Texte bleiben lebendig
„Von Anfang an in ihrer Entstehung, aber auch in der Lektüre, bleiben Texte lebendig“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Franziska Mader ihr Interesse an Textgenese. Sie arbeitet im Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv an der Aufbereitung von Musils Texten für die Online-Edition MUSIL ONLINE. Ziel ist es, Musils vielschichtigen Texte allen Interessierten zugänglich und schmackhaft zu machen. Am kommenden Dienstag, 17. Juni 2025, feiert sie gemeinsam mit Kolleg:innen den Release von MUSIL ONLINE. Dort steht nun mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ Musils umfassendster Roman als Lesetext zur Verfügung.
„Wir haben häufig den Eindruck, dass ein Text etwas Gegebenes, etwas Fertiges ist. Wir kaufen uns ein Buch, lesen es, es gefällt uns, oder auch nicht, und wir legen es dann wieder zur Seite“, führt Franziska Mader aus. In ihrem Fach habe sie im Gegensatz dazu gelernt, dass „Texte immer lebendig bleiben. Jeder, der den Text liest, liest ihn anders. Dadurch wird der Text immer wieder neu.“ Aus dieser Perspektive heraus ist für sie die Entstehungsgeschichte eines Textes besonders spannend, weil über die dokumentierten Bearbeitungen das Ringen mit Sprache, Motiven, Inhalten und Erzählstrategien beim Verfassen nachvollziehbar wird. Robert Musil hat selbst rund 12.000 Manuskriptseiten hinterlassen, die von ihm systematisiert vorliegen und viele Einblicke in sein Arbeiten ermöglichen. Franziska Mader betont dazu: „Wir können davon ausgehen, dass diese Manuskripte, mit denen wir heute arbeiten können, von Musil zu einem bestimmten Zweck aufbewahrt wurden. Darüber hinaus gibt es auch ungewollte Verluste, die durch den Krieg und die Flucht ins Exil bedingt sind.“
Was zeichnet nun Musils Arbeitsstil aus? „Er hat die Texte sehr systematisch umgearbeitet. Dafür hat er auch ein eigenes Verweissystem entwickelt, um seinen Prozess nachvollziehen zu können. Wir können aus den Manuskripten ablesen, dass er wohl nur schwer ein Ende der Bearbeitungen finden konnte. Texte sind unabschließbar, und er hat am eigenen Leib gespürt, dass er das Ende, nach dem er strebte, nicht erreichen würde“, so Franziska Mader. Robert Musil habe relativ wenig gestrichen, aber beispielsweise häufig am Blattrand eine Vielzahl an sprachlichen Alternativen notiert. Seine Sprache bleibt dadurch offen, wird aber auch sehr dicht. Uns erzählt Franziska Mader: „Er hadert laufend mit der Eindeutigkeit der Sprache, die es nicht gibt. Da sehe ich auch einen persönlichen Bezug zu mir, weil ich selbst auch oft in ähnlicher Weise hadere und mich schwer von einem Text verabschiede.“
Schon in ihrer Dissertation hat sich Franziska Mader mit Texten von Robert Musil beschäftigt. Im Zentrum standen dabei in Zeitungen erschienene Kurzprosa-Texte von Musil. Dabei hat die Germanistin vor allem interessiert, wie diese Texte mit anderen Texten auf diesen Zeitungsseiten korrespondieren: „Es kommt oft zu überraschenden Berührungspunkten, die nicht antizipierbar sind. Auch das führt uns die Offenheit von Texten nochmals eindrucksvoll vor Augen.“
