Emotion in der Schule | Foto: JackF/Fotolia.com

Wie viel Emotion braucht die pädagogische Beziehung? Über Kuschelpädagogik und Ängste beim Lernen

Agnes Turner fragt nach der Bedeutung von Emotion und Gefühl in der pädagogischen Beziehung. Mit ad astra sprach sie darüber, ob ein Lehrer auch ein Kind unsympathisch finden und dies trotzdem zu einer fairen Behandlung und Leistungsbeurteilung führen kann.

In Österreich geben 50,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der PISA-Studie von 2015 an, sich sehr ängstlich zu fühlen, obwohl sie gut für eine Prüfung oder einen Test vorbereitet sind. Für die Pädagogin und Psychologin Agnes Turner ist das einerseits eine gute Nachricht: Eine Hälfte fürchtet sich nicht. Um die andere Hälfte müsse man sich aber sehr gut sorgen – diesen Schülerinnen und Schülern muss in Zukunft mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die psychoanalytische Pädagogik, in deren Feld Turner am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung tätig ist, bemüht sich darum zu erklären, wie Lernen emotional besetzt ist.

1880 ergründete der deutsche Theologe, Lehrer und Philosoph Wilhelm Dilthey in seiner „Pädagogik“ die besonderen Voraussetzungen des pädagogischen Genius und stieß dabei auf eine zentrale Eigenschaft, die man gemeinhin so gar nicht im Kontext der Schule verorten würde. Er schrieb: „Wo nun solche starken Gefühle Kindern gegenüber empfunden werden und von diesen leidenschaftlich erwidert werden, da ist eine elementare Anlage vorhanden. Zunächst ist jede Beobachtung von Kinderseelen auf diesen Gefühlsregungen begründet. Sie ist nicht eine Sache bloßer intellektueller Operationen. Wir verstehen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen, seine Regungen in uns nachleben; wir verstehen nur durch Liebe.“ Die Pädagogik befindet sich aktuell auf einem Pfad, auf dem sie die Rolle von Emotion und Gefühl im Unterrichts-Setting zwar zunehmend ernst nimmt – ein Merkmal dafür ist die erstmalige Erhebung des Wohlbefindens in PISA 2015 –, vielerorts gelte es aber noch, geeignete Strukturen für Reflexionsprozesse zu schaffen.

Lernt es sich nun eigentlich besser, wenn man in einer bestimmten Gefühlslage ist? Diese Frage ist nicht eindeutig geklärt. 2003 konnten Matthias Laukenmann und Christoph von Rhönek nachweisen, dass das aktuelle Wohlbefinden von SchülerInnen im Physikunterricht etwa gleich starken, positiven Einfluss auf ihre Leistung ausübt wie ihr Vorwissen. Andere Studien zeigen, dass positive Gefühle wie Freude oder Stolz nicht zwingend lernfördernd wirken, ebenso wenig wie negative Gefühle wie Wut oder Trauer das Lernen zwingend blockieren müssen. Agnes Turner empfiehlt hier einen individuellen Blick: „Jeder Mensch ist anders. So braucht auch jeder und jede verschieden gestaltete Gefühlslagen, um gut lernen zu können.“ Ihre Erkenntnisse hat Turner in einer fast zehn Jahre andauernden Begleitstudie für den Universitätslehrgang „MA Psychoanalytic Observational Studies“ gewonnen und für ihre kürzlich abgeschlossene Habilitation zusammengefasst. Zur Anwendung kamen dabei vor allem Work-Discussions-Settings: Lehrkräfte beobachten ihre Praxis unter dem Fokus der emotionalen Prozesse und der Psychodynamik im Klassenraum und schreiben die Erfahrungen nieder. Diese werden in einem sorgfältigen Analyseverfahren vor dem Hintergrund von psychoanalytischen, entwicklungspsychologischen und pädagogischen Theorien interpretiert.

für ad astra: Romy Müller

Agnes Turner | Foto: aau/Müller

Interview

Frau Turner, darf eine Lehrerin oder ein Lehrer manche Kinder mehr mögen als andere?
LehrerInnen sind Menschen; und es ist menschlich, Sympathien zu empfinden oder auch nicht. Wichtig ist es, über diese Gefühle nachzudenken, weil sie doch zu einer gewissen Verfälschung von Beurteilungen führen können. Wenn es einen Raum gibt, darüber zu beraten, warum ich den einen mag und die andere nicht, wird das Verinnerlichte explizit und bewusst. Dann kann ich in meinen Handlungen vielleicht auch objektiver sein.

