnen auseinandersetzen. Dabei werden sie mit Seiten konfrontiert, die sie an sich nicht gerne sehen wollen. Der Therapeut macht das in der Regel seltener. Manche Patienten scheuen die Gruppentherapie oder haben vor ihr regelrecht Angst.

Wie lassen sich die Vorgänge festhalten bzw. messen?

Vor zehn, fünfzehn Jahren geschah dies mittels Patientenbefragung vor oder nach einer Sitzung mit konkreten Fragen, wie: Haben Sie sich an das Gespräch erinnert? Gab es Situationen, in denen es besonders wichtig war, was Sie in der Sitzung besprochen haben? Aus den qualitativen Angaben wurde später ein Fragebogen entwickelt, der auf verschiedenen Skalen misst, was zwischen den Sitzungen erlebt wird. Zum Beispiel misst eine Skala Emotionen mit positiven und negativen Gefühlen, eine andere die Intensität der Session-Erfahrungen. Den Test gibt es in zwei Versionen, wobei der für den Therapeuten sehr kurz und nur auf wenige Items beschränkt ist.

Wie kamen Sie auf die Idee zu einer digitalen App?

Wir stellten während einer Studie fest, dass Patienten die Therapie entweder sehr intensiv oder wenig intensiv erlebten. Es gibt Patienten, die am Anfang eine sehr hohe Intersession-Erfahrung zeigen und am Ende ganz wenig. Andere Studien konnten bereits zeigen, dass die Intensität mit dem Behandlungserfolg zusammenhängt. Unsere Überlegung war es nun, dass es einen positiven Effekt auf das Therapieergebnis haben könnte, wenn wir die Intensität über den gesamten Therapieverlauf steuern könnten. Mein Doktorand Thorsten-Christian Gablonski hatte die Idee, eine App zu programmieren, die die Patienten dazu befähigt, ihre Intersession-Aktivitäten zum richtigen Zeitpunkt zu intensivieren oder zu hemmen.

Wie gehen Sie methodisch vor?

Die Basis bildet ein Algorithmus mit dem erforschten Wissen um das Patientenverhalten. Danach folgen die Entwicklung der App und eine stichprobenartige Praktikabilitätsuntersuchung. Schließlich soll eine cluster-randomisierte Studie, also der Vergleich zwischen Patientengruppen mit und ohne App in verschiedenen Kliniken, die Wirkung belegen.

Wird die App frei am Markt verfügbar sein?

Es wird sicher keine App zum Herunterladen im Gesundheits-App-Store. Uns interessiert nur, wie weit neue Medien uns in der Psychotherapie (PT) und in der PT-Forschung unterstützen können. Diese Entwicklungen bleiben immer unter der Obhut der Wissenschaft.

Könnte eine App nicht eines Tages den menschlichen Psychiater ersetzen?

Da kann man ganz klar sagen, das wird nie der Fall sein. Die neuen Medien können nur für unterstützende Maßnahmen eingesetzt werden, damit der Erfolg der Therapie möglichst lange anhält. Derzeit werden PatientInnen als Nachsorge nach einem Klinikaufenthalt Chatgruppen angeboten, wo sie sich noch Monate nach dem Klinikaufenthalt treffen und ihre Probleme besprechen können. Der Einsatz der digitalen Medien kann so die Psychotherapie und die Forschung dazu gut unterstützen. Und Derartiges wollen wir befördern.

für ad astra: Barbara Maier

Zur Person

Sylke Andreas ist Assoziierte Professorin für Klinische Diagnostik an der AAU und Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten-Herdecke. Das von der OeNB geförderte Forschungsprojekt „Intersession-Online: Entwicklung und Evaluation einer App zur systematischen Erfassung und Förderung von Intersession-Prozessen“ läuft bis 2020 und finanziert eine Doktorandin.