Rahel More | Foto: aau/Müller

Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten Eltern werden

Als „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ wollen Personen bezeichnet werden, die durch die Gesellschaft Behinderungen aufgrund von diskriminierenden Zuschreibungen (etwa „geistig behindert“), Ausgrenzung und Vorurteilen erfahren. Rahel More untersucht, wie es Frauen und Männern mit Lernschwierigkeiten ergeht, wenn sie in Österreich Eltern werden.

Wie ist es, Mama und Papa zu sein, wenn man nicht den allgemeingültigen Normen der Gesellschaft entspricht? Das fragt Rahel More (Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung) derzeit zehn Mütter und Väter mit Lernschwierigkeiten in Österreich. Ihre Einblicke zeigen: Die Eltern, die mit den eigenen Kindern auch zusammenleben, haben meist Unterstützung, entweder informell durch das eigene familiäre Netzwerk oder institutionell beispielsweise durch die Kinder- und Jugendhilfe. Rahel More beleuchtet durch ihre Interviews den Alltag der Familien, fragt nach Herausforderungen sowie positiven Erlebnissen und erhebt, wie Unterstützung erlebt wird.

Derzeit ist Rahel More in der Auswertungsphase, in der mehrere Perspektiven ausgearbeitet werden. Zusätzlich zu den Erfahrungen der Eltern nimmt sie ergänzend auch Erfahrungen von Fachkräften, welche bereits Eltern mit Lernschwierigkeiten unterstützt haben, sowie den öffentlichen Diskurs zu dem Thema unter die Lupe. Gemessen an anderen Ländern wie England oder Kanada, in denen More internationale Kontakte pflegt, ist hierzulande vieles noch tabuisiert. Lange seien behinderte Frauen und Mädchen in Österreich zwangssterilisiert worden; etwas, das heute ohne Zustimmung der Betroffenen gesetzlich nicht mehr möglich ist. Die Gespräche von Rahel More mit Eltern mit Lernschwierigkeiten zeigen: viele haben begrenzte Möglichkeiten ihre Elternschaft auch zu leben, die Kinder sind zum Teil fremd untergebracht und Besuchskontakte zu den Eltern unterschiedlich häufig und regelmäßig. Manche der Eltern haben das Gefühl, keine faire Chance erhalten zu haben. Was dabei häufig aus dem Fokus gerät: Eltern mit Lernschwierigkeiten haben ein Recht auf Unterstützung, jedoch mangelt es meist an passenden Angeboten für die betreffenden Familien. Grundsätzlich sind die Menschen, mit denen Rahel More gesprochen hat, eine sehr heterogene Gruppe, die aber in vielen Aspekten über ähnliche Erfahrungen verfügen. „Die Mütter und Väter mit Lernschwierigkeiten berichten meist von Behinderungserfahrungen. Sie werden von etwas oder von jemandem behindert, im sozialen und im kulturellen Sinne.“ Das Übereinkommen der UN über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das auch Österreich ratifiziert hat, sieht unter anderem vor, dass die Behinderung eines Elternteils nicht der Grund für eine Trennung vom Kind sein dürfe. Viele Eltern würden aber nach wie vor diskriminierende und stigmatisierende Erfahrungen machen und erzählen von Unterschätzung und Vorurteilen gegenüber ihrer Elternrolle. Die meisten der Mütter und Väter mit Lernschwierigkeiten erfahren zudem zusätzliche Belastungen wie finanzielle Schwierigkeiten oder gesundheitliche Probleme sowie teilweise auch schwache soziale Netzwerke. Das Selbstverständnis der Interviewten als Mütter und Väter ist unterschiedlich, Eltern die von ihren Kindern getrennt leben müssen alternative Räume für Elternschaftserfahrungen finden und sehen ihre Aufgabe hauptsächlich in (wenn möglich) regelmäßigen Kontakten und finanzieller Unterstützung der Kinder. Für die Kinder da zu sein, deren schulische und berufliche Bildung zu begleiten und den Kindern etwas zu ermöglichen, wie beispielsweise gemeinsame Freizeitaktivitäten und Ausflüge, zählen zu den Prioritäten der interviewten Eltern. Interessant ist ein scheinbar kollektives Lernverständnis der Mütter und Väter, die zwar bestimmte Lernschwierigkeiten erfahren, jedoch ihre generelle Lernfähigkeit betonen.

Rahel Mores Interesse an diesem Thema geht auf ihr Studium der Disability Studies und die Mitarbeit an zwei Forschungsprojekten in diesem Bereich an der Universität Island in Reykjavík zurück. Auch im Praxisbereich wurde sie mit den Herausforderungen der betreffenden Familien konfrontiert. More arbeitete als Familienbegleiterin in einer Familie, in der die Eltern Lernschwierigkeiten haben. Diese Familie hat zwar Unterstützung erhalten, diese aber als starke Fremdbestimmung erlebt. Bisherige Forschungserkenntnisse zeigen Rahel More: Bis zu einer annähernden Chancengleichheit im Bereich Elternschaft muss noch einiges getan werden. Vorurteile müssen ab- und Unterstützungsangebote ausgebaut werden. Es geht darum das Recht jedes Kinds auf seine Eltern zu gewährleisten und jene Eltern, die Unterstützung benötigen, bei der Erziehung zu unterstützen. Derzeit gibt es generell zu wenig Wissen darüber, wie es Menschen mit Lernschwierigkeiten in und mit ihrer Elternschaft ergeht. Diese Lücke möchte sie nun – erstmalig für Österreich – mit ihrer Untersuchung zu füllen beginnen.

Auf ein paar Worte mit … Rahel More

Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht Wissenschaftlerin geworden wären?
Dann hätte ich bei einem spannenden Praxisprojekt mitgearbeitet.

Was machen Sie im Büro morgens als erstes?
Ich fahre den Computer hoch und mache das Fenster weit auf.

Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an die Arbeit zu denken?
Wenn der Urlaub lange genug dauert, ja.

Was bringt Sie in Rage?
Ziemlich wenig, eigentlich. Aber wenn doch einmal, dann meistens Chaos.

Und was beruhigt Sie?
Sonnenschein und meine Familie.

Wofür schämen Sie sich?
Fällt mir momentan nichts Konkretes ein.

Wer ist für Sie der „größte“ Wissenschaftler bzw. die größte Wissenschaftlerin der Geschichte und warum?
Da kann ich mich nicht entscheiden. Es gibt viele großartige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Aktuell finde ich Fiona Kumari Campbells Theorien zum Ableismus sehr spannend.

Wovor fürchten Sie sich?
Vor Kontrollverlust und generell vor Verlusten.

Worauf freuen Sie sich?
Immer auf irgendetwas, meistens darauf in der Früh aufzustehen und fast immer darauf am Abend schlafenzugehen.