Peter Gasser-Steiner | Foto: aau/KK

In Memoriam Ernst von Glasersfeld (1917-2010)

Ernst von Glasersfeld, Ehrendoktor der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, einer der einflussreichsten Denker der Gegenwart, ist am 12. November verstorben.

Ernst von Glasersfeld, der Begründer des Radikalen Konstruktivismus, ist im Alter von dreiundneunzig Jahren in seiner Wahlheimat in Amherst, Massachusetts in den USA verstorben.

Der Radikale Konstruktivismus ist in seinen Worten eine unkonventionelle Weise, die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten. Er beruht auf der Annahme, dass alles Wissen nur in den Köpfen von Menschen existiert und dass das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. Der Begriff der Wahrheit als einer wahren Abbildung einer von uns unabhängigen Realität wird durch den Begriff der Viabilität ersetzt und dieser beansprucht nicht mehr zu sein als ein mögliches Denkmodell für die einzige Welt, die wir „erkennen“ können und das ist die Welt, die wir als lebende Individuen konstruieren.

Ungewöhnlich war auch das Leben von Ernst von Glasersfeld. Er wurde 1917 in München geboren, der Vater war k.u.k Diplomat, die Mutter Skirennläuferin. Aufgewachsen in Südtirol und in der Schweiz ist Glasersfeld schon als Kind mehrsprachig. Als zehnjähriger war er in drei Sprachen zuhause und hatte, wie er schreibt, darum „schon früh Probleme mit dem Begriff der Realität.“

1937 ging Ernst von Glasersfeld als Skilehrer und Rennläufer nach Australien und wurde dort sogar erster australischer Abfahrtsmeister. Eine Fortsetzung seines Mathematikstudiums an der Universität Wien war 1938 unmöglich, und er emigrierte über Paris nach Irland. Dort lebte er als Farmer und beschäftigte sich mit den Werken von Vico und Joyce. Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Südtirol und arbeitete als Kulturjournalist für den „Standpunkt“ und die „Weltwoche“.

Durch die Bekanntschaft mit dem italienischen Philosophen Silvio Ceccato fand Ernst von Glasersfeld seinen Weg in jene interdisziplinäre Form des wissenschaftlichen Arbeitens, die für ihn bestimmend geblieben ist. Seine Arbeit am Zentrum für Kybernetik der Universität Mailand führte zu einem Projekt über maschinelle Übersetzung, das er später an der University of Georgia in den USA fortsetzte. Dort entwickelte er auch „Yerkish“, eine erste Sprache für Kommunikationsversuche mit Schimpansen.

Durch seine Arbeiten zum Radikalen Konstruktivismus wurde er zu einem der einflussreichsten Denker der Gegenwart. Seine Ideen werden diskutiert und rezipiert in den Kognitionswissenschaften, in der Managementlehre und Ökonomie, in den Literatur- und Medienwissenschaften, in der Mathematik- und Wissenschaftsdidaktik, in der Pädagogik, in der Psychologie und zunehmend auch in der Philosophie.  Die Denkweise von Ernst von Glasersfeld steht in einem engen Zusammenhang mit seiner Biografie und nur wenige Theoretiker können von sich sagen, dass sie ihre Theorie in einem solchen Ausmaß gelebt haben.

In den späten Jahren seines langen Lebens hat er viele Auszeichnungen erhalten. 1997 verlieh ihm zu seiner großen Freude unsere Universität das Ehrendoktorat für seine Verdienste um die Entwicklung der radikal konstruktivistischen Wissenschaftstheorie als Grundlegung für eine Neuorientierung der Wissenschaften. Es folgten Ehrendoktorate der Universitäten Innsbruck und Quebec, das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst und das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien.
Bis wenige Wochen vor seinem Tod hat er an seinem wissenschaftlichen Werk gearbeitet und es gelang ihm ohne lange Leidenszeit „in die ewigen Skihänge“ einzufahren. Der große Wissenschaftler Ernst von Glasersfeld war zugleich ein wunderbarer Mensch, der viele berührt hat, die ihm begegnet sind.

Vor zwei Jahren erschienen seine „Unverbindliche Erinnerungen. Skizzen aus einem fernen Leben.“ im Folio Verlag, Wien. In der 6. Auflage ist bei Suhrkamp Wissenschaft lieferbar: „Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme.“

Die Alpen-Adria-Universität wird Ernst von Glasersfeld in dankbarer Erinnerung verbunden bleiben.

Josef Mitterer

Peter Gasser-Steiner | Foto: aau/KK

Peter Gasser-Steiner | Foto: aau/KK