Inwiefern spielen eigene Lernerfahrungen eine Rolle, wenn Lehrkräfte im Klassenraum stehen?
Die Beobachtung unserer LehrgangsteilnehmerInnen zeigt, dass die eigene Lerngeschichte von großer Bedeutung ist. Dabei spielen aber nicht nur die Schule, sondern auch die Familie und andere Peers eine Rolle. Wir können daraus nicht schließen, dass nur all jene mit einer glücklichen Kindheit und gut aufgestellten Ressourcen Lehrkräfte werden können; es kann sich aber auf alle Fälle auszahlen, auf die eigene Geschichte genau hinzuschauen. Letztlich stehen wir mit unserer Persönlichkeit und der Summe unserer Erfahrungen immer in Interaktion mit Kindern und Jugendlichen. Das auszublenden, fände ich fatal, nicht zuletzt im Sinne der von Freud dargestellten Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene. Deshalb meinen wir, dass die Lehrerbildung auch Räume für Reflexion über Emotionen beim Lernen und Lehren bieten sollte.

Welchen Status haben Emotion und Gefühl derzeit in der Pädagogik?
Ich habe den Eindruck, dass dem noch zu wenig expliziter Raum und Bedeutung beigemessen werden. Es geht um die eigene Persönlichkeit; eine Beschäftigung damit wird auch häufig abgewehrt, währenddessen man sich lieber über Strukturen austauscht oder den Lehrplan hinterfragt. Die Beobachtung des Geschehens im Klassenraum unter psychoanalytischen Aspekten ist heikel. Sie braucht daher einen professionellen Rahmen, in dem ein offener Diskurs – ohne Scham oder Angst – möglich ist.

Aktuell steht die Wiedereinführung der Schulnoten – auch für kleinere Kinder – in der öffentlichen Diskussion. Noten gelten aber häufig als stark angstbesetzt. Welche Rolle spielt Angst beim Lernen?
Grundsätzlich wäre es ein wichtiges Ziel, möglichst wenig Angst im Lernkontext zu haben. Angst gehört aber wie Freude, Furcht, Trauer, Ärger, Ekel, Überraschung und Interesse zu den primären Emotionen des Menschen; sie ist also Teil von uns und in vielen Kontexten wichtig. Für die Lehrerbildung müssen wir herausgreifen, dass diese Emotion – so vorhanden – auch gut begleitet wird. Hierfür ist der Blick auf das Individuum wichtig: Es gibt Persönlichkeiten, die einen gewissen Stresspegel brauchen, um tätig zu werden. Auf Kuschelmodus zu fahren, passt nicht für jedes Kind, vielmehr müssen wir uns fragen: Wie kann es mir gelingen, mein Gegenüber mit seinen Bedürfnissen zu sehen, wie kann ich damit umgehen und wie kann ich jeweils passende Lernumgebungen schaffen?

Wenn man nun als junge Lehrerin vor dem ersten Tag in einer neuen Schule steht: Wie soll man die eigene Rolle anlegen?
Vor allem authentisch. Professionalität, mit dem entsprechenden Fachwissen, der Fachdidaktik und dem Classroom-Management, das im Studium entwickelt wurde, ist wichtig. Die Rolle muss aber der Persönlichkeit entsprechen, sonst würde man wohl mit der Zeit darüber stolpern. Viel kann auch mit den Kindern gemeinsam reflektiert werden; und das würde auch die Reflexionsfähigkeit bei den SchülerInnen forcieren und mitwachsen lassen. Da kann man ein gutes Vorbild, aber auch ein Antimodell sein.