Polen zwischen Hitler und Stalin: FWF-Projekt unternimmt Vergleich zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen Strukturen

Am 1. September 1939 griff das nationalsozialistische Deutschland Polen an. Da Hitler sich kurz zuvor mit Stalin über die Teilung des Landes verständigt hatte, marschierte 17 Tage später auch die Rote Armee in Polen ein. Für 21 Monate stand das Land nun unter Herrschaft zweier extremer Besatzungsmächte. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Dieter Pohl (Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt) untersucht nun Strukturen und Logiken der beiden Regime in diesem durch Zeit und Raum eingegrenzten Rahmen.

Der große Diktaturvergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus wurde von vielen Historiker*innen in Angriff genommen – und war, so der Historiker Dieter Pohl, meist zum Scheitern verurteilt. Makrovergleiche, die versuchen, eine Vielzahl von Aspekten in den Blick zu nehmen, seien gegenüber einer sorgfältigen wissenschaftlichen Analyse von kleineren Untersuchungsobjekten im Nachteil. „Wir brauchen ein tertium comparationis, damit wir nicht Äpfel mit Birnen gegenüberstellen. Polen bietet sich als überschaubares ‚gemeinsames Drittes‘ an: Wir haben dieselbe Zeit, dasselbe Gebiet, dieselbe Bevölkerung.“ Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf die Bemühungen der Besatzer, die polnische Gesellschaft durch Gewalt, vor allem durch Deportationen zu verändern.

Sowohl die deutschen als auch die sowjetischen Besatzer deportierten jeweils etwa 400.000 polnische Bürger*innen, christliche und jüdische, in einer Zeitspanne von nur 17 Monaten. Sie gingen dabei unterschiedlich vor: Während die Deutschen die Polen in das strukturschwache Zentralpolen deportierten und gleichzeitig Westpolen germanisierten, brachten die Sowjetbehörden Polen (und Juden) ins Innere der Sowjetunion. Auf beiden Seiten wurden gleichzeitig Teile der polnischen Intelligenz ermordet und Massenverhaftungen verdächtiger Widerständler durchgeführt. Zur gezielten Verfolgung und Ermordung von Juden, Roma und Psychiatrieinsassen kam es jedoch ausschließlich unter deutscher Besatzung.

Mit dem Projekt will das Forschungsteam den Diktaturvergleich auf neue Füße stellen. Nicht die Frage „Wer war schlimmer?“ soll beantwortet werden, sondern „Wie gingen die einen, wie die anderen vor? Wie reagierten die Opfer der Deportationen, aber auch andere Teile der polnischen Bevölkerung, auf die beiden Regime?“. Daraus wollen Dieter Pohl und seine Kolleginnen auch allgemeine Schlüsse über die Logik und Beschaffenheit dieser beiden Diktaturen ziehen.

Die Ergebnisse der Studie sollen im Rahmen einer Monographie veröffentlicht werden. Das Projekt mit dem Titel „Polen unter sowjetischer und deutscher Besatzung (September 1939 – Juni 1941)“ wird vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert.

 

Interview mit Dieter Pohl



Wie ist Polen in diese fatale Lage geraten?

Dafür ist erstens seine geographische Lage verantwortlich. Links und rechts von Polen liegen zwei Großmächte, die immer schon Ansprüche an Polen gestellt haben. Das war schon im 18. Jahrhundert das zarische Russland im Osten und Preußen im Westen. Zweitens entwickelte sich Polen schon früh zur Republik und war daher im Inneren vergleichsweise schwach. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Polen mehr oder weniger aufgelöst; und die beiden Mächte haben sich jeweils Beutestücke geholt. Dieser Vorgang wiederholt sich im 20. Jahrhundert mit den zwei aggressiven Nachbarn Hitler und Stalin. Die beiden Todfeinde teilten sich auf Kosten Polens das Land auf. Die Polen sehen sich oft als Opfer der Geschichte; oder als jene, die als David gegen Goliath kämpfen müssen.



Dieter Pohl


Was weiß man denn noch nicht über die Einnahme Polens durch Hitler und Stalin? Was ist also die Wissenslücke, die Sie füllen möchten?

