Neck Reinhard | Foto: aau/Müller

Wohin entwickeln sich unsere Staatsschulden?

Reinhard Neck erklärt im Gespräch mit ad astra, wie die Schulden eines Staates einzuschätzen sind, ab wann es eng wird und was es braucht, um aus der Misere zu kommen.

Herr Neck, folgt man der Medienberichterstattung, scheint es so, dass eigentlich alle bei allen Schulden haben: die Privaten bei den Banken, die Banken bei den Staaten, die Staaten bei den Banken, die Staaten untereinander. Wer hat in diesem System eigentlich noch das Geld?
Es gibt in allen Ländern der Welt, sogar in Ländern wie Griechenland, eine Menge Leute und Institutionen, die Geld haben und das verleihen. Die Funktionslogik ist bei Privaten und bei Staaten die gleiche: Diejenigen, die zu viel haben, geben es an Banken. Die Banken agieren als Intermediäre und vermitteln das Geld an diejenigen, die zu wenig haben und bereit sind, dafür Zinsen zu bezahlen. Im Falle des Staates sind es meist Staatsanleihen, die mit einem bestimmten Zinssatz gezeichnet werden.

Seit ich denken kann, hat es in Österreich nichts Besseres als ein Nulldefizit gegeben. Wo führt das hin?
Den letzten Budgetüberschuss gab es Ende der 1960er Jahre, das ist tatsächlich schon lange her. Die Entwicklung führt dazu, dass die Staatsschulden immer größer werden. Und da müssen wir uns fragen: Ist das überhaupt ein Problem? Unter bestimmten Voraussetzungen stellt dies nämlich kein Problem dar.

Welche sind das?
Die Voraussetzung ist, dass der Anstieg der Staatsschulden damit einhergeht, dass auch andere Größen der Volkswirtschaft steigen. Einerseits ist relevant, ob das Preisniveau steigt, also Inflation. Wenn das Geld weniger wert wird, dann sind auch die Schulden weniger wert. Andererseits ist wichtig, ob mehr produziert wird. Das misst man üblicherweise durch das reale Bruttoinlandsprodukt. Wenn in einem Land mehr Güter und Dienstleistungen produziert und verkauft werden, kann es die Schulden leichter zurückzahlen. Deshalb misst man in den Wirtschaftswissenschaften nicht die Schulden in der jeweiligen Währung, sondern das Verhältnis zwischen Schulden und Produktion. Dies wird meist als zeitliche Größe interpretiert: Wir kommen also zu Prozentanteilen eines Jahres, die eine Volkswirtschaft benötigen würde, um ihre gesamten Schulden zurückzuzahlen. Ein Wert von 100 Prozent würde also bedeuten, dass die gesamten erwirtschafteten Mittel von Jänner bis Dezember eines Jahres aufgewendet werden müssten, um die Schulden eines Landes zu tilgen.

Wo liegen wir da?
Derzeit liegt dieser Wert in Österreich etwa bei 85 Prozent. Noch vor 35 Jahren waren wir bei der Hälfte. Die Entwicklung ist also rasant.

Und wo liegen Staaten wie Griechenland?
Griechenland liegt bei rund 180 Prozent. Den höchsten Wert in der westlichen Welt hat derzeit Japan mit rund 230 Prozent.

Japan gilt aber gemeinhin nicht als „armes Land“.

Japan hat das große Glück einer nicht nur geografischen, sondern auch ökonomischen Insellage. Der japanische Staat hat seine Schulden ganz überwiegend bei der japanischen Bevölkerung einschließlich der japanischen Kapitalmarktinstitutionen. Damit ist das Problem der Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern nicht vorhanden. Für einen Außenstehenden ist das trotzdem etwas erstaunlich, weil Japan über lange Jahre hinweg beinahe eine Nullzins-Politik betrieben hat. Trotzdem wurden immer wieder ausreichend Kredite vergeben.

Ab wann führt die Entwicklung zum Staatsbankrott?
Das kann man nicht genau sagen. Die Gefahr eines Staatsbankrottes hängt wesentlich davon ab, wie sich ein Land entwickelt, sowohl in Hinblick auf die Produktion als auch auf die Schuldenlast insgesamt. Da ist die Situation Österreichs, wie bei vielen anderen Ländern auch, nicht so günstig. Um ein Beispiel zu nennen: 1974 gab es in Österreich zuletzt eine wirklich gute Konjunktur, damals lag das Schulden/Output-Verhältnis bei elf Prozent. Ab dann ging es im Wesentlichen immer abwärts, bis auf geringfügige Rückgänge in ein oder zwei Jahren.

Wer ist für die Staatsschuldenentwicklung verantwortlich?
Die Politik. Und sie verfällt oft dem Irrglauben, dass es den Wählerinnen und Wählern lieber wäre, wenn mehr Schulden gemacht werden. 2001, beispielsweise, gab es ein Nulldefizit, das vorwiegend durch die Überschüsse der Länder und Gemeinden zustande gekommen ist. Das ist damals sehr bejubelt und auch von der Bevölkerung positiv aufgenommen worden. Bereits ein paar Jahre später, 2006, hat die gleiche Regierung ein Defizit eingefahren und daraufhin die Wahlen verloren. Meines Erachtens zeigt das, dass das Defizit den Menschen nicht egal ist.

