„Jährlich grüßt der Integrationsbericht: Wir haben kein Integrationsproblem, sondern ein Demokratieproblem“

So fasst Erol Yildiz, Migrationsforscher an der Alpen-Adria-Universität, die österreichische Situation zusammen. Kürzlich stellte er sein neues Buch „Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht“ vor.

„Es scheint kein Zufall, dass die Präsentation des Integrationsberichtes 2013 und die des so genannten ‚Schlepperberichtes‘ in Wien kurz vor den Nationalratswahlen stattfanden. Um Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren, wurden vor kurzem sechs Asylwerber nach Pakistan abgeschoben. Auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, dass die Integration von MigrantInnen das dringlichste Problem in Österreich sei. Solche öffentlichen Integrationsdebatten tragen wesentlich mehr dazu bei, Realitäten zu schaffen, als sie zu beschreiben. Wir haben in Österreich kein Integrationsproblem, sondern ein Demokratieproblem. Es ist bekannt, dass viele Migrantinnen und Migranten, die seit Jahren hier leben und deren Nachkommen, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und daher nicht wählen dürfen. Gerade vor den Nationalratswahlen wäre es interessanter, eine Debatte über die Demokratiefähigkeit Österreichs zu entfachen und dazu einen ‚Korruptionsbericht‘ zu verfassen, der über ‚Integrationsprobleme‘ bestimmter politischer Kreise Auskunft gibt“, so Erol Yildiz (Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung) mit Bezug zu den aktuellen Debatten.

Realistischer scheint für ihn allerdings die Möglichkeit, die Lebenswirklichkeiten von MigrantInnen in den Mittelpunkt zu rücken. Das neue Buch von Erol Yildiz „Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht“ (http://www.transcript-verlag.de/ts1674/ts1674.php) setzt an diesem Punkt an und zeigt völlig andere Facetten von Migration, die im öffentlichen Diskurs bisher kaum Beachtung fanden. Ziel dieses Buches ist es, Spuren migrationsbedingter Veränderungen sichtbar zu machen und zwar aus der Perspektive und Erfahrung von Migration. Es geht um den pragmatischen Alltag, um alltägliche Dinge, um Lebenswege. Der Autor dazu: „Das Buch versteht sich als Plädoyer für eine andere Sicht der Dinge und als Absage an das vorauseilende Misstrauen gegenüber Migration und MigrantInnen. Es wird gezeigt, dass gerade Städte ohne Migration kaum denkbar sind; viele Städte sind erst durch Migrationsbewegungen entstanden. Stadtgeschichten sind auch immer Migrationsgeschichten.“

An konkreten Fallbeispielen wird anschaulich, wie Städte durch Migrationsbewegungen neue Impulse bekommen, in Bewegung bleiben und wie globale Phänomene in die urbane Alltagspraxis übersetzt werden. Die folgenden Beispiele aus dem Buch zeigen die unterschiedlichen Lebenswege von zwei Migrationsfamilien aus Klagenfurt und Köln:

Familie K. lebt seit acht Jahren im Kölner Stadtteil Nippes und betreibt eine türkische Konditorei, direkt am Marktplatz des „Veedels“ (kölsche Bezeichnung für Stadtviertel). Herr K. war als 18-jähriger aus der Südtürkei in die Schweiz ausgewandert. Später hatte er seine jetzige Frau im französischen Straßburg kennen gelernt und war dorthin gezogen. Sie ist die Tochter einer Gastarbeiterfamilie aus der Türkei, in Straßburg geboren und aufgewachsen. Vor zehn Jahren kam die Familie dann mit ihren Kindern auf Empfehlung von dort ansässigen Verwandten nach Köln, weil zu dieser Zeit gerade ein Geschäft in lukrativer Lage am belebten Marktplatz leer stand. Weil Herr K. in der Türkei eine Konditoreiausbildung abgeschlossen hatte, beschloss die Familie, eine türkische Konditorei zu eröffnen. Nicht nur türkische, auch französische Rezepte wurden für Backwaren und Desserts “importiert“. Alle Familienmitglieder sind französische Staatsbürger. Sie bekommen häufig Besuch aus Frankreich von ehemaligen Nachbarn und Freunden, aber auch aus den Niederlanden, wo ein anderer Teil der Familie lebt. Im Laden werden daher unterschiedliche Sprachen gesprochen: Französisch, Deutsch, Türkisch, Niederländisch. Die Kinder wachsen mehrsprachig auf, eine Tochter besucht mittlerweile das Gymnasium.

Ein ähnliches Beispiel transnationaler Verbindungen bietet die Biographie eines indischen Restaurantbesitzers in Klagenfurt. Herr S. hat von Indien, wo seine Eltern leben, über Finnland, wo seine Schwester ein Restaurant und ein Reisbüro führt, nach Österreich und hier von Villach, wo er seinen Bruder nur kurz besuchen wollte, nach Klagenfurt gefunden. Seine Familie lebt über die ganze Welt verstreut, eine Situation, die er als Jüngster von insgesamt sieben Geschwistern für seine unternehmerischen Aktivitäten nutzen kann. Die Familienkontakte werden über alle Entfernungen hinweg aufrechterhalten. In Klagenfurt lebt er seit nunmehr 30 Jahren, arbeitete zunächst als Koch, Yoga-Lehrer und Kinderbetreuer. Später eröffnete er ein indisches Restaurant, erst in Villach und später in Klagenfurt, weil, wie er glaubte, Klagenfurt wegen des Flughafens und der Universität internationaler sei. In seinem Lokal inszeniert er „indische Kultur“ in Form unterschiedlicher Dekorationen und Arrangements – eine Art der Einrichtung, auf die, wie er betont, in Indien weniger Wert gelegt würde. Auch in anderer Hinsicht ging er geschäftsfördernde Kompromisse ein: Als vegetarischer Hinduist habe er sich den österreichischen Essgewohnheiten anpassen müssen. Seine Geschäftsgründung hätte er ohne die finanzielle Unterstützung seiner weit verzweigten Verwandtschaft nicht umsetzen können.

 

Erol Yildiz | Foto: Furgler

Erol Yildiz | Foto: Furgler