Bilderwand Foyer Palliative Care| Foto: aau/Maier

Über das Sterben reden

Der Mensch kümmert sich zunehmend selbst um gutes Altern und Sterben. Für Andreas Heller ist da eine Revolution im Gange. Er ist erster Professor für Palliative Care und Organisations-Ethik in Europa und leitet das gleichnamige Institut am IFF Wien. Gemeinsam mit seinen vierzehn KollegInnen unterhält er zahlreiche partizipative Forschungsprojekte, vorwiegend in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Eines davon findet derzeit in Rüdesheim am Rhein statt.

Herr Heller, Sie haben in Rüdesheim mit dem dortigen Hospizverein, anderen karitativ-diakonischen Einrichtungen und den Kommunen ein Projekt zur Verbesserung des Sorgealltags gestartet. Wie und wohin soll es wirken? Der genaue Titel lautet „Sorge tragen – mit und für alte Menschen im Rheingau“,
es soll also in die ganze Region wirken. Dort leben etwa 160.000 Menschen, und es sind viele alte darunter, die oft noch zusätzlich Sorge- und Pflegetätigkeiten haben. Wir wissen von deren wachsender Einsamkeit. Ihre sozialen Bezugskreise zerbrechen, und sie sind reduziert darauf, den Alltag zu stabilisieren. Wir wollen sie aus dieser Isolation herausführen, und zwar durch aktive Beteiligung von möglichst vielen Menschen aus der Umgebung, und ihnen Unterstützung und Vernetzung ermöglichen.

Das beginnt mit Gesprächen, bei denen die Menschen ihre „Sorgen auf den Tisch legen“ können?
An „Runden Tischen“ finden sich alte Menschen, pflegende Angehörige sowie die MitarbeiterInnen von Pflegediensten und den örtlichen Einrichtungen zusammen. Wichtig für alle ist das Gespräch auf gleicher Augenhöhe. Für die Betroffenen ist es oft schwierig, die existenziellen Sorgen zu thematisieren. Eine moderierende Begleitung hilft ihnen dabei. Wir vom Institut steuern die Prozesse und entwickeln Materialien, die multiplikationsfähig sind. Ziel ist, dass sich „ganz Mitteleuropa“ an solche Runde Tische setzt und in der Folge auch hier viele „Caring Communities“ entstehen. In England wird schon länger und erfolgreich an der Etablierung von „Compassionate Cities“ und „Caring Communities“ gearbeitet.

Sind die Menschen denn bereit, sich ganz konkret mit dem Sterben auseinanderzusetzen?
Die Babyboomer der 1950er und 1960er Jahrgänge haben – im Gegensatz zu ihren Eltern – eine völlig andere Erwartung an ihr Sterben. Sie wollen so lange wie möglich autonom bleiben. Wenn das nicht mehr geht, sind sie eher bereit, das Sterben zu beschleunigen, als sich in institutionalisierte Abhängigkeit zu begeben, am wenigsten wollen sie ins Krankenhaus. Nur ein Prozent der Deutschen will im Krankenhaus sterben. Auch die virulente Suizidassistenzdebatte ist Ausdruck dieses Kulturwandels. Die Menschen wollen dies selbst in die Hand nehmen und sehen sich in der letzten Phase immer weniger als nur dem Arzt ausgelieferte Patienten.

Was behindert diese Entwicklung?
Wir haben in Österreich und Deutschland eine extreme Bettenlastigkeit und Krankenhauszentrierung. Wir schaffen es nicht in angemessener Weise, die Ambulantisierung der Versorgung am Lebensende zu organisieren. Das hat stark mit lobbyistischen Interessen zu tun, v. a. der Medizin und der Pharmaindustrie. Die Professionellen sind überfordert, und die Wenigsten haben gelernt, sich interdisziplinär zu verständigen.

An den auch von Ihrem Institut wissenschaftlich begleiteten Palliativstationen und Hospizen wird doch gute Arbeit geleistet!
Ja, seit zwanzig Jahren mit richtig großen Erfolgen. Aber es ist schlicht nicht finanzierbar, das Land mit Hospizen und Palliativstationen zu überziehen. Eine einzige Palliativstation in einem 800-Betten-Haus ist zu wenig. Die Sterbenden und das Thema Sterben werden sehr schnell organisational dorthin delegiert. Es bräuchte in allen Bereichen eines Krankenhauses eine hospizlich-palliative Kompetenz. Das bedeutet jedoch einen tiefgreifenden Struktur- und Transformationsprozess.

Was wären dann die besseren Wege?
Die Lösungen für die Fragen am Ende des Lebens liegen nicht in einem Medikament oder in einer neuen Professionalisierung, sondern in der Frage der Solidarität und einer neuen Sorgekultur. Wir meinen immer noch, dass man für alles einen Experten braucht. Die Geburt wird pathologisiert, also braucht man Screenings. Die Trauer wird als eine psychiatrische Erkrankung katalogisiert, also braucht man ein therapeutisches Konzept. Mit dem Sterben ist es nicht viel anders. Wir müssen begreifen, dass es für existenzielle Erfahrungen wie Altern und Sterben keine unmittelbaren Lösungen gibt, sondern wir müssen uns dazu emotional und rational anders in ein Verhältnis setzen. Wichtig ist es, eine Community vorzufinden, die mich ent-einsamt und ich nicht mehr so radikal auf mich alleine zurückgeworfen bin.

Dazu braucht es wohl eine breite Einstellungsänderung der gesamten Gesellschaft?
In den letzten Lebensjahren sind wir – genauso wie am Anfang des Lebens – auf die Solidarität anderer angewiesen. Ziel ist eine „sorgende Gemeinschaft“, und die muss erst wieder neu aufgebaut werden. Diese „Care-Revolution“ ist bereits im Gange. Die Bereitschaft zur Unterstützung von Sterbenden ist eindrucksvoll, wir brauchen nur enger geknüpfte Netzwerke. Die Zukunft wird sicherlich expertenärmer und weniger interventionistisch. Wir brauchen keine flächendeckende Expertokratie in Sachen Sterben, sondern wir brauchen Menschen, die bereit sind, sich diesen existenziellen Erfahrungen mit anderen auszusetzen.

Die Beteiligung der eigenen Kinder miteingeschlossen?
Wir dürfen auch den eigenen Kindern nicht Erfahrungen ersparen, die existenziell für ihr eigenes Leben sind. In meiner Generation macht sich eine Mentalität breit, die sagt: Ich habe alles geklärt, die Kinder brauchen sich nicht um mich zu kümmern. Ich entscheide über mein Kranksein und Sterben, ggf. beschleunige ich mein Ende durch Suizidassistenz und mache mich geräuscharm vom Acker. Ich finde, man sollte sich trauen, sich der nächsten Generation zuzumuten und sie nicht allzuschnell aus der Sorgeverantwortung für Menschen und die Welt zu entlassen. Das höhlt den Kern dieser Gesellschaft aus, denn sie ist im Wesentlichen auf Sozialität und Konvivialität (Ivan Illich) angelegt.

für ad astra: Barbara Maier

 

Andreas Heller | Foto: aau/Maier

Andreas Heller | Foto: aau/Maier

Zur Person

Andreas Heller, Jahrgang 1956, ist auch als Berater von Caritas und Diakonie sowie verschiedenen Krankenhausgesellschaften in Deutschland und Österreich tätig. Und er publiziert, u. a. „In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann. München: Pattloch 2014“ (gemeinsam mit Reimer Gronemeyer).