Kreditvergabe und Schuldenmachen haben viel mit Vertrauen zu tun. Folgen diese Abläufe immer rationalen Regeln oder menschelt es auch in dem System?
Die Frage der Vertrauenswürdigkeit und damit der Bonität von Schuldnern ist schwierig. Die Bewertung wird häufig von Ratingagenturen übernommen, also privaten Firmen, die gewisse Privilegien haben. Da gibt es das berühmte System von AAA bis CCC, wobei CCC bedeutet, dass ein Staat pleite ist. Diese Ratings schlagen sich natürlich in entsprechenden Zinszahlungen der Schuldner nieder. Auch hier ist die Analogie zum Privaten ganz nützlich: Vielen Leuten bleibt irgendwann nichts anderes übrig, als zu einem Kredithai zu gehen, der hohe Zinsen verlangt und unangenehme Geschäftsmethoden hat. Auch für Staaten kann es unangenehm werden: Geht das Vertrauen verloren, sind diese Staaten vom Kapitalmarkt abgeschnitten.

Was passiert bei Staatspleiten?
Wenn ein Staat sich für zahlungsunfähig erklärt und die Schulden nicht mehr bedienen kann, ist er für eine Weile vom Kapitalmarkt ausgeschlossen. Dem Staat wird letztlich nichts anderes übrig bleiben, als sich auf ein langfristiges Programm mit den Gläubigern zu einigen.

Gab es so etwas schon?
Schon oft. Die polnischen Staatsschulden aus der kommunistischen Zeit mussten so abgearbeitet werden. Auch in Russland hat es kurz vor der Jahrhundertwende einen Staatsbankrott gegeben. Mehrere Staatsbankrotte gab es in Argentinien, das mehrmals hintereinander zahlungsunfähig war. Die Verhandlungen führen meistens zu einem Schuldenschnitt, das heißt, die Gläubiger verzichten auf einen Teil ihrer Schulden in der Hoffnung, die restlichen Gelder zurückzubekommen.

Wie erholen sich solche Staaten?
Es wird oft gesagt und geschrieben, dass die Kapitalmärkte vergessen und vergeben. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass dem nicht so ist. Liegt der Schuldenschnitt unter 40 Prozent, kann man davon ausgehen, dass sich ein Staat wieder erholen kann und nicht wieder neu in der Abwärtsspirale landet. Liegt der Wert höher, wird erwartet, dass die gleiche Situation wieder eintritt. Es kann sehr lange dauern, bis ein Staat wieder gute Zinsen bekommt. Ansonsten liegen die Zinsen oft sieben bis zehn Prozentpunkte über den Sätzen, die einem guten Schuldnerland gewährt werden.

Die Zinsen führen dann zu neuen Problemen.
Ja, die massiv höheren Zinszahlungen verunmöglichen es dann einem Staat, wieder gut auf die Beine zu kommen. Wir haben in einer Studie berechnet, dass bei einem 100%igen Schuldenschnitt, bei dem die Gläubigerstaaten völlig auf die Rückzahlung verzichten, trotzdem auch das Schuldnerland dauerhaft verliert, indem sich neue Verluste aus der drückenden Zinslast ergeben. In einer anderen Studie haben wir gezeigt, dass mehrmalige Schuldenschnitte dazu führen, dass immer öfter ein neuer Bedarf entsteht. Das können wir auch am Beispiel Griechenland sehen.

Wie kann man solche Situationen lösen?
Man muss solche Länder wettbewerbsfähiger machen und die Produktion steigern. Das ist natürlich viel schwieriger. Oft funktionieren in solchen Ländern die institutionellen Strukturen nicht. Es gibt zum Beispiel ineffiziente oder gar korrupte Regierungen. Am Beispiel Griechenland ist es so, dass dort seit sehr langer Zeit ein gestörtes Verhältnis zwischen der Bevölkerung und dem Staat herrscht,wie kürzlich eine politikwissenschaftliche Studie aufgezeigt hat. Griechenland war vom 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unter türkischer Herrschaft: Für die Bevölkerung war es daher üblich, gegen den Staat zu sein. Damit ging einher, dass man den Staat betrog. Das ist eine Tradition, die sich in vielen Bereichen bis heute fortgesetzt hat. In anderen Ländern, wie in Irland, sind strukturelle Reformen gut gelungen, was sich in einer positiven Entwicklung des Landes widerspiegelt.

Zurück zu Österreich: Haben Sie Vertrauen darauf, dass der Staat dauerhaft auf dem derzeitigen Niveau sein Gesundheits-, Bildungsund
Pensionssystem aufrechterhalten kann?
Das hängt von der politischen Entwicklung ab. Zur Alterssicherung: Das Problem ist immer zu lösen, wenn man die Parameter ändert. Österreich hat beispielsweise ein äußerst niedriges Pensionsantrittsalter. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung wird das Umlagesystem stärker als bisher belastet, und man müsste entsprechende, oft unpopuläre Maßnahmen treffen. Für Slowenien haben wir das untersucht: Dort gibt es ein besonders ungünstiges Verhältnis von Einzahlenden und Pensionsempfängerinnen und -empfängern. Dort werden massive Einschnitte notwendig sein. Der Zwang der Verhältnisse wird aber auch in Österreich irgendwann dazu führen, dass sich Grundlegendes ändert.

für ad astra: Romy Müller

Zur Person

Reinhard Neck, geboren 1951, ist Professor für Volkswirtschaftslehre. Er war unter anderem Gastprofessor an der Stanford University und forschte an der University of California in Berkeley in den USA. Neck führte zahlreiche Studien zur Staatsschuldenentwicklung durch. Derzeit leitet er unter anderem ein Forschungsprojekt zur Frage, ob die Kärntner Budgetpolitik nachhaltig ist.