Gleich vorweg: Der berühmte Historiker Timothy Mason sagte einmal, ein Historiker sei kein Zahnarzt. Daher müsse er auch keine Lücken füllen, sondern seine Aufgabe sei es, Geschehnisse neu zu interpretieren und grundlegende Fragen zu Vergangenem zu beantworten. Ja, die deutsche Besatzung Polens ist sehr gut erforscht. Die sowjetische Besatzung in Polen war hingegen lange gar nicht Gegenstand der Geschichtswissenschaft, weil die Sowjets das nicht gestattet haben. Das wurde in den 1990ern umfassend nachgeholt. Insgesamt muss man aber feststellen, dass es keine richtig tiefgehende Forschung zur Frage der Doppelbesatzung gibt. Das Vorhaben, große Aspekte zu vergleichen – Hitler und Stalin, Nationalsozialismus und Stalinismus – ist insofern problematisch, als man nicht hinreichend in die Tiefe gehen kann. Wir fokussieren daher auf einen überschaubaren zeitlichen Rahmen und ein Gebiet sowie eine Bevölkerung. Dies erlaubt uns, eine tiefgehende Betrachtung zu unternehmen. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf den Deportationen.

Was wissen wir über die deutschen und sowjetischen Deportationen?

Beide haben in ungefähr gleich großer Anzahl Menschen deportiert. In der Vorgangsweise gibt es aber zentrale Unterschiede: Die Deutschen haben ihren Teil Polens in Westpolen und Zentralpolen geteilt. Westpolen ist in das Deutsche Reich eingegliedert worden; dort hat man vor allem Deutsche angesiedelt und so das Gebiet germanisiert. Den Teil der Bevölkerung, den man nicht haben wollte, hat man in das strukturschwache Zentralpolen deportiert. Gleichzeitig haben die Sowjets die Polen aus Ostpolen in das Innere der Sowjetunion verschleppt, zum Beispiel nach Kasachstan.

Mit welchem Ziel hat man Menschen deportiert?

Die Deutschen wollten vor allem Raum schaffen, um Auslandsdeutsche aus anderen Gebieten wie dem Baltikum oder Rumänien anzusiedeln. Gleichzeitig wollten sie bestimmte Bevölkerungsgruppen wie die Juden aus dem Land haben. Die Sowjets hingegen arbeiteten klassenorientiert. So haben sie bestimmte Schichten deportiert.

Wie sind die beiden Großmächte vorgegangen?

Die Deutschen haben kontinuierlich Menschen verschleppt. Auf Seiten der Stalinisten gab es vier Großdeportationen. Insgesamt handelt es sich um jeweils 400.000 bis 500.000 Menschen, die meist nachts aus ihren Wohnungen geholt und in Güterwagen anderswohin gebracht wurden. Bei den Deutschen wurde das oft einen Tag vorher angekündigt, bei den Sowjets hingegen eher nicht. Viele verhungerten oder erfroren während dieser Deportationen.

Welchen Schaden nahm die polnische Bevölkerung dabei – abseits von den dramatischen menschlichen Schicksalen?

Das ist eine Frage, der wir auch in unserem Projekt nachgehen wollen. Die Deportationen haben auf alle Fälle für einen Schock in der polnischen Gesellschaft gesorgt. Die Struktur der Wirtschaft haben die Besatzer aber im Blick behalten, und beispielsweise nicht alle Handwerker oder Kleinhändler deportiert.

Wie ging man mit Widerstand um?

Da waren die sowjetischen Besatzer eindeutig im Vorteil. Der NKWD hat die Widerstandsbewegung in Polen zerschlagen, während die Gestapo meistens im Dunkeln getappt ist.

Auch wenn der Diktaturvergleich problematisch ist: Wie beantwortet man heute in Polen mehrheitlich die Frage, wer schlimmer war?

Wir haben hier zwei unterschiedliche zeitliche Dimensionen: Stalin hat vor dem Krieg stärker sein Unwesen in der Sowjetunion getrieben und mehr Menschen umgebracht. Bei Hitlers Deutschland war es umgekehrt der Fall. Die grausame Dynamik nahm erst zu Kriegsbeginn Fahrt auf. In Polen ist heute die Wahrnehmung mehrheitlich wohl so, dass Stalin der schlimmere Besatzer war.

Wäre es nicht besser, wenn polnische Historiker*innen an einem Projekt wie diesem arbeiten würden?

Ich glaube, dass es für Historiker*innen wichtig ist an Themen zu arbeiten, mit denen man sich nicht zu sehr persönlich identifiziert. Wenn der eigene Großvater in das Geschehen, das man untersucht, involviert war, kann das zwar ein Antrieb sein. Oft ist diese Form der Identifizierung aber problematisch für die geschichtswissenschaftliche Arbeit.