In den vergangenen Jahren ist Franziska Mader, die Literaturwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt studierte, tief in die Manuskripte Robert Musils eingetaucht. Mit der digitalen Aufbereitung des „Mannes ohne Eigenschaften“ für MUSIL ONLINE ist dem Team am Arbeitsbereich Digitale Edition nun ein großer Meilenstein gelungen. Besonders wichtig war und ist dabei, alle drei Säulen der Online-Edition – Schauen, Lesen, Verstehen – gleichwertig nebeneinander abzubilden. „Es soll nicht den heiligen Text im Zentrum geben, und wir schauen auch ein bisschen rechts und links, sondern die Kommentierung und das Manuskript an sich haben den gleichen Stellenwert. Damit unterscheiden wir uns von anderen Online-Editionen“, erklärt Franziska Mader. Zu tun gibt es für die Literaturwissenschaftler:innen freilich noch viel, soll schließlich neben den publizierten Texten der gesamte Nachlass in dieser Form erfasst und veröffentlicht werden. Zusätzliche Expertise erwirbt sich Franziska Mader dazu durch ihre Weiterbildung zu Data Stewardess an der Universität Graz, die auf professionelles Forschungsdatenmanagement abzielt: „Die Datenablage in solchen Projekten ist eine große Herausforderung. Von Beginn an gilt es, eine beständige und haltbare Systematik zu entwickeln, das betrifft alle Disziplinen. Ich hoffe, mit diesem innovativen Wissen auch zukünftig zu Forschungsprojekten beitragen zu können.“ Mit dem Kooperationspartner, der Österreichischen Nationalbibliothek, hat MUSIL ONLINE ein starkes Standbein zur Datensicherung zur Seite.
Auf ein paar Worte mit … Franziska Mader
Was motiviert Sie, in der Wissenschaft zu arbeiten?
Meine Motivation, eine Wissenschaft zu studieren, bestand primär darin, selbständig denken zu lernen. Dank meines Studiums bin ich in der Lage, mir ein Thema/einen Gedanken/eine Idee – einen Text – sachlich erschließen und darüber Aussagen treffen zu können. Ich erachte diesen Zugang als wesentlich, weil nicht das Urteil an erster Stelle steht, sondern das Verstehen. So möchte ich die Welt wahrnehmen.
Was wären Sie heute, wenn Sie nicht Wissenschaftlerin wären?
Ich habe zwar vor meinem Studium eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin (DE) gemacht, aber schnell gemerkt, dass ich mich dafür überhaupt nicht eigne. Heute denke ich oft, dass ich auch gerne Fahrradmechanikerin geworden wäre.
Verstehen Ihre Eltern, woran Sie arbeiten?
Mein Vater hat sich sehr darum bemüht, aber es hat sich schnell abgezeichnet, dass er sich auf so manchen wissenschaftlichen Zugang nicht einlassen wollte/konnte. Meine Mutter fragt mich in regelmäßigen Abständen – etwa alle zwei Wochen –, was ich eigentlich genau mache.
Meine Eltern sind/waren sehr bibliophile Menschen. Bücher und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen haben in meinem Elternhaus immer eine wichtige Rolle gespielt.
Was machen Sie morgens als erstes?
Kakao für meine kleine Tochter.
Machen Sie richtigen Urlaub? Ohne an Ihre Arbeit zu denken?
Im Unterschied zu vielen Kolleg:innen kann ich problemlos einfach nur zum Zeitvertreib lesen. Aber weil mir mein Metier ein Herzensanliegen ist, beschäftigt es mich natürlich über meine Bürozeiten hinaus. Der Grund dafür, seit nunmehr knapp fünf Jahren keinen „richtigen Urlaub“ – im Sinne von unbegrenzter Mußezeit – mehr gemacht zu haben, liegt vielmehr darin, dass das mit Kleinkind einfach nicht möglich ist 🙂
Was macht Sie wütend?
Ein platter Reifen an meinem Fahrrad.
Und was beruhigt Sie?
Yoga, alleine Sein, mein Mann
Wovor fürchten Sie sich?
Dass meinem Kind etwas Schlimmes passieren könnte.
Worauf freuen Sie sich?
Auf meinen Tee am Morgen, die Nudeln am Mittag, die Umarmung meiner Tochter beim Abholen, die Dusche am Abend, den Besuch meiner Mutter, den Release von MUSIL ONLINE etc. etc.