Neues Projekt zu Deutschsprachig-Jüdischer Literatur

Nach wie vor ist die deutsch-jüdische Literatur und Kultur nicht adäquat zu ihren Leistungen in der Wissenschaft wie im kulturellen Gedächtnis präsent, so ein Befund des Germanisten Primus-Heinz Kucher. Er leitet seit November 2019 ein internationales, unter anderem vom Wissenschaftsfonds FWF finanziertes, Projekt, in dem Forschungszugänge in Paradigmen erkundet werden, um zu einer vielschichtigen Darstellung deutschsprachig-jüdischen Literatur- und Kulturschaffens zu gelangen.

„Ähnlich der gläsernen Decke, wie sie im Genderbereich thematisiert wird, verhielt es sich lange Zeit mit Karrieren und Leistungen von Menschen mit jüdischem Hintergrund: Trotz offizieller Gleichberechtigung konnten Jüdinnen und Juden nicht in gleicher Weise wie Nicht-Jüd*innen erfolgreich werden. Für Schriftsteller*innen bedeutet dies: Sie konnten sich, vor allem im literaturwissenschaftlich-literaturgeschichtlichen Diskurs, nicht in gebührender Weise Gehör und Resonanz verschaffen, obwohl sie, paradoxerweise, kontinuierlich Beiträge geleistet haben“, erklärt Primus-Heinz Kucher (Institut für Germanistik). Diese ihre Leistungen standen oft bzw. lange im wissenschaftlichen Abseits. Dies zeigt sich für Kucher auch am Grad der Institutionalisierung an den Universitäten: „Bis heute ist die Forschung zu deutschsprachig-jüdischer Literatur an den Universitäten, insbesondere in Österreich, nur marginal institutionell verankert.“

In dem Projekt „Deutschsprachig-jüdische Literatur. Forschungszugänge in Paradigmen“ will man nun eine grundlegende und systematische Darstellung dieser Leistungen seit der Aufklärung in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet, aufbauend auf einem kulturwissenschaftlichen Textverständnis, auf Ansätze aus der Rezeptionsästhetik, der Übersetzungs-, Transfer-, Raum- und Medientheorie sowie der Wissenschaftsgeschichte erreichen. „Ausgangspunkt ist dabei die These, dass jüdisches Denken und deutschsprachig-jüdische Literatur nicht primär assimilatorisch an künstlerisch-literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum partizipierten, sondern dass sie diese in dialogischer Weise und Impuls gebend maßgeblich mitkonstituiert haben. Ordnungskriterien wie Nation, Identität, Kultur und Religion werden ebenso wie Bemühungen um Einheit, Kanonisierung, um binäre Unterscheidbarkeit in jüdische und nichtjüdische Kultur und Literatur zurückgestellt zugunsten offenerer Zugänge in Paradigmen“, erläutert Kucher weiter.

Am Ende des Projekts soll eine Handbuchreihe vorliegen, die sich der deutsch-jüdischen Literatur unter der Perspektive sechs verschiedener Paradigmen annähert. Dabei soll auch die Begrenzung auf dominante Textsorten aufgebrochen werden, wie Primus-Heinz Kucher erklärt: „Wir wollen uns auch stärker mit Textbeständen in Zeitschriften beschäftigen, die ein wichtiges Medium der Selbstverständigung der jüdischen Kultur waren. Neben dem Kanon (F. Kafka, W. Benjamin, J. Roth u.a.m.) sind daher Texte in Zeitschriften stärker als bislang heranzuziehen. Hier wird es nötig sein, Gewichtungen im Vergleich zu aktuellen Forschungsdiskursen zu relativieren bzw. zu überdenken. Außerdem wollen wir, basierend auf Erfahrungen aus bisherigen Projekten, verstärkt die Bereiche des Theaters, der Medien und der Unterhaltungskultur in unsere Überlegungen mitaufnehmen.“

Den Projektverbund bilden neben dem Standort Klagenfurt die Universität Graz (Centrum für jüd. Kulturgeschichte, G. Lamprecht), die RWTH Aachen (Lehrstuhl für europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, St. Braese) sowie die Universität Basel (Lehrstuhl für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums, A. Bodenheimer). Die Projektidee geht maßgeblich auf Vorarbeiten von Petra Ernst-Kühr (verstorben 2016) zurück.