Über die Schwierigkeit, aus der Geschichte zu lernen

Reinhard Stauber ist Historiker. Er sieht sich und seine Kollegen als Graumaler mit spitzer Feder, als berufsbedingte Skeptiker. Warum diese Graumaler heute wichtiger denn je sind und warum die Geschichte dennoch nicht als Lehrmaterial für die Zukunft taugt, erzählt er ad astra. Sein größtes Ziel: die Menschen zum eigenständigen Denken, zum Mitdenken zu bewegen.

Keine Gegenwart ohne Geschichte. Dennoch ist der Status für die akademische Stellung der Geschichtswissenschaften notorisch schwierig. Wir fragen Reinhard Stauber, woran das liegt. Für Stauber sind oft die FachvertreterInnen selber ein Teil des Problems: „Im Fach Geschichte haben wir seit zwanzig bis dreißig Jahren eine sehr fragmentierte Forschungslandschaft mit einer hohen Spezialisierung. Es steckt sehr viel Expertenwissen drin, aber auch Expertenjargon, was durchaus abschreckend wirken kann – sowohl für die breite Gesellschaft als auch für unsere Bachelorstudierenden.“

Manchmal scheint es ja so zu sein, dass sich in der Geschichte dieselben Fehler immer neu wiederholen. Deshalb stellen wir die Frage, ob man denn nicht aus der Geschichte für die Zukunft lernen könne. Reinhard Stauber hält das für schwierig, da uns Geschichte, bis auf die wenigen Jahrzehnte der Zeitgeschichte, nicht unmittelbar zur Verfügung steht. Historikerinnen und Historiker arbeiten mit Fragmenten, mit Überresten. Diese Quellen werfen nur einzelne Schlaglichter auf die jeweilige geschichtliche Realität, das Zusammenfügen dieser Schlaglichter zu einer kohärenten Geschichte obliegt dem oder der GeschichtswissenschaftlerIn. Stauber dazu: „Ja, es gibt schon wiederkehrende Muster, die man erkennen und ableiten kann.“ Für ihn ist aber immer auch der wissenschaftliche Erklärungsanspruch wesentlich: „Die Aussage, dass sich die Leute immer schon gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben, mag zwar stimmen, aber so etwas taugt nicht zum Erkennen von rekurrierenden Mustern.“

Es bleibt als Fazit, dass Geschichte sich nicht als einfacher Rückspiegel der Gegenwart eignet. Stauber hält es da eher mit dem Historiker Leopold von Ranke. Für ihn sollte Geschichte nicht belehren, sondern sagen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Das ist schwierig genug, denn niemand war dabei, um ferne liegende Ereignisse zu dokumentieren; eine Verzerrung durch Standpunkte, Wissenslücken und
subjektive Einflüsse ist unumgänglich. Die Hoffnung, aus der Geschichte für die Zukunft lernen zu können, scheint verschwindend gering. „Natürlich kann das Studium der Geschichte weise machen“, fährt Stauber fort, „weise für immer, wie Jacob Burckhardt geschrieben hat.“ Leider taugt auch dies nicht als Patentrezept für die Entscheidungsträgerinnen und Stakeholder der Gegenwart. „Wir stehen unter Zeitdruck, unter Effizienzdruck, alles unterliegt Management-Aspekten.“ Zeit sei tatsächlich etwas Wesentliches in der Erkenntnisgewinnung: Je später, desto reifer die Erkenntnis. „Das ist ja gerade das Paradoxe am Beruf des Historikers“, sagt Stauber.

Stauber verfällt jedoch nicht in Resignation. Wichtig sei, sich umfassend zu informieren und dann zu entscheiden, die eigene Urteilsfähigkeit zu schulen, indem man, auch, auf die Geschichte zurückblicke. Darin liegt seiner Meinung nach auch eine der größten Herausforderungen: „In der Zeitgeschichte der letzten vierzig bis fünfzig Jahre gibt es quasi keinen Gegenstand, der nicht umstritten ist.“ Im Zeitalter von Fake News wird es noch schwieriger, Geschichte richtig zu verorten und aus widerstreitenden Meinungen ein möglichst exaktes wissenschaftliches Bild zu zeichnen. Für Stauber gibt es in der Geschichtswissenschaft jedoch kein exaktes Schwarz oder Weiß: „Wir malen in Schattierungen von Grau“, sagt er.

Darin sieht Stauber auch eine wesentliche Aufgabe von HistorikerInnen: „Wir Historiker sind so etwas wie Gatekeeper. Wir können und müssen hartnäckig nach den Fakten, nach den Quellen fragen. Wir sind dazu da, den Dingen auf den Grund zu gehen und auch denjenigen Menschen auf den Zahn zu fühlen, die Unsinn verbreiten. Und wir müssen etwas sagen, wenn sie das tun.“

Als beruflich in die Vergangenheit blickenden Menschen erfüllen Stauber aber auch Gegenwart und Zukunft mit Sorge. Hier spricht aus ihm vor allem der kritisch reflektierte Bürger, der Citoyen, der mitdenkt und sich engagiert: „Da würde ich mir durchaus mehr Lerneffekte aus der Vergangenheit wünschen.“ Stauber sieht sich darin besonders als Universitätslehrer in der Pflicht: „Der Sinn des Studiums ist nicht, Wissen auf einer Fakten-Schutthalde anzuhäufen. Wir müssen den jungen Menschen zeigen, wo sie selbst nachfragen müssen, und ihnen diejenigen Instrumente an die Hand geben, mit denen sie Antworten finden können.“ Er pausiert: „Das ist die gesellschaftliche Aufgabe, die wir im Fach Geschichte haben.“

für ad astra: Annegret Landes